Tragische Woche in Paraguay

Montag, 25. Juni 2012


Hintergründe zum technischen Putsch in Paraguay und einem Massaker. Ein neuer Polizeichef salutiert bei der Vereidigung mit dem Hitlergruss.
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Freitagnacht, 22.6.12
Javiera Rulli, Reto Sonderegger
Der paraguayische Präsident Fernando Lugo ist soeben vom Parlament mittels eines politischen Prozesses abgesetzt worden, der nur 24 Stunden gedauert hat. Dieses Komplott der grossen politischen Parteien stellt die letzte Phase einer politischen Destabilisierungsoperation dar, die das Land seit dem Massaker vom 15. Juni in Curuguaty erlebt. Die Ereignisse dort verweisen auf eine hochkalibrige Operation im oppositionellen Interesse. Das bei einer Polizeioperation in einem Camp von Landlosen erfolgte Massaker hatte 17 Todesopfer gefordert, 11 Campesinos und 6 Polizisten, und 80 Verletzte. 54 Personen haben wegen sehr schwerer Delikte ein Verfahren.
Wir versuchen im Folgenden die Kettenreaktion vom Massaker bis zur heutigen Absetzung von Lugo darzustellen.

Vorgeschichte von Curuguaty
Curuguaty liegt im Department Canindeyú im Nordosten, in einer an Brasilien angrenzenden Region mit grosser Landmonopoliiserung, in der das Soja-Business, Marihuana-Pflanzungen und der Drogen- und Waffenschmuggel dominieren.  Blas N. Riquelme gehört zu den Reichsten im Land. Er ist Grossgrundbesitzer, Ex-Senator der Colorado-Partei und Besitzer von Supermarktketten und anderen Nahrungsunternehmen. Riquelme eignete sich 1969, mitten in der Stroessner-Diktatur, auf betrügerische Weise 50'000, für die Agrarreform bestimmte Hektaren an. Dieser Fall von erschlichenen Ländereien wird im Bericht der Wahrheits- und Gerechtigkeitskommission von 2008 kritisiert.1
Seit dem Fall der Diktatur 1989 kämpfen BäuerInnen in der Zone um dieses Land. Die Landlosen organisieren sich hauptsächlich in einer Liegenschaft mit dem Namen Marina Cue. Schon seit einigen Monaten hat es dort wieder ein Camp von ca. 60 Landlosen gegeben, die keiner spezifischen Organisation angehörten.

Das Massaker von Curuguaty
Am Freitag, dem 15. Juni, betreten zwei Gruppen der Sicherheitskräfte, die Spezialeinheiten der GEO und die Polizei, das Gelände. Sie verfügen nur über einen Räumungsbefehl. Die erste Gruppe nähert sich dem Lager, um mit den Landlosen zu reden, während sich die Polizeieinheit verdächtigerweise weiter hinten positioniert. Plötzlich fallen in einer konfusen Situation Schüsse aus grosser Distanz. Als erste fallen der Chef und der Vizechef der GEO.
In der folgenden Konfrontation bringen Helikopter Verstärkung der Eliteeinheiten, die mit Flammenwerfern und Tränengas die Campesinos zerstreuen. Das Resultat der Operation: 11 tote Bauern und 6 tote Polizisten.
In den folgenden 24 Stunden sperren Polizei und Soldaten die Gegend ab und lassen niemanden durch. Die erste Menschenrechtsdelegation wird während Stunden festgehalten. In Asunción sind die Bauernführer in Alarmbereitschaft. Nach Angaben von Ortsansässigen gibt es in der ganzen Zone eine Jagd auf Überlebende und AktivistInnen. Die Polizei brennt das Camp nieder und zerstört so viele Spuren. In dieser ganzen Zeit führt die Staatsanwaltschaft keine Ermittlungen vor Ort. Vermutlich hat derweil die Polizei Leichen abtransportiert und Spuren zerstört.
Die Verletzten, die Gesundheitszentren aufsuchen, werden verhaftet und in Polizeizellen isoliert. Angehörige und Ortsansässige, die sich bei den Gesundheitszentren nach den Landlosen erkunden, werden ebenfalls verhaftet. Weder AnwältInnen noch Menschenrechtsgruppen werden zugelassen.
Am Samstag, dem 16., überwinden Angehörige, AktivistInnen und Medienschaffende die Polizeisperre, um nach Überlebenden und Verletzten zu suchen. Indígenas aus der Gegend helfen bei der Suche. Während des ganzen Wochenendes fällt starker Regen, was die Suche erschwert. Das BürgerInnenkomitee findet die Leichen von zwei Bauern. Laut den Organisationen „wurden diese Menschen woanders getötet als ihre Leichen lagen, da in der Umgebung keine Blutspuren gefunden wurden. Auch wurden sie als Scharfschützen verkleidet, sie weisen Anzeichen von Folter und einer kürzlichen Hinrichtung auf, frisches Blut und Schüsse in Kopf und Hals, und die Waffen an ihrer Seite sind Flinten, Kurzdistanzwaffen, die deshalb von Scharfschützen nicht benutzt werden, und die eine Munition verschiessen, die nicht mit jener in den Wunden der getöteten Polizisten übereinstimmt“.
  
