"Es gibt genügend Anhaltspunkte, um El Salvador wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit strafrechtlich zu verfolgen".

Mittwoch, 5. Juli 2023

Zaira Navas
 

(zas, 5. 7. 23) Eine leicht gekürzte Übersetzung des Interviews mit Zaira Navas vom 4. Juni 2023 im salvadorianischen Portal El Faro. Zaira Nava hatte früher in der PDDH (Ombudsstelle für Menschenrechte) und in der ersten FMLN-Regierung als Generalinspektorin der Polizei PNC gearbeitet. Ihrem Mut und ihrer Genauigkeit war zu verdanken, dass eine Reihe führender Polizeioffiziere mit schweren Menschenrechtsverbrechen im CV entlassen wurden oder – dank einer US-geleiteten Justiz – danach nur noch auf Abstellgeleisen operieren konnten. Später leitete sie engagiert die Kinderschutzbehörde und arbeitet heute in der Menschenrechtsorganisation Cristosal als Verantwortliche für den Bereich Rechtsstaatlichkeit. Hier leitet sie eine Untersuchung zum Folterregime in den Gefängnissen. Der letzte Bericht zum ersten Jahr des anhaltenden Ausnahmezustands[1] in El Salvador (Un año bajo régimen de excepción: una medida permanente de represión y de violaciones a los derechos humanos) ist erschütternd.

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Julia Gavarrete

(JG) Dies ist der bisher überzeugendste veröffentlichte Bericht über Todesfälle und Folter des Regimes. Wie kam er zustande?

(ZN) Alle [unsere] früheren Berichte enthalten schon Zeugenaussagen. Diejenigen, die wir jetzt aufgenommen haben, sind neu. Wir haben Hunderte, wenn nicht Tausende von Interviews. Zu zwei spezifischen Themen, nämlich den gewaltsamen Todesfällen und den Haftbedingungen, gibt es eine spezielle Untersuchung, die seit Oktober läuft und noch nicht abgeschlossen ist. Es handelt sich im Wesentlichen um eine dokumentarische Untersuchung. Erstens müssen wir bestätigen, dass die Person existiert hat; zweitens, wenn sie inhaftiert war, wie sie inhaftiert war; drittens, ob sie tatsächlich gestorben ist. Es handelt sich um eine Felduntersuchung, die es uns ermöglicht hat, zu überprüfen, ob die Person am Leben war, ob sie existiert hat. Deshalb ist diese Untersuchung noch nicht abgeschlossen. Wir haben die entsprechende Überprüfung nicht durchgeführt, weil der Bericht aus dem ersten Jahr stammt; wir hielten es jedoch für sinnvoll, ihn aufzunehmen. Bis zu diesem Zeitpunkt haben wir 160 Todesfälle. Wir behandeln die Zahlen wie folgt: 139 vollständig verifiziert. Worüber wir keine Daten haben, ist, wenn die Leute nichts über die Leiche wussten (…). Es gibt Menschen, deren Armut so gross ist, dass sie die Leiche nicht einmal beerdigen konnten.

Diese Leute wussten nichts von der Leiche?

Wir haben den starken Verdacht oder Informationen, dass es viele Menschen gibt, die in Massengräbern liegen und die Familien nichts davon erfahren haben, weil sie nur ein einziges Mal zum Gefängnis gegangen sind oder gar nie, um nach ihren Angehörigen zu fragen. Es gibt Menschen, die vermuten, dass ihre Angehörigen in Massengräbern liegen, aber sie haben nicht die Mittel, um nach ihnen zu suchen.

Kennen Sie Menschen, die in diesen Gräbern begraben wurden, ohne dass ihre Familie davon wusste?

Ja, in einem Fall erfuhr die Familie erst zwei Monate nach der Beerdigung, dass (ihre Angehörige) tot war. Sie gab ihr Unterstützungspaket noch zwei oder mehr Monate beim Gefängnis ab. Sie haben sie wegen einer Namensverwechslung in einem Massengrab beerdigt. Ausserdem haben sie eine lausige Orthografie. Meistens erfahren (die Familien) von Bestattungsinstituten vom Tod ihrer Angehörigen, die Institute streiten sich um die Leichen. Wenn wir die Ermittlungen abgeschlossen haben, werden wir dieses gesamte Vorgehen der Beerdigungsinstitute enthüllen.

