(zas, 14. 7. 23) Anfang nächsten Februar finden Präsidentschafts- und Parlamentswahlen, gefolgt einen Monat später von Gemeindewahlen statt. Bis Mitte letzten März verbot das Wahlgesetz Änderungen am Wahlsystem 12 Monate vor Wahlen; um einen halbwegs funktionierenden Wahlprozess zu ermöglichen. Einem Wink von Superman in der Casa Presidencial folgend, schaffte seine Parlamentsmehrheit letzten März den Artikel ab. Ziel: ein «blendender» Wahlsieg des Clans um Präsident Nayib Bukele, der sich des Vehikels der Partei Nuevas Ideas (NI) bedient.
Konterreformen
Zum 4. Jahrestag seiner Präsidentschaft kündigte Bukele am 1. Juni «ein neues Land» an, in dem die Zahl der Parlamentssitze von 84 auf 60, diejenige der Gemeinden von 262 auf 44 reduziert würden. Seine begeisterte Parlamentsmehrheit setzte die neue Abgeordnetenzahl nach sieben, jene der Gemeinden nach 14 Tagen in Kraft. Ohne Studien oder Anhörungen.
Das Parlament hat einen schlechten Ruf. Nicht einfach nur aus berechtigten Gründen. Das widerspiegelt eine Elitenkampagne seit den Jahren des linken Vormarsches gegen eine «unnötige, aber geldfressende Schwatzbude». Die Sitzreduktion verfolgt real das Ziel, auf alle Fälle eine massive bukelistische Mehrheit im Parlament zu sichern. Die drohte nach Umfragen (dazu unten) zwar ohnehin, aber mit dem Makel eines Rückgangs im Vergleich zum Durchmarsch 2021. Das hätte den dauerpropagierten Nimbus der Unbesiegbarkeit des Regimes im Kontext zunehmender sozioökonomischer Probleme und der Festigung einer Strassenopposition gefährlich anfressen können. Also sattelte Bukele jetzt auf ein neues Auszählverfahren um, das stimmstarke Parteien privilegierende d’Hondtsche-System[1], das auch in Europa zwecks «Regierbarkeit» gerne verwendet wird. Verschiedene Berechnungen zeigen, dass Bukele bei hypothetisch gleichem Wahlverhalten wie 2021 mit dem alten, Minderheiten etwas schützenden Auszählungssystem 41, mit dem neuen 50 der 60 Parlamentssitze ergattern würde.
Die Zusammenlegung vieler historischer Gemeinden in neue Verwaltungseinheiten folgt offiziell der Logik, dass wirtschaftlich stärkere Gemeinden ärmere aufsaugen. Real geht es mehr darum, dass die Opposition, die bisher ein Viertel der Gemeinden regierte, möglichst aus dem offiziellen Gemeindebild zu tilgen. Ernesto Castro, einer der führenden Mafiosi des Regimes und aktuell Parlamentspräsident, meinte Anfang Juli, NI könne sämtliche Parlamentssitze und Gemeinderegierungen gewinnen. Das gerrymandering, die Grenzziehung der neuen Gemeinden, basiert offiziell angeblich auf einer Extrapolation des Bevölkerungszensus … von 2007!
In den bisherigen Gemeinden setzt neu die Zentralregierung VerwalterInnen ein, die den BürgermeisterInnen der neuen Gemeinden zur Seite stehen sollen! Tatsächlich zeigte der Bukelismus auf Gemeindebene, also nahe bei den Leuten, klar Schwäche. Er strich den Grossteil der gesetzlich festgelegten Finanzen aus dem Nationalbudget für die Gemeinden. Nicht nur infrastrukturelle und Entwicklungsprojekte der Gemeinden sind betroffen, sondern auch wichtige munizipale Hilfeleistungen an Bedürftige. Gemeindeautonomie ade. Erst recht eine wie in San Esteban Caterina im Department San Vicente. Hier hatten Basiskräfte des FMLN die Wahlen gewonnen. Als 2021 das Geld für die Müllabfuhr ausblieb, legten die Bürgermeisterin und der Gemeinderat im Rahmen einer lokalen Selbstorganisation selbst Hand an beim Müllentsorgen.
