Israel hat deutlich gemacht, was es in Gaza tut. Warum hört die Welt nicht zu?
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(zas, 22. 10. 23) Einige werden diesen Text schon gesehen haben. Aber inmitten des Einheitsdiskurses in der euroatlantischen Macht- und Medienblase sind solche Stimmen wertvoll. Zudem: Das Leiden der einen löscht nie jenes der andern aus – weder in Gaza noch in Südisrael.
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Raz Segal*
(Oktober 13, 2023) Am Freitag wies Israel die belagerte Bevölkerung in der nördlichen Hälfte des Gazastreifens an, in den Süden zu evakuieren, und warnte, dass es seine Angriffe auf die obere Hälfte des Streifens bald verstärken würde. Mehr als eine Million Menschen, darunter die Hälfte der Kinder, versuchen nun verzweifelt, vor den anhaltenden Luftangriffen in eine ummauerte Enklave zu fliehen, wo es nirgends sicher ist. Die palästinensische Journalistin Ruwaida Kamal Amer schrieb heute aus Gaza: "Flüchtlinge aus dem Norden kommen bereits in Khan Younis an, wo die Raketen nie aufhören und uns die Lebensmittel, das Wasser und der Strom ausgehen." Die UNO hat davor gewarnt, dass die Flucht der Menschen aus dem nördlichen Teil des Gazastreifens in den Süden "verheerende humanitäre Folgen" nach sich ziehen und "eine bereits bestehende Tragödie in eine katastrophale Situation verwandeln" wird. In der letzten Woche hat die israelische Gewalt gegen den Gazastreifen mehr als 1’800 Palästinenser getötet, Tausende verletzt und mehr als 400’000 Menschen innerhalb des Streifens vertrieben. Und dennoch versprach der israelische Premierminister Benjamin Netanjahu heute, dass das, was wir gesehen haben, "nur der Anfang" sei.
Flüchtlingslager Jabalia bei Gaza. |
Israels Kampagne zur Vertreibung der BewohnerInnen des Gazastreifens - und möglicherweise zu ihrer vollständigen Ausweisung nach Ägypten - ist ein weiteres Kapitel der Nakba, bei der schätzungsweise 750’000 Palästinenser während des Krieges von 1948, der zur Gründung des Staates Israel führte, aus ihrer Heimat vertrieben wurden. Der Angriff auf den Gazastreifen kann aber auch aus einem anderen Blickwinkel betrachtet werden: als ein Lehrbuchfall von Völkermord, der sich vor unseren Augen abspielt. Ich sage dies als Völkermordforscher, der viele Jahre lang über die israelische Massengewalt gegen Palästinenser geschrieben hat. Ich habe über den Siedlerkolonialismus und die jüdische Vorherrschaft in Israel geschrieben, über die Verzerrung des Holocaust, um die israelische Rüstungsindustrie anzukurbeln, über Antisemitismusvorwürfe als Waffe zur Rechtfertigung israelischer Gewalt gegen PalästinenserInnen und über das rassistische Regime der israelischen Apartheid. Jetzt, nach dem Angriff der Hamas am Samstag und dem Massenmord an mehr als 1’000 israelischen ZivilistInnen, ist das Schlimmste vom Schlimmsten eingetreten.
Nach internationalem Recht ist das Verbrechen des Völkermords definiert durch "die Absicht, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu vernichten", wie es in der UN-Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermords vom Dezember 1948 heisst. Bei seinem mörderischen Angriff auf Gaza hat Israel diese Absicht lautstark verkündet. Der israelische Verteidigungsminister Yoav Gallant erklärte am 9. Oktober unmissverständlich: "Wir verhängen eine vollständige Belagerung über Gaza. Kein Strom, keine Lebensmittel, kein Wasser, kein Treibstoff. Alles ist geschlossen. Wir kämpfen gegen menschliche Tiere, und wir werden entsprechend handeln." Führende westliche Politiker verstärkten diese rassistische Rhetorik, indem sie den Massenmord der Hamas an israelischen Zivilisten - ein Kriegsverbrechen nach internationalem Recht, das in Israel und in der ganzen Welt zu Recht Entsetzen und Schock auslöste - als einen "Akt des schieren Bösen" bezeichneten, wie US-Präsident Joe Biden sagte, oder als einen Schritt, der ein "uraltes Übel" widerspiegelt, wie es die Präsidentin der Europäischen Kommission Ursula von der Leyen ausdrückte. Diese entmenschlichende Sprache dient eindeutig dazu, die weitreichende Zerstörung palästinensischen Lebens zu rechtfertigen; die Behauptung des "Bösen" verwischt in ihrer Absolutheit die Unterscheidung zwischen militanten Hamas-Kämpfern und der Zivilbevölkerung des Gazastreifens und verdeckt den breiteren Kontext von Kolonisierung und Besatzung.
