Chile und die neue Verfassung: Düsteres Fragezeichen

Donnerstag, 1. September 2022

 

(zas, 1.9.22. Am nächsten Sonntag findet die Abstimmung über eine von einer gewählten Verfassungsgebenden Versammlung mit progressiver Mehrheit ausgearbeitete neue Verfassung statt. Unabhängig vom Stimmenverhältnis besteht nach Analyse des Autors kaum eine Chance für eine Umsetzung zentraler der Verfassungsbestimmungen.)

Felipe Portales

Die Verfassungsgebende Versammlung verabschiedete ein Bündel sehr viel mehr an Demokratie und sozialer Gerechtigkeit orientierter Massnahmen als die Verfassung von 1980, der – vergessen wir das nicht - Lagos und sein Kabinett 2005 zugestimmt haben. Besonders positiv sind die neuen Bestimmungen in Sachen soziale Rechte, Rechte der indigenen Völker, regionale Dezentralisierung und Bewahrung der ökologischen Gleichgewichte. Aber eine Verfassung muss sich, um wirksam zu werden, in entsprechenden Gesetzen niederschlagen. Falls nicht, bleibt sie bloss eine Erklärung guter Absichten.

Und hier hat die Verfassungsgebende Versammlung unglaublicherweise vorübergehende Bestimmungen beschlossen, die die Möglichkeit eines Gesetzeswerks zunichtemachen, das erlauben würde, das von der Diktatur aufgezwungene neoliberale Wirtschaftsmodell zu ersetzen. Sie hat tatsächlich den (für einen Verfassungsprozess) aussergewöhnlichen und beispiellosen Beschluss gefasst, dass das Parlament der sterbenden Verfassung die Ausführungsgesetze der neuen Verfassung erlässt! Vergessen wir nicht, dass in diesem (aktuellen) Parlament die traditionelle Rechte 50 Prozent des Senats ausmacht. Es wird unmöglich sein, falls die neue Verfassung angenommen wird, gegen den Willen dieses Parlaments irgendein Gesetz durchzubringen. Dieses wird nichts akzeptieren, das das «chilenische Modell» substantiell ändern würde.

Das Verblüffendste an der ganzen Sache ist, dass die Konstituante bei Annahme der neuen Verfassung im kommenden Plebiszit nicht nur die volle Legitimität hatte, sofortige neue Parlamentswahlen einzuberufen, sondern auch die gesetzliche Voraussetzung. Denn Artikel 138 des Gesetzes 21.200 von Dezember 2019, Grundlage des Prozesses zur Verfassungsänderung, sagt: «Die neue Verfassung kann gewählte Autoritäten nicht vorzeitig absetzen, ausser jene Institutionen, die abgeschafft werden oder Objekt einer substantiellen Veränderung sind.»

Die Legislative hat unter den permanenten Bestimmungen des Projekts der Neuen Verfassung eindeutig «substantielle Modifizierungen» erfahren. Es steht praktisch fest, dass sich nach einem Abstimmungssieg für die neue Verfassung bei sofort folgenden Wahlen dfiese Mehrheit halten würde, um zu erreichen, dass die neue Verfassung sich tatsächlich in ihr entsprechenden Gesetzen ausdrücken könne.

Noch verblüffender – falls man das so sagen kann – dass dieser beispiellose provisorische Beschluss der Konstituante im Fall eines «Ja» zur neuen Verfassung zulassen wird, dass die nächsten vier Jahre der «Konsensblock» (Rechte + ehemalige [zentristische] Concertación) die neue Verfassung nach Belieben abändern kann. Sie braucht dafür ihre zwei Drittel, die sie sowohl in der Kammer wie im Senat hat. Vergegenwärtigen wir uns, dass es mit dieser Mehrheit keiner ratifizierenden Abstimmung für solche Reformen bedarf. Und dass sich schon ein gemeinsamer Konsens von Republikanern und Sozialisten zugunsten der Beibehaltung des Senats in seiner traditionellen Form gebildet hat.

Noch schlimmer der Wegfall sofortiger Neuwahlen bei einem Erfolg des «Ja» nicht nur ein Parlament mit einer Mehrheit für die legislative Konkretisierung der neuen Verfassung verhindern wird, sondern auch garantiert, dass die Regierung Boric über keine parlamentarische Mehrheit verfügt, um ihr Regierungsprogramm tatsächlich umzusetzen.

Und nicht weniger überraschend als all das ist der Fakt, dass die politischen Parteien – von Regierung und Opposition – und generell die Medien etwas so Überragendes verschwiegen und verheimlicht haben! Das lässt uns das Komplott verstehen. Dieses besteht darin, dass bei einer grossen politischen Konzession beide Seiten - wer «schenkt» und wer «beschenkt» wird – versuchen, sie möglichst vor der Öffentlichkeit zu verstecken. Da es sich definitiv um eine enorme Irreführung handelt, bei der keine der Parteien ein Interesse an ihrer Veröffentlichung hat.

[Der Autor skizziert eine ähnliche Konzession der christdemokratisch-sozialdemokratischen Convergencia im Jahr 1989, die, wie so schrieb Edgardo Boeninger, ihr damaliger Chefideologe, Jahre später in einem Buch, darin bestand, die wirtschaftliche Orientierung der Rechten zu übernehmen, «was das Oppositionslager politisch nicht zugeben konnte».]

Als wäre all das wenig, hat sich auch die Regierung Boric Mit der aussergewöhnlichen Verlängerung des aktuellen Parlaments und damit der Verhinderung einer parlamentarischen Mehrheit für die Umsetzung ihres Regierungsprogramms abgefunden.

·       rebelion.org,29.8.22: Convención frustró la nueva constitución. Der Autor ist Soziologe und lehrt zeitgenössische chilenische Geschichte an der Universidad de Chile. Von 1994-96 war er Menschenrechtsberater des Aussenministeriums einer Regierung der Concertación.