In Ihrem Bericht sprechen Sie von Feldforschung. Haben Sie diese Massengräber besucht, befinden sie sich auf Friedhöfen oder ausserhalb von Friedhöfen?

Sie wurden auf Friedhöfen gesehen, aber die Leute sagen, dass es noch andere Orte gibt, aber das konnten wir nicht bestätigen.

Ich nehme an, dass einer der Friedhöfe, von denen Sie sprechen, La Bermeja[2] ist.

Dort gibt Massengräber, in denen sie unbekannte Menschen begraben. Der Punkt ist, dass es keine Massengräber für Menschen geben sollte, die ihrer Freiheit beraubt wurden, denn der Staat kennt ihre Namen, weiss, wo sie inhaftiert waren, weiss, wo sie gestorben sind.

Wie haben Sie die Bedingungen in den Gefängnissen ermittelt?

Wir haben mehr als 100 Personen befragt, die unter Auflagen freikamen. Aber wir haben auch das Privileg, dass wir hier Leute haben, die seit vielen Jahren mit der Kontrolle von Gefängnissen zu tun haben, so dass wir das Gefängnissystem sehr gut kennen. So sehen wir, wie es funktioniert. Der Bericht ist sehr rigoros, er enthält keine Informationen, die ermöglichen würden, die Überlebenden zu identifizieren, da sie verhaftet oder hingerichtet werden könnten. Dank der rigoroson Befragung kann ich Ihnen jetzt auch beschreiben kann, wo sich die Regimegefangenen befinden, wie der Bereich aussieht, in der sich die mutmasslichen Bandenmitglieder in Mariona[3] aufhalten, usw. In Gefängnissen wie Apanteos, Mariona und Izalco war der Empfang (der Häftlinge) identisch. Nach dem Antransport mussten 20, 30, 50 Leute  während einer halben Stunde auf Kies niederknien in Hockstellung laufen. Dabei bekommt Prügel, wer zurückfiel, weil krank war oder schon einmal verprügelt, nochmals eine Tracht Prügel. Wer den Kopf hebt, wird geschlagen. Das ist das Willkommensprotokoll. Die Bedingungen danach sind von Gefängnis zu Gefängnis unterschiedlich.

Findet diese Begrüssung in allen Gefängnissen statt? 

Sie ist für Izalco und Mariona gut beschrieben. In Apanteos hängt es davon ab, wer ankommt. Wir haben zum Beispiel den Fall eines jungen Mannes, der schon früher Konflikte mit der Polizei hatte. Er wurde zweimal gefoltert und mit einem Schlaganfall ins Krankenhaus eingeliefert. Dieser Fall ist auf einen früheren Konflikt mit Polizisten zurückzuführen. Er wurde empfohlen. Ein weiteres Problem ist die Behandlung von Transfrauen in Apanteos. Sie werden mit enormen Strafen belegt. Wenn lesbische Frauen gesehen werden, wie sie Händchen halten oder sich aneinander anlehnen, gibt es auf jeden Fall Prügel. Es gibt eine geschlechtsspezifische Diskriminierung. Wir haben Zeugenaussagen von Frauen erhalten, die nicht unter dem Regime verhaftet wurden, sondern nach Verbüssung einer Strafe freigelassen wurden. Diese Frauen, mehrere von ihnen, sind zu uns gekommen, um auszusagen, wie es den Frauen des Regimes geht. Diese Politik hat diesen Leuten wirklich die Tür geöffnet, um zu schlagen, zu töten und zu foltern. Die Wachen spielen mit dem Töten und Schlagen, und zwar auf eine willkürliche Art und Weise, als wären wir in einem römischen Zirkus. Sie bespritzen sie mit Seifenwasser und zwingen sie zu laufen, wenn sie fallen, schlagen sie sie. Auf diese Weise ist ein älterer Mann gestorben. Diese Muster sind etwas, das sich institutionalisiert hat. Im Gegensatz dazu ist zumindest in den erhaltenen Zeugenaussagen die Solidarität der grossen Mehrheit der Menschen, die ihrer Freiheit beraubt sind, zu spüren. Ein weiterer Punkt, den ich für bemerkenswert halte, ist die Tatsache, dass es sich bei den meisten, die die Freigelassenen gesehen haben, nicht um Bandenmitglieder handelt. Und wir haben keine Anführer dieser Strukturen in diesen Gefängnissen ausgemacht.

