El Salvador: Chaos, Diktatur und Absurdes

Donnerstag, 8. Februar 2024

 

(zas, 8.2.24) Die Präsidentschafts- und Parlamentswahlen von letztem Sonntag in El Salvador lösen andauernd teils kafkaesk, teils lächerlich Dynamiken aus. Es war klar: Bukele, angetreten zu, der von der Verfassung strikt verbotenen Wiederwahl, würde diese deutlich gewinnen; auch eine 2/3-Mehrheit für seine Partei Nuevas Ideas im Parlament und damit weiter garantiertes Durchwinken aller Gesetzeswünsche des Clans um Bukele schien durchaus möglich. Am Wahlabend würde sich das Volk dank State-of-the-art-Software am Resultat seines Votums für den «Presi» erfreuen und das Oppositionsgewürm sich winden.   

 

Der «Krieg gegen die Maras»

Dafür waren Voraussetzungen zu schaffen. Am Populärsten der sog. Krieg gegen die Maras – offiziell wurden unter einem bald zweijährigen Ausnahmeregime 77'000 ihrer Mitglieder (minus offiziell akzeptiert 7000 unschuldig Eingekerkerte) verhaftet. Tatsächlich hat sich die Lebensqualität in den jahrelang vom Maraterror heimgesuchten Unterklassenzonen insofern massiv verbessert, als die Leute wieder Bekannte und Angehörige in anderen Quartieren besuchen können, die von einer anderen Mara als der die eigene Comunidad beherrschende kontrolliert waren, ohne deswegen erpresst, geschlagen oder umgebracht zu werden. Das muss man sich erst mal reinziehen! Das bewirkt eine Welle von Dankbarkeit für den starken Mann, der endlich aufräumt. Dies, obwohl das Wissen, dass die «Kriminellen» nicht einfach weg im dunklen Loch sind, sondern sich viele bloss nicht mehr ostentativ auf den Strassen zeigen, verbreitet ist. Und im Wissen, dass auch aus der eigenen Nachbarschaft immer wieder Leute in die Folterknäste verbracht werden, die keineswegs Maramitglieder sind. Zur Verdeutlichung: Laut der Menschenrechtsorganisation Cristosal sind mindestens 2/3 der unter dem Ausnahmeregime als Maramitglieder Verhaftete unschuldig. Sie stützt sich für diese Aussage auf die Berichte von Freigekommenen über die Verhältnisse in den jeweiligen Massenzellen der unter dem Ausnahmeregime Verhafteten. Das beleuchtet natürlich auch den Aspekt des Mitläufertums Vieler auch in den Unterklassenzonen. Es gibt in diesem Zusammenhang Manche, die partout nicht glauben wollen, was dank geleakter Dokumente, Videos oder Telefonmitschnitten überdeutlich ist: Regierung und Mara-Chefetagen sind gut vernetzt miteinander. Dazu der gerade am meisten erwähnte Fall von Crook, ein nationaler Marachef, der von einem hohen Regierungsfunktionär und Bukelekumpel aus dem Gefängnis geholt und im Amtswagen an die sichere Grenze nach Guatemala chauffiert wurde. Dummerweise ist Crook später in Mexiko geschnappt und gleich an die USA ausgeliefert worden, wo er in einem Prozess der New Yorker Justiz vieles ausgeplaudert und auch die geschilderten Fluchtumstände bestätigt hat.

 

Chaos-Strategie

Weitere Voraussetzungen für den Bukele-Triumph war die «Chaos-Strategie» (permanente Änderungen von Wahlprozessbestimmungen, Unterfinanzierung des Wahlapparates, absolut verspätete Vertragsschliessung mit Wahldurchführungsunternehmen und Audit-Gesellschaften u. a.; s. Wahlen, Irrlichter und üble Games in Correos 206 vom letzten August). Dazu gehören auch die an wahlarithmetischen Kalkülen orientierte Reduktion des Parlaments auf 60 Sitze samt Ausschaltung von Minderheitsquoten dank eines eine starke Partei klar favorisierenden Auszählungssystems und Reduktion von 262 auf 40 Gemeinden mit wahlarithmetischen Grenzziehungen. Bemerkenswert dabei: In den bisherigen, jetzt aufgelösten Gemeinden setzt nicht etwa die Bürgermeisterin der neuen Grossgemeinde eine Stellvertretung ein, sondern die Regierung Bukele. Das erinnert an das Mussolini-Dekret von 1926, als der Faschist die Gemeindewahlen zugunsten der Einsetzung von von der Regierung ernannten Verwaltern (podestà) ersetzte.