In der UN-Völkermordkonvention sind fünf Handlungen aufgeführt, die unter ihre Definition fallen. Israel begeht derzeit drei dieser Handlungen in Gaza: "1. die Tötung von Mitgliedern der Gruppe. 2. Verursachen schwerer körperlicher oder geistiger Schäden bei Mitgliedern der Gruppe. 3. Vorsätzliche Zufügung von Lebensbedingungen, die darauf abzielen, die Gruppe ganz oder teilweise zu zerstören". Die israelische Luftwaffe hat nach eigenen Angaben bisher mehr als 6’000 Bomben auf den Gazastreifen abgeworfen, der eines der am dichtesten besiedelten Gebiete der Welt ist - fast so viele Bomben, wie die USA in den rekordverdächtigen Jahren ihres Krieges auf ganz Afghanistan abgeworfen haben. Human Rights Watch hat bestätigt, dass unter den eingesetzten Waffen auch Phosphorbomben waren, die Körper und Gebäude in Brand setzen und Flammen erzeugen, die auch bei Kontakt mit Wasser nicht verlöschen. Dies zeigt deutlich, was Gallant mit "entsprechend handeln" meint: nicht auf einzelne Hamas-Kämpfer zielen, wie Israel behauptet, sondern tödliche Gewalt gegen die PalästinenserInnen in Gaza "als solche" entfesseln, in der Sprache der UN-Völkermordkonvention. Israel hat ausserdem seine 16-jährige Belagerung des Gazastreifens - die längste in der modernen Geschichte - unter eindeutiger Verletzung des humanitären Völkerrechts zu einer "vollständigen Belagerung", wie Gallant es ausdrückt, verschärft. Diese Wendung deutet explizit auf einen Plan hin, die Belagerung zu ihrem endgültigen Ziel der systematischen Zerstörung der PalästinenserInnen und der palästinensischen Gesellschaft in Gaza zu bringen, indem sie getötet, ausgehungert, von der Wasserversorgung abgeschnitten und ihre Krankenhäuser bombardiert werden.
Im Spital nach einer Bombaridierung. Bild: New York Times. |
Nicht nur die israelische Führung bedient sich solcher Worte. Ein Interviewpartner des pro-Netanjahu-Kanals 14 forderte Israel auf, "Gaza in Dresden zu verwandeln". Kanal 12, der meistgesehene Nachrichtensender Israels, veröffentlichte einen Bericht über linksgerichtete Israelis, die dazu aufriefen, "auf dem zu tanzen, was einmal Gaza war". Inzwischen sind völkermörderische Verben – den Gazastreifen auslöschen und plattmachen - in den sozialen Medien Israels allgegenwärtig. In Tel Aviv wurde ein Banner mit der Aufschrift «Null Gazaner" an einer Brücke gesehen.
Der völkermörderische Angriff Israels auf den Gazastreifen ist in der Tat ziemlich eindeutig, offen und schamlos. Die Täter von Völkermord drücken ihre Absichten normalerweise nicht so deutlich aus, obwohl es Ausnahmen gibt. Im frühen 20. Jahrhundert verübten die deutschen Kolonialherren beispielsweise einen Völkermord als Reaktion auf einen Aufstand der indigenen Herero und Nama in Südwestafrika. Im Jahr 1904 erliess der deutsche Militärbefehlshaber, General Lothar von Trotha, einen "Ausrottungsbefehl", der mit einem "Rassenkrieg" begründet wurde. Bis 1908 hatten die deutschen Behörden 10’000 Nama ermordet und ihr erklärtes Ziel der "Vernichtung der Herero" erreicht, indem sie 65’000 Herero, 80 % der Bevölkerung, töteten. Gallants Befehle vom 9. Oktober waren nicht weniger eindeutig. Israels Ziel ist es, die PalästinenserInnen in Gaza zu vernichten. Und wir, die wir auf der ganzen Welt zusehen, werden unserer Verantwortung nicht gerecht, sie daran zu hindern.
Berichtigung: In einer früheren Version dieses Artikels hiess es, Israel habe in dieser Woche mehr Bomben auf den Gazastreifen abgeworfen als die USA in jedem einzelnen Jahr ihres Krieges in Afghanistan. Tatsächlich haben die USA sowohl 2018 als auch 2019 mehr als 7.000 Bomben auf Afghanistan abgeworfen; zum Zeitpunkt der Veröffentlichung hatte Israel in weniger als einer Woche schätzungsweise 6.000 Bomben auf Gaza abgeworfen.
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· * jewishcurrents.org, 13. 10. 23: A Textbook Case of Genocide. Der Autor hat an israelischen Universitäten geforscht und arbeitet heute im Holocaust Resource Center der Stockton University in New Jersey, USA.