Wenn die meisten Menschen keine Bandenmitglieder sind, warum lassen sie dann nur einige wenige frei?

In einigen Fällen geht es um spezifische Eigenschaften der Person. Zum Beispiel gibt es mehrere Lehrer oder Angestellte, die freigelassen wurden. Für den Richter ist es offensichtlich, dass es sich nicht um eine Person handelt, die (mit Banden) in Verbindung steht, aber es hat viel mit der Verteidigung zu tun. Es gibt Verteidiger, die das Unmögliche versuchen und trotzdem keine Entlassung mit Vorgaben erreichen. Es hat mehr mit individuellen Faktoren zu tun: Festen Arbeitsplatz? Verheiratet? Hausbesitzer?  Verschuldet? Geregelter Lebenswandel? Auch im Fall, wo nicht eine bestimmte Tat angeklagt wird: Als Anführer einer Struktur identifiziert zu werden, ist nicht dasselbe wie ein Kollaborateur zu sein. Ich werde Ihnen etwas sagen, und zwar mit der Erlaubnis von Human Rights Watch: Mehr als 80 % werden als Kollaborateure verfolgt. Von den 55’000 Regimegefangenen, die es zum Zeitpunkt des letzten Berichts gab, werden nur 90 wegen Mordes verfolgt. Wir sprechen davon, dass es sich bei den meisten Leute, wenn es sich um Bandenmitglieder handelt, um solche der an der Basis handelt, nicht aus den Leitungsstrukturen. Von den uns bekannten Fällen, von den 100 % der Anträge auf Freilassung unter Auflagen, wurde nicht einmal 1 % bewilligt, und die Behörden reden von 5’000 Personen Freigelassenen, aber alle Organisationen, die sich mit diesem Thema beschäftigen, glauben wirklich nicht an diese Zahlen. Wir haben keine reale Schätzung, wie viele freigelassen wurden. Wir haben erfahren, dass die Staatsanwaltschaft in einigen Fällen keine Einwände erhebt. Und dass in einigen Fällen die Staatsanwaltschaft auch diejenige ist, die (alternative Massnahmen) beantragt. Aber wir kennen die Kriterien dafür nicht. In einigen Fällen hat der öffentliche Druck gewirkt, zum Beispiel in den Fällen auf der Insel Espiritu Santo[4].

In welchem psychischen Zustand befanden sich die von Ihnen befragten Personen?

Es gibt sehr schwerwiegende Nachwirkungen. Zunächst einmal ist festzustellen, dass 95 % der befragten Personen erheblich an Gewicht verloren und fast alle Hautkrankheiten entwickelt hatten. Und bei Menschen mit einer chronischen Erkrankung hat sich ihr Gesundheitszustand verschlimmert. Vielleicht waren die ersten Personen, die ich getroffen habe, Frauen, ich spreche von denen, die im August herauskamen. Das erste, was wir bei einigen von ihnen sahen, war, dass sie ihren Realitätssinn verloren hatten, das heisst, sie hatten eine vorübergehende psychische Erkrankung. Die Situation, mit denen sie im Frauengefängnis konfrontiert waren, war äusserst kritisch. Sie hat Krankheiten bewirkt, von Schlafstörungen bis hin zu Depressionen und Angstzuständen. Interessant ist, dass ein grosser Teil der von uns befragten Personen, die freigelassen wurden, ihre Arbeit wiedergefunden haben. Die Solidarität ist gross, denn es handelt sich um arme Menschen, die in Schreinereien, mechanischen Werkstätten, im Verkauf, in Restaurants, Kantinen, sogar in Beerdigungsinstituten und der Reinigung von Friedhöfen arbeiten. Ihre Arbeitgeber haben ihnen ein Schreiben ausgehändigt, in dem steht, dass sie gearbeitet haben und dass sie wieder eingestellt werden.

Zu Beginn reichten viele Menschen Belege für einen geordneten Lebenswandel ihrer Angehörigen ein, die nie berücksichtigt wurden.