So war also alles für den Wahltag angerichtet. Wie lief der ab? Friedlich, wie etwa die OAS-Beobachungsmission glaubte attestieren zu müssen. Friedlich, wenn man so Nebensächlichkeiten, wie dass manche ParteibeobachterInnen und eigentlich per Los ausgewählte WahltischfunktionärInnen keine entsprechenden Ausweise erhielten, dafür bei ihrer frühmorgendlichen Ankunft im Wahllokal die Information, ihr Platz sei schon eingenommen worden. Von wem? Von anderen. An den Wahltischen haben sich überwiegend Mitglieder der Regimepartei Nuevas Ideas (NI) getummelt. NI soll auch manche Delegierte anderer Parteien gestellt haben. Friedlich also, mit einer Wahlbeteiligung um die 50 % der Wahlberechtigten (laut WahlbeobachterInnen und Unterlagen der Opposition weniger. Traditionell hätte damit die Wahlabstinenz etwas zugenommen.)

Dann, keine zwei Stunden nach Schliessung der Wahlllokale, verkündet Bukele vom Balkon aus einer begeisterten Menge auf der zentralen Plaza Cívica und der TV- und Social Media-Gemeinde des Landes die Wahlresultate: 82.5 % der Stimmen für ihn, 58 von 60 Parlamentssitzen für seine Partei.  Mehrere auch seriöse Umfragen liessen ja ein derartiges Resultat erwarten. Es gab nur ein kleines Problem: An den Wahltischen war die Auszählung noch im vollen Gang. Warum also «wusste» Bukele die Resultate schon? Dank einer, wie später zu erfahren war, in El Salvador notorisch unzuverlässigen Exit-Poll ausgerechnet der von ihm besoldeten Cid-Gallup.

 

Dann lief nichts mehr

Doch dann wurde es peinlich, nicht nur für die Regierungen von Honduras (und hier vor allem für Ex-Präsident Mel Zelaya, ein überzeugter Bukelist), Guatemala und Mexiko, die Bukele standa pede (kurz danach gefolgt vom US-Aussenminister) zu seinem Wahlsieg beglückwünscht hatten, sondern auch für den Bukelismo. Die «erprobte» Übermittlung der Wahltischresultate an die Zentralcomputer des Wahlgerichtes TSE klappte kaum. Präsidentschaftsresultate wurden laut TSE zu 70 % übermittelt, bei den restlichen 30 % ging es drunter und drüber. Entweder lief gar nichts oder nur in extremem Schneckentempo, weil grad das Wlan streikte oder das Modem defekt war oder sonst was, bei den Parlamentswahlen waren es weniger als 0.5 Prozent. Und dumm, die Wahltische sahen, dass bei der Übermittlung oft die eingegebenen Resultatzahlen verdoppelt oder verdreifacht wurden – zwar oft für alle Parteien, was aber auch so den überragenden Lead Bukeles noch mehr strahlen liess. Die TSE-Zentralcomputer «krachten» zusammen, die TSE-Resultatshomepage wurde schliesslich abgeschaltet. Spät nachts wusste die TSE-Präsidentin dennoch von einem «Erfolg» der Wahlorganisation zu schwafeln, und um 1 h nachts ordnete das TSE den völlig übermüdeten Wahltischgruppen, die schon vor dem Morgengrauen vor Ort sein mussten, die manuelle Auszählung der Parlamentsergebnisse an – ein todsicheres Fiaskorezept.  Denn die ganze Ausbildung war darauf ausgerichtet, wie die tolle Hightech für die sichere Übermittlung zu bedienen sei, überhaupt nicht darauf, wie Markierungen auf dem Wahlzettel für eine Parteiliste oder für einzelne Personen auf der Parteiliste oder für Wahlpräferenzen für Angehörige verschiedener Parteien zu berechnen seien. Entsprechend viele Wahltischakten enthielten absurde Fehler (mehr Stimmen für NI als überhaupt am diesem Tisch Leute wählen durften oder, weil das gedruckte Formular oft fehlte, irgendein Blatt mit durchgestrichenen Angaben etc.).