Chaos, Intransparenz und Schweinchen Schlau
Die Aufhebung der zeitlichen Sperre für das Verbot von Wahlgesetzänderungen führte wie vorausgesehen zu Chaos. Das wird von einer weiteren Innovation des Präsidenten zusätzlich verschärft: die Stimmabgabe in der Diaspora per Internet. Hier dürfen SalvadorianerInnen Auslandsadresse im Personalausweis (DUI) online wählen. InhaberInnen von eines DUI mit salvadorianischer Wohnadresse - 170'000 laut dem EinwohnerInnenregister RNPN – wählen altmodisch, in Konsulaten. Zur Wahlbeteiligung in der Diaspora sind auch wieder längst abgelaufenen DUIs oder gleich nur mit billig erwerbbaren Geburtsurkunden. Eine vom FMLN seinerzeit abgeschaffte Betrugsmasche der Rechten, von Bukele wiederbelebt. Offiziell sind im RNPN 840'000 Wahlberechtigte in der Diaspora registriert[2].
Bei der Umsetzung der Auslandswahlen ist das Wahlgericht TSE infolge der Wahlgesetzreformen schwer in Verzug. So hat es erst am 3. Juli massiv verspätet in einem intransparenten Verfahren das spanische Unternehmen Indra mit der Organisation der Wahlen per Internet beauftragt. In den Sternen steht, wann die zwei Firmen für das Audit des Wahlregisters im Ausland respektive das Audit der Auslandsresultate per Internet ernannt werden. Ein Audit des Wahlregisters etwa sollte u. a. eine Verifizierung der Wahlberechtigten beinhalten. Oder dass die paar hunderttausend unter Bukele neu ausgestellten DUIs und Pässe im Ausland von den Konsulaten berechtigten Personen und nicht NI-AktivistInnen mit multiplen Identitäten ausgehändigt wurden. Je kürzer die Frist dafür ist, desto unlösbarer die Aufgabe. Ein anderes Beispiel für «transparentes» Vorgehen: Das deutsche, seit Jahren in El Salvador tätige Unternehmen Mühlbauer hatte mit der salvadorianischen Data-Graphics ein Konsortium für die Beteiligung an der Ausschreibung für die Durchführung der Internetwahlen gebildet. Die Rechtsvertreter des Konsortiums und der Mühlbauer haben sich von der Ausschreibung zurückgezogen, nicht aber jener der von Mühlbauer beigezogenen salvadorianischen Bude. Unbeeindruckt berichtete das TSE, das Konsortium sei am Ausschreibungsverfahren beteiligt gewesen[3].
Die sofortige Wiederwahl eines Präsidenten ist in der Verfassung sechs mal explizit verboten. Bukeles Vize, der Jurist Félix Ulloa, der einst gerne den progressiv-liberalen Intellektuellen gegeben hat, wusste die Lösung: Es gehe nicht um eine Wiederwahl, sondern um ein zweites Mandat.[4] Auch er kandidiert wieder an Bukeles Seite. Neu steht jahrelanges Gefängnis auf dem Versuch, die Einschreibung einer Kandidatur zu behindern – gerichtet gegen den einzigen eines solchen Verbrechens fähigen unabhängigen Magistraten im TSE.
Irres Getue, Umfragen und eine schlechte Antwort auf linke Fragen
Die früheren Regierungsparteien FMLN (links) und ARENA (rechts) sind enorm geschwächt. Gemässigt rechte Oppositionsparteien sind wie die bukelistischen Satellitenparteien weitgehend vernachlässigbar. Angesichts dieser Lage wurde über die Linke hinaus diskutiert, wie die Wahlen anzugehen seien. Hiesse teilnehmen an der Präsidentschaftswahl nicht, Bukeles Verfassungsbruch mitzutragen? Könnte eine Einheitskandidatur die Opposition stärken? Wären Gemeinden und Parlament (Verhinderung einer bukelistischen 2/3-Mehrheit) zentrale Stossrichtungen? Einheit – von links bis rechts, von links bis Mitte oder von rechts bis Mitte? Der in den Strassenmobilisierungen massgebliche sozialpolitische Zusammenschluss Bloque de Resistencia y Rebeldía Popular engagierte sich für eine breite Links/Mitte-Front und forderte die einzig zur Präsidentschaftskandidatur befugten Parteien auf, sich hinter einen ausgehandelten Einheitsvorschlag zu stellen.