Zu Beginn wurde allen die alternative Massnahme zur Inhaftierung verweigert. Seit September gibt es jedoch eine Änderung, und die Belege werden akzeptiert, aber wer einen offiziellen Arbeitsplatz hat, darf gehen. Damit bleiben Selbstständige, die keine Mehrwertsteuer und kein Einkommen angeben, ungeschützt: Strassenverkäufer, informelle Arbeiter, Kleinbauern. Gravierende Fälle.

Die Kriminalisierung der Armut ist wiederholt angeprangert worden.

Deshalb haben wir bei den Todesfällen deutlich gemacht, um wen es sich handelt. Ich komme auf dieses Thema zurück: Bei den Todesfällen haben die Menschen immer noch Angst. Sie haben Angst, dass sie getötet oder verhaftet werden, wenn sie die Vorfälle anprangern. Der Bericht reicht nicht aus, um das Leben in den einzelnen Gefängnissen zu beschreiben, denn in jedem Gefängnis herrschen besondere Bedingungen: In Quezaltepeque gibt es seit der Frauenkrise vor den Mauern ein so genanntes Gesundheitszentrum, aber dort leben bereits Verurteilte mit HIV, Regimegefangene, Zivilisten sind, wie sie genannt werden, ehemalige Bandenmitglieder und aktive Bandenmitglieder, und sie alle sind miteinander vermischt. Das führt zu einer Situation, in der es keinen Schutz gibt.

In Bezug auf diese Todesfälle konnten Sie in dem Bericht dokumentieren, dass einige der Todesanzeigen das eine besagen und die Leichen etwas anderes, was sagt Ihnen dieser Widerspruch der IML (Gerichtmedizinisches Institut)?

In vielen Fällen bedeutet eine gerichtsmedizinische Untersuchung, dass es auch eine Tatortuntersuchung geben muss, d.h. Polizeibeamte, die einen Tatort untersuchen und den Fall an die Staatsanwaltschaft weitergeben. Wenn der Gerichtsmediziner, der die Untersuchung durchführt, eine Autopsie anordnet, dann deshalb, weil er Anzeichen von Gewalt sieht; sonst müsste er keine Autopsie anordnen. Aber wir haben alle Todesbescheinigungen des IML überprüft: In allen Fällen empfiehlt der Gerichtsmediziner eine Autopsie. Wenn eine Person in einem Krankenhaus eines vermeintlich natürlichen Todes stirbt, sollte es keine Autopsie geben, sondern nur die Todesursache. Wenn es jedoch eine IML-Bescheinigung gibt, dann deshalb, weil das Krankenhaus feststellt, dass diese Krankheit durch eine Gewalttat verursacht wurde. Bei Menschen, die in der Ambulanz gestorben sind, wird Leichenuntersuchung durchgeführt. Wenn der Gerichtsmediziner feststellt, dass die tote Person geschlagen worden war und sagt, sie sei an einem Lungenödem gestorben, trägt er eine gewisse strafrechtliche Verantwortung, die von der Staatsanwaltschaft untersucht werden sollte. Wenn die Verletzungen offenkundig sind, der Bericht des Gerichtsmediziners aber nichts aussagt, auch die Autopsie nichts aussagt, dann ist das eine Pflichtverletzung dieser Behörden, und die Staatsanwaltschaft sollte dies zumindest untersuchen.

 

Könnte man diese Pflichtverletzung als Mittäterschaft bezeichnen?

Nein, denn es handelt sich um eine andere Rolle.

Ich versuche, das Ausmass der Rechtswidrigkeit zu beurteilen, die das IML begehen würde.

Die Staatsanwaltschaft müsste eine echte Untersuchung einleiten, um das festzustellen, denn wenn der Gerichtsmediziner, der die Leiche untersucht, eine Autopsie anordnet, dann deshalb, weil seine Meinung nicht ausreicht, um die Todesursache zu bestimmen. Wir können die direkte Verantwortung nicht feststellen, weil er sie jemand anderem zuschiebt. Das Problem ist, dass die Familie nur die Todesbescheinigung erhalten hat; mit anderen Worten, das Recht der Familie, die Todesursache ihres Angehörigen zu erfahren, wird verletzt, und die Staatsanwaltschaft verheimlicht dies absichtlich, denn alle diese Fälle hätten weitergeleitet werden müssen. Ein IML-Protokoll legt fest, wie eine Leiche examiniert wird, wer was tut, wie die einzelnen Vorgänge zu dokumentieren sind und wie sie weitergeleitet werden. Alle diese Fälle müssen bei der Staatsanwaltschaft liegen.