Am nächsten Tag gab das TSE bekannt, dass die nicht übermittelten 30 % der Präsidentschaftsstimmen sowie sämtliche Wahlzettel für das Parlament neu ausgezählt werden sollen. Der Cyber-Glanz, mit dem sich Bukele gern schmückt, war weg. Nicht weg sind die Probleme. «Banal» etwa: Wie sollen kleinere Parteien im Handumdrehen je rund 300 Delegierte an die laut TSE-Ankündigung während zweier Wochen arbeitenden Auszählungstische mobilisieren können? Und wenn sie welche haben, wie durchsetzen, dass die dann auch beobachten dürfen? Schon jetzt hört man Klagen, dass wieder NI-Leute ihren Platz einnehmen.

Vor allem aber kristallisierte sich ein neues Problem heraus. Die laut Wahlgesetzt zuständige Wahldepartementsleitung von San Salvador etwa konnte dem TSE die angeforderten Akten und Wahlzettel aus dem Departement nicht liefern, weil sie, wie sie in einer Mitteilung an das TSE festhielt, das Material gar nicht hatte. Später hatte das oppositionelle Portal Revista Factum rausgefunden, wo es gelagert ist: In einem nicht gekennzeichneten Gebäude in nächster Nachbarschaft zur grössten Militärkaserne des Landes. Zumindest die Oppositionsparteien wussten das nicht. Als dann Medienleute dort ankamen, konnten sie, bevor sie vertrieben wurden, filmen, wie die Spezialklebstreifen auf manchen der Kartons beschädigt oder gleich durchgeschnitten und ganze Kartons beschädigt waren. Das darf nun ausgezählt werden.

Bild: El Diario de Hoy, 7.2.24

 

Es gäbe noch manch andere «sonderliche» Dinge zu erwähnen, aber eines muss noch gestreift werden: die Stimmabgabe von BürgerInnen im Ausland. Das betrifft vor allem jene in den USA, irgendwo zwischen 2 und 3 Millionen an der Zahl. Nach offiziellen Angaben haben 200'000 Leute, in deren salvadorianischem Personalausweis ihre Auslandsadresse angegeben ist, seit Januar online gewählt. 120'000 mit salvadorianischer Adresse im Ausweis konnten nur in Konsulatsräumen ihre Stimme am 4. Februar abgeben. Das wären zusammen 43 % der angeblich Stimmberechtigten im Ausland – unglaubwürdig hoch. Bei der Online-Wahl gibt es viele Probleme. So gibt es, (nicht nur, aber auch) dank einer kürzlich vom Bukelismo verabschiedeten Gesetzesänderung, die es auch SalvadorianerInnen, die gerade im Ausland sind, kein Register von zu Online-Wahl Berechtigten. Zudem gibt es keine irgendwie geartete Möglichkeit der Beobachtung. Die Online-Stimmen sind nach dem gleichen Software-Protokoll, das in El Salvador so viel Aufsehen erregt, übermittelt worden. Und zum Dessert: Alle für Parlamentskandidaturen abgegebenen Stimmen werden automatisch dem Departement San Salvador zugerechnet, was die Chancen der dortigen Oppositionellen entsprechend schmälert.

 

Warum?