Die abschlägige Antwort kam in Form einer chancenlosen Präsidentschaftskandidatur des FMLN. Der folgte ein Festival der Eitelkeiten mit Kandidaturen verschiedener anderer Kleinparteien bis hin zur eh allianzuntauglichen ARENA. Diese wurden jeweils von bekannten Formationen wie der Jesuitenuni UCA oder obskuren Lagern promoviert. Das geht bis zum Organisationszusammenschluss Alianza Nacional, wo einige Leitungsmitglieder einen US-salvadorianischen Kandidaten ins Spiel bringen wollten, und andere die Gattin eines umtriebigen salvadorianischen Unternehmers in den USA (Egoman? CIA asset?) als Vizepräsidentin portierten. Die gleichen Leute, wohlgemerkt, die lange jegliche Wahlbeteiligung als Verrat am herbei illusionierten Volksaufstand verdammten. Eine prominente «zivilgesellschaftliche» Gruppe schlug einen Kandidaten vor, der für ARENA ins Rennen steigt. Etc.
Offenbar produziert der andauernde Psychokrieg Bukeles bei Angegriffenen eine Art absurdes Theater, geistige Verwirrung und schattenhafte Sololäufe. Eine ernsthafte Opposition würde unabhängig von ihrer Stärke anders vorgehen. Besondere Beachtung verdient der FMLN. Seine jetzt bestimmenden Leitungskräfte haben eine Geschichte der Allianz mit Bukele. Sie setzten lange eine Wischiwaschi-Position zum Regime ihres einstigen Protégés durch, haben jetzt aber zur Kritik an der neuen Diktatur gewechselt. Ob das mehr elektoraler Profilierung oder doch auch einer Umorientierung unter dem Druck der Basis entspricht, wird sich zeigen.
Ein progressives Bündnis hätte vielleicht Chancen gehabt, den Bukelismus unter linken Vorzeichen etwas zurückzubinden. Das sabotierte der FMLN. Nun droht das in Umfragen ermittelte Szenario eines Durchmarsches unter dem Banner des Zugpferdes Bukele. Das hängt mit einer Zustimmung zum «Ausnahme»-Regime zusammen, von dem der Armeeminister am 12. Juli sagte, es müsse «solange andauern, bis der letzte Marero aus dem Verkehr gezogen wird»[5].
Umfragen in einem Land, in dem alle, die was gegen das Regime haben, Angst vor Verfolgung haben müssen (für Leute in Armutszonen vor anonymer Denunziation durch Nachbarn bis hin zu Mitgliedern indigener Comunidades, die gegen Landraub protestieren) sind problematisch und widersprüchlich. Nur ein Beispiel für Letzteres: In den Umfragen wird die schwere und zunehmende sozioökonomische Krise immer mehr als Hauptsorge genannt. Zur Illustration: Eine Befragung der Universidad Gavidia vom letzten Juni ergab, dass 70 Prozent der Befragten ihren Fleischkonsum drosseln oder ganz streichen müssen, fast ein Drittel davon muss auch auf Huhn verzichten. Das beinhaltet keinen Automatismus von «je mehr Armut, desto mehr Protest», aber auch keine Beruhigungspille für den herrschenden Clan. Wäre sich der Bukelismus seiner umfragegestützten Sache sicher, warum hat er dann nicht darauf verzichtet, die erwähnte und eventuell noch nicht beendete Serie von «Wahlreformen» zu diktieren? Warum wurde die Junta de Vigilancia Electoral (Wahlüberwachungsinstanz der im Parlament vertretenen Parteien) faktisch aus der Überwachung des EinwohnerInnen- und Wahlregisters rausgeschmissen?