Haben die Angehörigen Zugang zu den Akten?

Ja, sie haben Zugang zu den IML-Bescheinigungen, aber keinen zu den Krankenakten, zu den Autopsien, zu den meisten Unterlagen. Manchmal wurde ihnen einfach mündlich mitgeteilt, woran (ihr Angehöriger) gestorben ist.

Haben wir es mit staatlichen Verbrechen zu tun?

Natürlich haben wir das! Es ist eine Regierungspolitik. Wenn die Wärter schlagen, dann deshalb, weil sie diesen Befehl erhalten haben, und dafür sind der schlagende Wärter, der Chef, der Sicherheitsdirektor des Zentrums, der Direktor des Zentrums, der stellvertretende Direktor der Gefängnisse, der Direktor unserer Gefängnisse, der Minister und der Präsident verantwortlich. Und haben wir nicht gesehen, wie der Präsident der Republik selbst sagt: "Wir werden sie ohne Essen lassen"? Im Bericht wird sogar beschrieben, dass der Präsident einmal in ein Gefängnis kam und am Vortag wurde den Gefangenen gesagt: "Wer den Kopf hebt, wird sterben." Es handelt sich um eine systematische Politik der allgemeinen Folter, um alle inhaftierten Personen zu bestrafen, ohne Rücksicht darauf, ob sie schuldig sind oder nicht. Sie wollen ein Gesicht der Rache und des Hasses gegen Banden zeigen, aber die Festgenommenen sind meist keine Bandenmitglieder.

Der Bericht wird zu einer wertvollen Information für internationale Organisationen, um zu intervenieren. Glauben Sie, dass mit all dem, was dokumentiert worden ist, diese Tür geöffnet werden kann?

Wir haben die Interamerikanische Kommission eingeschaltet, weil die Habeas-Corpus-Klage unwirksam ist, und wir hoffen, dass die Menschen in Zukunft, wenn sie den Wunsch haben, dass wir sie begleiten, eine Beschwerde zum Tod ihrer Angehörigen einreichen und die Fälle einzeln an die Kommission und an den Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte weiterleiten. Die öffentliche Anzeige, die Dokumentation der Fälle, wird für den Ankläger am Internationalen Strafgerichtshof sehr wichtig sein, um zu bestimmen, dass in diesem Land ermittelt werden soll. Die Fälle vor dem Internationalen Strafgerichtshof sind keine Einzelfälle, sie werden vom Ankläger des Gerichtshofs vorgelegt, aber es gibt bereits genügend Anhaltspunkte dafür, dass dieses Land wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit verfolgt werden kann.

Was sind das für Verbrechen, die der salvadorianische Staat begeht?

Es gibt Verantwortlichkeiten bei den Todesfällen. Der Staat hat die Pflicht, das Leben und die Unversehrtheit jeder inhaftierten Person zu schützen. In diesem Fall handelt es sich um eine Politik. Es gibt willkürliche Handlungen und es gibt wahrscheinlich eine Verantwortung für die Todesfälle. Wir sprechen hier von Begehung durch Unterlassung und einer Reihe anderer Straftaten, die natürlich von der Staatsanwaltschaft und den Richtern festgestellt werden müssten... wenn es sie gibt. Im Moment gibt es nicht einmal die Möglichkeit, die Verantwortlichen für die Todesfälle strafrechtlich zu verfolgen, denn wir haben Staatsanwälte und Richter, die von der derzeitigen Regierung ernannt werden. Nur die internationale Gemeinschaft und die internationalen Schutzorganisationen haben die Möglichkeit, sich zu äussern.

Es gibt Beamte wie den Minister für Sicherheit und Justiz, der gesagt hat, dass es "in allen Gefängnissen Todesfälle gibt". Ist die Zahl der Todesfälle in den Gefängnissen normal?