Die Frage stellt sich: Warum hat der Bukelismo in seiner doch sehr starken Position zu den evidenten Betrugsmanövern vom Wahltag gegriffen (von der faktischen Falschakkreditierung von angeblichen OppositionsbeobachterInnen und der illegalen Besetzung der meisten Stellen in den Wahlbehörden von Stufe Urne aufwärts mit eigenen Leuten bis zum Supersoftware-Spektakel gegriffen? Vor dem Hintergrund eines seit einem Jahr laufenden Betrugsmanöver grossen Ausmass (Wiederwahl, Chaosstrategie bis hin zu Spielregeländerungen in der letzten Zeit)? War es schlichter Pfusch gepaart mit der gewohnten Wonne der Straffreiheit? Oder hatte man im Bukele-Lager ähnlich wie in Quartieren der Oppositionsbewegung den Umfragen misstraut, da diese auch ergaben, dass 60 % der Bevölkerung generell wieder auf der Hut sind mit dem Äussern politischer Meinungen, so wie während der Militärdiktatur? Weil man nicht wusste, wie sehr schon jetzt von der Bukele-Politik Drangsalierte (Familien von Gefangenen, von denen sie manchmal nicht wissen, ob sie überhaupt noch leben; von den Strassen vertriebene informelle MarktverkäuferInnen; an den Nahrungsimporten der Bukele-nahen Kapitalgruppen zugrundgehenden Campesinas/os; zehntausende von Entlassenen im Privatsektor, u. v. a.) die Stimmabgabe als Votum gegen die Diktatur sehen würden? War es eine Mischung von Pfusch und dieser Angst? Letztere scheint bei den Parlamentswahlen so unbegründet nicht zu sein. Viele, die Bukele wählen («gegen die Maras»), möchten aber ein ausgeglicheneres Parlament. Laut Berichten von WahlbeobachterInnen und Mitgliedern von Wahltischgremien sollen sich die Oppositionsparteien gut genug geschlagen zu haben (man erwähnt 25 % der Stimmen, manchmal 40 %), um auf Parlamentsebene zwar den Sieg des Bukelismo nicht verhindern zu können, aber doch die propagierte Strahlemann-Aura des Präsidenten im Vergleich zu den Parlamentswahlen 2021 zerbrechlich erscheinen zu lassen.

Die bukelistische Staatsanwaltschaft, vom TSE auf Spurensuche geschickt, wird wohl eine Sabotage des spanischen Softwarelieferanten Indra oder einen Hackangriff aus oppositioneller Ecke oder Ähnliches orten. Sie muss, denn die unglaublichen Ereignisse dieser Tage drohen, den Bukelismo in die Defensive zu drängen – statt planetarisch als Vorbild zu leuchten.

Eines sollte nicht untergehen. Als Bukele am Abend seine Inspirationen vortrug, vom Balkon des Palacio aus, unter sich die zustimmende Menge, wusste er auch diese Erfolgsmeldung unter die Leute zu bringen: «Alle Rekorde aller Demokratien in der ganzen Geschichte» sind gebrochen worden und «die ganze Opposition zusammen ist pulverisiert worden». Das wäre dann «das erste Mal, dass in einem Land eine einzige Partei in einem demokratischen System existiert».[i] Kein Versprecher im Übereifer. Zwei Tage vor der Wahl zitierte die New York Times seinen ebenfalls wieder kandidierenden Vize Félix Ulloa so: «Diesen Leuten, die sagen, die Demokratie werde abgebaut, antworte ich ‘Ja’ – wir bauen sie nicht ab, wir eliminieren sie, wir ersetzen sie mit etwas Neuem.» Denn die Demokratie im Land sei «blutig» gewesen. Die alte Regimemasche, wonach die Friedensabkommen nach dem Bürgerkrieg ein Deal zwischen Mafias gewesen sei.

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Eine letzte Bemerkung: In der salvadorianischen Linken gab es seit langer Zeit eine Debatte, ob man sich an den Wahlen beteiligen sollte. Ein Teil war dafür engagiert. Ein anderer Teil setzte statt auf Wahlen (und den als aussichtslos betrachteten Versuch, den FMLN gegen seine aktuelle Leitung wieder in realere Widerstandsbahnen zu bringen) auf eine stete Stärkung der sozialen Protestbewegung, die vor dem Horizont des angelaufenen, aber noch nicht für alle spürbaren sozioökonomischen Kollaps die Hoffnung auf einen realen Wandel entzünden soll – trotz aller Angst aufgrund des Kriegs nicht gegen die Maras, sondern die Armen. Diese Tendenz argumentiert seit langem, die Konzentration auf Beteiligung an einem korrupten Wahlanlass sei kontraproduktiv. Wie weit die jetzige Lage zur Klärung und zu einer gemeinsamen Anstrengung gegen die jetzt sich inthronisierende Diktatur führt, wird sich zeigen.



[i] Diario El Mundo, 5.2.24: Bukele: «Primera vez que existe un partido único en un sistema democrático».