Wahlen in Brasilien: Militär will direkt in die Stimmenauszählung eingreifen

Mittwoch, 14. September 2022

 https://amerika21.de/2022/09/260032/armee-plant-eigene-zaehlung-um-wahlergeb

  

Armee plant eigene Zählung des Wahlergebnisses, "um Korrektheit zu prüfen". Wahlbehörde widerspricht. Demokratie im Land steht vor Zerreißprobe

Bei der Diskreditierung der Präsidentschaftswahlen setzt Amtsinhaber Bolsonaro auf die Unterstützung der Streitkräfte
Bei der Diskreditierung der Präsidentschaftswahlen setzt Amtsinhaber Bolsonaro auf die Unterstützung der Streitkräfte

Brasília. Die brasilianischen Streitkräfte planen, die kommende Präsidentschaftswahl mit einer eigenen Stichprobenzählung zu begleiten. Sollte das offizielle Ergebnis von ihrer Zählung abweichen, wollen sie die Wahl beanstanden. Damit ermächtigen sie sich, über den Wahlausgang mitzuentscheiden.

Medienberichten zufolge will die Armee während der Präsidentschafts- und Parlamentswahlen am 2. Oktober die Stimmen aus 385 Urnen, verteilt auf das gesamte Land, zählen. Dazu sollen Soldat:innen den verschlüsselten QR-Code, den die elektronischen Wahlurnen bei der Stimmabgabe ausgeben, abfotografieren und dem Kommando der Streitkräfte für Cyberabwehr in Brasília übermitteln. Ziel sei es, die Stimmenprozente mit den Angaben der Wahlbehörde, dem Obersten Wahlgericht (Supremo Tribunal Eleitoral, STE) abzugleichen. Dies solle eine Zuverlässigkeit der Stimmen von 95 Prozent gewährleisten, heißt es aus Militärkreisen.

Die Streitkräfte leisten bei Wahlen gewöhnlich logistische Unterstützung und sind insbesondere in abgelegenen Regionen für die Sicherheit der Wahlbüros verantwortlich. Anders als früher wollen sie nun die Daten bei dieser Wahl selbst und parallel zur Stimmenabgabe aus dem elektronischen Wahlsystem erfassen und nicht auf das Ergebnis durch das STE warten. Laut Armeevertretern habe es dazu Ende August ein Abkommen mit dem Präsidenten der Behörde, Richter Alexandre de Moraes, gegeben.

Dieser Darstellung der Generalität hat das STE nun widersprochen. "Es hat keine Vereinbarung mit den Streitkräften gegeben, die einen besonderen Zugriff auf die Daten für eine Stimmenzählung erlaubt", erklärte das Wahlgericht am Montagmorgen. Ungeachtet dessen stehe es jeder Person frei, der öffentlichen Stimmenauszählung beizuwohnen – "ob an einer, an zehn, an 300 oder an allen Wahlurnen", erteilte die Wahlbehörde den Militärs deutlich eine Absage.

In Anbetracht der Erwartungen fassten die Militärs das kategorische Nein des STE zu einem Zugriff auf die Wahlurnen als Affront auf, berichtet die Zeitung Folha de São Paulo. Führende Vertreter zeigten sich irritiert und versuchten, Richter Moraes in die Pflicht zu nehmen. Man fordere keine "Exklusivität bei der Stimmenerfassung" und verpflichte sich zur ordnungsgemäßen Zusammenarbeit mit der Wahlbehörde, teilte das Verteidigungsministerium mit.

Ferner haben die Militärs angekündigt, an ihrem Plan festzuhalten, auch wenn das Oberste Wahlgericht die Vereinbarung nicht einhalte. Damit steht die Demokratie im Land vor einer Zerreißprobe. Unter dem Druck des amtierenden Präsidenten Jair Bolsonaro haben sich beide Institutionen in eine Lage manövriert, in der es schwierig ist, ohne Gesichtsverlust oder Schaden für die Gewaltenteilung im Staat herauszukommen.

Tatsächlich hatte das STE unter Beteiligung der Militärs im August eine "Kommission zur Wahltransparenz" ins Leben gerufen, um die Vorwürfe Bolsonaros gegenüber der elektronischen Urnenwahl zu entkräften. Er behauptet immer wieder, das Wahlsystem sei anfällig für Betrug und begründet damit seine Drohung, im Fall einer Niederlage das Wahlergebnis nicht anzuerkennen (amerika21 berichtete).

Aus Kommissionskreisen hieß es, dass die Vertreter:innen der Armee einen Katalog von fast 100 Fragen zur Anfälligkeit der elektronischen Urnen vorgelegt und die von Bolsonaro lancierten Gerüchte wiederholt hätten, quasi um ihre Beteiligung an der Stimmenauszählung zu rechtfertigen.

Unterdessen heizt Bolsonaro die angespannte Lage weiter an, indem er die Beteiligung der Streitkräfte an der Stimmenauszählung zur Voraussetzung für eine legitime Wahl gemacht hat. Nur wenn deren Vorschläge angenommen würden, so der Regierungschef, "verringert sich die Möglichkeit eines Wahlbetruges auf annähernd Null – auch wenn das immer noch nicht Null ist".

Beobachter:innen kritisieren seit Langem die Einmischung der Militärs in das politische Geschehen des Landes. "Der aktuelle Verteidigungsminister spricht nicht mehr über Verteidigung, sondern nur noch über das brasilianische Wahlsystem. Das ist eine totale Schieflage", so der Staatsrechtler Octavio Amorim Neto vom renommierten Forschungsinstitut Fundação FHC.

Hochrangige Armeevertreter sehen indes keine Gefahr dafür, dass sich das Militär im Fall einer Wahlniederlage Bolsonaros an einem Putsch beteiligen könnte. Dieser Eindruck werde nur durch Bolsonaro genährt, der versuche, mittels der Vergabe von Kabinettsposten und Einfluss die "Streitkräfte an sich zu binden und zu politisieren", erklärte jüngst Francisco Mamede de Brito Filho, Brigadegeneral der Reserve und früherer Leiter der Schule für Führungskräfte des Oberkommandos der Steitkräfte. Das "Schweigen" der Streitkräfte bei den Vereinnahmungsversuchen Bolsonaros helfe aber nicht, das öffentliche Misstrauen gegenüber dem Militär abzubauen, merkte er an.

Seit 1996 geben die Brasilianer:innen ihre Stimme über elektronische Wahlurnen ab, die die Auszählung in dem großen Land erheblich beschleunigen und Kosten sparen. Seitdem habe man 13 landesweite Kommunal- und Präsidentschaftswahlen ohne einen Hinweis oder Beleg auf Betrug durchgeführt, teilte das Oberste Wahlgericht in einer Stellungnahme mit.

Auch die Vereinten Nationen haben das brasilianische System als besonders sicher eingestuft.

Im Mai kündigte das STE zudem an, mehr als 100 internationale Beobachter:innen zu den Wahlen im Oktober einzuladen, darunter auch Vertreter:innen aus der Europäischen Union (amerika21 berichtete).