Nein, nein. Überhaupt nicht. Ganz und gar nicht. Es gibt einen erheblichen Unterschied zwischen diesen Todesfällen und den Todesfällen in der Vergangenheit, und ich beziehe mich auf die Zeit, als es grössere (Gefängnis-)Unruhen gab. Es gibt mehrere Ereignisse, aber es gibt zwei sehr grosse Ereignisse, die das Gefängnisleben geprägt haben. Anfang der 90er Jahre das Massaker in Gotera, bei dem Köpfe rollten und das Gefängnis in Brand gesteckt wurde. Das Gleiche geschah in den 2000er Jahren in Apanteos. Ich habe neun Jahre lang in der PDDH (Ombudsstelle für Menschenrechte) als Ermittlungsleiterin gearbeitet und war mehrere Male bei Kämpfen und Verhandlungen dabei, etwa der Viejo Lin (Anführer der Bande der 18 Sureños) in Chalatenango einige Priester entführte und sie schlug, weil er betrunken war. Es ist ein grosser Unterschied, wenn der Tod von Häftlingen verursacht wird. Jetzt sprechen wir von systematischem Tod, von sich gleichenden Mustern, ausgeübt in der derselben Art und Weise und gegen dieselben Personen. In diesem Fall sind nach den uns vorliegenden Zeugenaussagen grösstenteils die Wärter und andere Auftragsmörder verantwortlich.

Auftragskiller?

Es gibt Zeugenaussagen, aber nur wenige, sehr wenige, dass es Häftlinge gibt, die summarische (aussergerichtliche) Hinrichtungen durchführen, die mit Absicht töten.

Haben sie etwas mit der Rolle der Banden im Gefängnis zu tun?

Ich werde Ihnen sagen, was wir aus den Zeugenaussagen erfahren haben. Die Banden haben gelernt, im Inneren zu überleben, und sie überleben im Übrigen recht gut. In Mariona zum Beispiel trennen sie sich selber voneinander, und in den Zeugenaussagen heisst es: In dieser Zelle, in der 70 Personen Platz hatten und wo jetzt 200 sind, sind 15 von der MS und 9 von der Gang 18. Den Rest stellen meistens Zivile, und die Bandenmitglieder bleiben bei ihrer Rolle, wie immer, "woher kommst du", aber die Mehrheit sind Zivile. Sie haben ein nicht-aggressives Verhältnis.

Kann man sagen, dass die Banden drinnen die gleiche Kontrolle ausüben wie draussen?

Nein, das kann man nicht sagen... Es gibt Streitereien, über Seife, über den Gang zur Toilette und solche Dinge. Aber es gibt keine interne Aggression.

Nicht einmal mit Zivilen?

Nein, sie lassen sich nicht mit Zivilen ein. Es geht nur darum, dass sie überleben. Das ist ein anderes soziologisches Phänomen. Dort gibt es kein Wasser. Die ersten, die Wasser trinken, sind natürlich die Schläger, die wahrscheinlich Mitglieder von Banden sind.

Deshalb habe ich gefragt, ob es irgendwelche Vorteile gibt, z. B. bei der Lieferung von Lebensmittelpaketen.

Die Kits werden nicht an sie verteilt. Die Mehrheit, 99 % der Befragten, sagte uns, dass sie nie Medikamente erhalten haben, mit Ausnahme einiger Menschen mit unheilbaren Krankheiten, die später nach Quezaltepeque verlegt wurden. Dort erhalten sie zwar Medikamente, aber die Lebensmittelpakete enthalten nur Getreide, manchmal ein wenig Milch, manchmal ein wenig Maismehl, aber ihre Familie hat ihnen Kleidung und Matratzen geschickt, die sie nicht erhalten haben.

Wie kann es sein, dass die Polizei nichts von all diesen Vorgängen weiss?

Sie ist Teil des Ganzen. Kommen wir nun zu dem Thema, das dies verdeutlicht, und das sind die Wiederverhaftungen oder illegalen Festnahmen. Die Leute freuen sich, dass sie rauskommen, aber wenn sie das ganze Verfahren durchlaufen haben, und am Gefängnistor lachen die Wachen und geben die Papiere an die Polizei weiter, und sie werden wieder verhaftet. Manchmal nehmen sie sie im Fall von Mariona auf einen Polizeiposten in Mejicanos mit und beschuldigen sie neu der terroristischen Gruppe, das ist ein doppeltes Verfahren mit illegaler Inhaftierung.  Diese Person kehrt dann manchmal ins alte Gefängnis zurück oder kommt in ein anderes mit jetzt zwei Straftaten, aber ihre Familie wartet immer noch, weil sie glaubt, dass sie rauskommen wird. 