Mit Kraft voran auf die Wand zu
Der offizielle FMLN nimmt solche richtigen Fragen zum Anlass, um in seinen Reihen Optimismus zu erzeugen. Er stellt sich jetzt als die eigentliche Kraft des Widerstands gegen das Regime dar, was definitiv nicht den Tatsachen entspricht. Typisch etwa sein Video von der erfolgreichen 1. Mai-Demo, die von der Sozialbewegung, insbesondere dem Bloque, organisiert war, und der er sich als klare Minderheit angeschlossen hatte. Du siehst ein FMLN-Fahnenmeer, aber nicht den Umstand, dass die Zahl der Fahnen ziemlich jener ihrer TrägerInnen entspricht. In seiner Propaganda ist klar: Der Frente hat die Sache organisiert. Gleichzeitig streut die Parteileitung intern immer noch das bösartige Gerücht, der Bloque bzw. die mit ihm verbandelte dissidente Linksfraktion des FMLN sei von der US-Botschaft finanziert.
Natürlich wäre ein Vorwärtskommen selbst dieses FMLN von Bedeutung. Trotz der realen Parteileitung kämpfen viele seiner Mitglieder mit grossem Mut für ihre Partei der vielen Opfer und Erinnerungen. Vor allem auf Gemeindeebene wie etwa in Mejicanos, einer bevölkerungsreichen Vorstadt von San Salvador, sah die Sache vor den eingangs beschriebenen Konterreformen nicht allzu schlecht aus. Trotz des betriebenen Optimismus wird von solchen Perspektiven nicht mehr viel übrigbleiben. Der Bloque hatte kürzlich erneut zu einer antidiktatorischen Verständigung aufgerufen, statt vereinzelt auf die Wand zuzurasen.
Nicht nur in El Salvador…
Bukele weiss, dass er diese Wahlen absolut gewinnen muss, aus reinem Selbstschutz vor Offenlegung der massiven Verbrechen seines Regimes. Ein erneuter Durchmarsch seines Clans, und dafür sollen die Konterreformen sorgen, würde die nächsten Jahre die Situation nochmals dramatisch verschärfen. Das stete Übergreifen des «Ausnahme»-Regimes auf SozialkämpferInnen würde zusammen mit noch offenerer Verfolgung von politischen Oppositionellen oder affinen Medien eskalieren. Wohin die Reise geht, zeigt auch der Ausschluss der salvadorianischen Autorin Michelle Recinos vor wenigen Tagen von der offiziellen Buchmesse in Guatemala. Sie sollte dort ihre Erzählung Barberos en huelga[6] zum «Ausnahme»-Regime vortragen. Die salvadorianische Botschaft intervenierte dagegen bei der Regierung von Präsident und Bukele-Kumpel Giammattei – Recinos flog raus. Eine neue Verfassung liegt schon in der Schublade. Für die «Bewegung der Polizeiarbeiter», eine Art Gewerkschaft, ist die im Juni organisierte Budgetverschiebung von der Polizei Teil eines Vorhabens, die seit den Friedensabkommen von 1992 zivile Polizei wieder wie unter der Militärdiktatur in die Streitkräfte einzugliedern.[7] Apropos: Die Basis für Angst, Konfusion und Komplizenschaft bei Vielen dürfte schlicht mehr als an den manchmal zu unheimlichen Mächten stilisierten Social Media an der offenen Militarisierung der Unterklassenzonen liegen. Dies temperiert auch die offizielle Demokratieliebe in Washington. In Lateinamerika stimmt der prooligarchische Faschismus wie in Chile oder Kolumbien das Hohelied auf Bukele an.
[1] https://bundeswahlleiterin.de/service/glossar/d/d-hondtsche-sitzverteilung.html
[2] S. «RNPN: 150,000 salvadoreños en el exterior podrán votar con sus duis vencidos” und “Podrán votar 170,000 que viven en el exterior pero que tienen su domicilio en EL Salvador: RNPN”.; beide Artikel in El Mundo, 3. 7. 23.
[3] S. La Prensa Gráfica, 4. 7. 23: TSE rechazó dos ofertas de menor monto para voto electrónico
[4] Ulloa hatte während Jahren als Landesdelegierter des Washingtoner Tentakels National Democratic Institute in Haiti nach der Invasion die jeweiligen US-gesponserten Wahlbetrüge begleitet.
[5] https://www.asamblea.gob.sv/node/12859
[6] https://fundacionpaiz.org.gt/barberos-en-huelga/
[7] https://twitter.com/i/status/1665774420785242112