«Noch und noch wurden wir vor der verheerenden Gewalt gewarnt…»

Montag, 16. Oktober 2023

 (zas, 16. 10. 23) Er sagte es in seiner Stellungsnahme (Even as US Jews Mourn Israeli Dead, We Must All Decry US-Backed Genocide in Gaza) vor einigen Tagen voller Schmerz und höflich, der Rabbi Brant Rosen der antizionistischen Tzedek-Synagoge in Chicago. Er gibt wieder, wie ihn der Hamas-Horror vom 7. Okt aufgewühlt hat. Wie auch er und so manche andere jüdische FriedensaktivistInnen dafür kämpfen, trotz enormer Emotionen den Blick auf die Hintergründe nicht zu verlieren:

«Tatsächlich schlagen PalästinenserInnen und ihre Verbündeten seit langem Alarm, dass Israel PalästinenserInnen ungestraft einem brutal gewalttätigen Apartheid-System unterwirft - und dass das, falls die internationale Gemeinschaft nicht interveniert, zu schwerwiegenden Konsequenzen führen würde. Noch und noch wurden wir vor der verheerenden Gewalt gewarnt, die unweigerlich eintreten werde, falls Israel nicht zur Rechenschaft gezogen würde. Wie das der palästinensische Historiker Rashid Kalid kürzlich formulierte, 'ein ganzes Volk, das unter dieser Art von unglaublicher Unterdrückung lebt, in einem Dampfkochtopf. Es musste explodieren.'»

«Beim Versuch, den Kontext dieser kürzlichen Gewalt zu verstehen, ist es absolut zwingend, zu sehen, wo das Ganze anfing – und wie ich das sehe, gerieten die meisten Medienanalysen der letzten Tage traurig auf Abwege. Beliebig vielen Experten zufolge begann der aktuelle Gewaltausbruch sei es mit dem Israel-Saudi-Deal, sei es mit der rechtsextremen Politik der Administration Netanyahu. Natürlich lässt sich argumentieren, einer dieser Gründe habe den Auslöser abgegeben; doch ich war tief enttäuscht, um nicht zu sagen überrascht, dass sehr wenige dieser Analysen in diesem Zusammenhang die Nakba überhaupt haben.»

«Natürlich war die Nakba ein Akt der Gewalt und des Unheils, der seit 1948 bis zum heutigen Tag in dem Land zwischen Fluss und Meer nachhallt. Einfach ausgedrückt, hat Israel in den letzten 75 Jahren die Palästinenser gewaltsam enteignet, um Platz für einen mehrheitlich jüdischen Staat zu schaffen. Und ebenso lange wehrt sich das palästinensische Volk gegen seine Enteignung - ja, oft mit Gewalt.»

Rosen erläutert, wie diese Gewalt oft mit Gaza verbunden ist, das

«in mancher Hinsicht Epizentrum der Nakba ist – und des Widerstands der palästinensischen Bevölkerung dagegen (…) Die Geschichte des Gazastreifens begann nicht mit der israelischen Blockade oder dem politischen Aufstieg der Hamas. Was wir heute als ‘Gazastreifen’ bezeichnen, wurde 1949 künstlich geschaffen, als es zum Auffangbecken für eine Flut von ethnisch gesäuberten palästinensischen Flüchtlingen aus den Städten und Dörfern in der Küstenebene und im unteren Galiläa. Vor der Nakba zählte die Bevölkerung dieser kleinen Region 60 bis 80'000 Einwohner. Am Ende der Feindseligkeiten drängten sich mindestens 200'000 Flüchtlinge in diesem 140 Quadratmeilen grossen Streifen Land.»

Bombenopfer suchen Hilfe in einem Spital in Gaza. New York Times, 15.10.23

«Nach der Gründung des Staates Israel wurden viele der ursprünglichen Siedlungen und Kibbuzim an der Grenze zum Gazastreifen als militärische Aussenposten gegründet, von denen die meisten auf oder in der Nähe von zerstörten palästinensischen Dörfern errichtet wurden. Bei den Orten, die am vergangenen Samstag am stärksten von den Massakern betroffen waren (darunter der Kibbuz Kfar Aza, Re'im und Sderot), handelte es sich um Siedlungen, die ursprünglich aus Gründen der ‘nationalen Sicherheit’ Israels an diesen Orten errichtet worden waren.»

Einer dieser heute wieder betroffenen Orte ist das Kibbuz Nahal Oz, wo 1956 Roi Rotenberg von eingedrungenen Palästinensern erschossen wurde. Bei dessen Beerdigung hielt General Moshe Dayan, später Verteidigungsminister Israels, eine Rede und sagte:

«Besudelt heute nicht die Mörder mit Anschuldigungen. Wer sind wir, dass wir ihren gewaltigen Hass auf uns beklagen sollten? Seit acht Jahren sitzen sie in Flüchtlingslagern im Gazastreifen, und vor ihren Augen nehmen wir das Land und die Dörfer, in denen sie und ihre Väter wohnten, für uns in Besitz.... Das wissen wir: Damit die Hoffnung, uns zu vernichten, stirbt, müssen wir bewaffnet und bereit sein, morgens und abends. Wir sind eine Generation der Siedler, und ohne Stahlhelm und Kanonenrohr können wir keinen Baum pflanzen und kein Haus bauen. Unsere Kinder werden nicht überleben, wenn wir keine Schutzräume bauen, und ohne einen Stacheldrahtzaun und ein Maschinengewehr können wir keine Strasse pflastern und kein Wasser kanalisieren. Die Millionen von Juden, die vernichtet wurden, weil sie kein Land hatten, blicken aus der Asche der israelitischen Geschichte auf uns und befehlen uns, ein Land für unsere Nation in Besitz zu nehmen und aufzubauen.»

Moshe Dayan, so der Rabbi weiter, führte damals das Trauma des Holocausts zur Rechtfertigung an. Das gehe heute weiter. Rosen zitiert den Satz des israelischen Staatspräsidenten Isaac Herzog ‘Seit dem Holocaust wurden nie so viele Juden an einem einzigen Tag getötet’ und fährt fort «Aber gleichzeitig ist diese Holocaust-Rhetorik wegen der von einer weit rechtsstehenden Regierung aufgepeitschten Wut, die PalästinenserInnen mit einer unverhüllt genozidalen Sprache dämonisiert, tief bestürzend.»