Die einzigen Augen in den Gefängnissen sind die der Regierung? Gibt es keine Möglichkeit, eine andere Version als die offizielle zu erhalten?

Es ist schwierig, es sei denn, man weiss vom Opfer selbst, was dort geschieht. Was wir dokumentiert haben, ist, dass es Kirchen gibt, die reinkommen. Ich weiss nicht, wie es mit zivilgesellschaftlichen Organisationen aussieht. Aber es gibt Kirchen, die reinkommen, zum Beispiel Tobys Kirche[5].

Welcher Fall beschreibt am besten das Ausmass der systematischen Brutalität? Welcher Fall kommt Ihnen als erstes in den Sinn?

Edwin, ein 24-jähriger Junge, der Blut spuckt. Er beschrieb im Krankenhaus, als er noch lebte, dass er acht Monate lang sass, in Mariona, in einem Bereich mit Bandenmitgliedern. Seine Familie konnte mit ihm Kontakt aufnehmen, er hat erzählt, was er durchgemacht hat. Seine Familie hatte wirklich nichts damit zu tun (Gangs). Der Junge sagt, er habe mehrere Schläge in den Bauch bekommen. Er zog es vor, nicht essen zu gehen, um nicht verprügelt zu werden. Deswegen bekam er eine schwere Gastritis und trank kein Wasser. Die Niere erkrankte. Als sie ihn ins Krankenhaus brachten, hat er etwas Schwarzes erbrochen, sagt die Familie. Als wir die Fälle mit dem behandelnden Arzt besprechen, gibt er eine Erklärung ab, die auch in der medizinischen Zusammenfassung auftaucht: "Er erbricht Blut. Das sind Spuren von geronnenem Blut. Er hat bereits eine Magenruptur. Er wird sterben.» Edwin hat alles erzählt, was er erlebt hat. Er ist derjenige, der sagt: "Ich kann nicht aufhören, alles zu erzählen, bis ich sterbe". Die Gerichtsmedizin nennt als Todesursache eine chronische Nierenerkrankung im Endstadium ist. Die Untersuchungen, die an ihm im Krankenhaus durchgeführt wurden, ergaben, dass sein Magen zerstört war; dies als Folge der Schläge war, von denen er berichtet hat. Ausserdem befand er sich in einem leichenähnlichen Zustand. In diesem Fall handelt es sich um eine systematische Folter: Er bekam keine Nahrung, durfte nicht an die Sonne gehen, kein Wasser trinken, ständig geschlagen, mit einer so verursachten schweren Krankheit ohne medizinische Versorgung.

Was man hört, ist schrecklich. Aber trotz der Tatsache, dass dies so vielen Menschen widerfährt, ist es eine Politik, die in der Öffentlichkeit grosse Zustimmung findet. Wie kann man das verstehen?

Weil das Volk, diese Bevölkerung, sehr für die «harte Hand» und traditionell ist. Und es ist eine Bevölkerung, die unter den Banden viel gelitten hat und der die Regierung verkauft, dass sie die Banden tötet. Aber denken Sie daran, der Bericht enthält einen wichtigen Abschnitt über Strafpopulismus, und er spricht darüber, wie die Idee verkauft wurde, dass genau dies Leiden bestraft werden muss, aber die Bevölkerung hat auch gelitten, und die Bevölkerung glaubt, dass wir jetzt sicher sind.

 

"Lebend habt ihr siegenommen - lebend wollen wir sie zurück". Eine Demo der Organisation von Angehörigen von Regimegefangenen.



[1] Im Sprachgebrauch zu régimen, Regime, abgekürzt.

[2] Grösster Friedhof in der Hauptstadt.

[3] Bis zur Erstellung eines neuen Folterknastes vor einigen Monaten das landesweit grösste Gefängnis.

[4] Insel mit Agrar- und Fischwirtschaft vor der Mündung des Lempa-Flusses, die nie Probleme mit Maras hatte, aber auf der letztes Jahr über 20 angebliche Bandenmitglieder verhaftet wurden.

[5] Ultrareaktionäre Sekte.