Die Delegation findet Spuren von Kriegswaffen, welche die Campesinos nicht gebrauchen. Die These kommt auf, dass es neben den Landlosen eine weitere, infiltrierte Gruppe gegeben hat, die den Hinterhalt gegen die Polizei verübten. ZeugInnen der BäuerInnen belegen diese Version. Sie berichten von einer anderen Gruppe von Männern, die in den letzten Tagen in der Nähe campiert haben, mit grosskalibrigen Waffen. Diese seien es, die geschossen haben. Ihr Auftreten entsprach nicht den Methoden des bäuerischen Kampfes. Die Fragen beginnen, wer das denn gewesen sei, Killer von Blas Riquelme, Mafia aus dem Grenzgebiet, Paramilitärs, Guerilla. Klar ist, sie sind nicht unter den Toten und Verhafteten. Zudem wurden viele Spuren verwischt, die zu ihrer Identifizierung hätten führen können.
Unterdessen erhebt die Staatsanwaltschaft Anklage gegen 54 Personen, in ihrer Mehrheit Mitglieder von bäuerischen Organisationen und Angehörige der Getöteten, die früher an Besetzungen der gleichen Länderei teilgenommen haben, aber nicht dieses Mal. Die Anklagen sind gravierend, wie vorsätzlicher Mord unter erschwerenden Umständen, und können bis zu 30 Jahre Gefängnis nach sich ziehen.

Die Polizei entführt die Gefangenen
Am Sonntag, dem 17., treffen der Kabinettssekretär Miguel Ángel López Perito und die Gesundheitsministerin Esperanza Martínez auf eigene Initiative in Curuguaty ein. Die Polizei verschiebt die Gefangenen in andere Gefängnisse und Kommissariate, so dass die RegierungsvertreterInnen sie nicht zu sehen bekommen.
Es kommt zu einer Versammlung der Regierungsleute, der Angehörigen und der sozialen Organisationen, in denen folgende Forderungen erhoben werden:
1.      Stopp der Verfolgung und Freilassung aller Gefangenen
2.      Entschädigung für die Familien der Angehörigen
3.      Wiedergewinnung der Ex-Marina zum Zweck des Aufbaus einer Modellsiedlung.
In einer Presskonferenz von 19. Juni bestätigt Emilio Camacho, Inspektor des Landinstituts INDERT, dass Blas Riquelme keinen Landtitel für 2000 Ha hat. Der Fall der Liegenschaft ist in einem Verfahren hängig. Diese Aussagen machen deutlich, wie irregulär das paraguayische Justizsystem funktioniert, das im Dienste der Grossgrundbesitzer Räumungsbefehle zugunsten von Personen ausstellt, die keinen Rechtsanspruch auf das zu räumende Land haben.

Lugo übergibt den Repressionsapparat den Colorados
Aufgrund der Ereignisse von Curuguaty ersetzt Lugo den Innenminister Carlos Filizzola mit dem ehemaligen Generalstaatsanwalt Candía Amarilla, der sich in dieser Tätigkeit mit der Verfolgung der sozialen Sektoren hervorgetan hat. Amarilla wurde in Kolumbien ausgebildet und gehört zu den Promotoren der Durchsetzung des Plans Kolumbien in Paraguay. Zudem ist er Mitglied der Colorado-Partei. Als ob dies nicht reichte, ersetzt Lugo den Nationaldirektor der Polizei mit dem für die Operation in Curuguaty verantwortlichen Kommissär Arnaldo Sanabria Morán. Bei der Vereidigung durch den Präsident erhebt Sanabria die Hand zum Hitlergruss2.
Links de rneue Polizeikoomandant. Quelle: ABC

Beide Funktionäre werden von den Sozialbewegungen und anderen politischen Sektoren massiv abgelehnt. Amarilla kündigt an, dass er das vom früheren Minister für Räumungsaktionen erlassene Protokoll ausser Kraft setzt, das vor einer Räumung den Dialog mit Sozialorganisationen vorschrieb. Von jetzt an, kündigt Amarilla an, werde in der Strafverfolgung eine harte Hand herrschen.
Mit diesen beiden Ernennungen übergibt Lugo den Repressionsapparat der Colorado-Partei. Man nimmt an, dass dies Bestandteil eines Arrangements war, um einen politischen Prozess zu vermeiden. Doch so bringt er die liberale Partei gegen sich auf, die daraufhin mit den Colorados und den Oviedistas den politischen Prozess ausmachen.
Am Donnerstag, dem 21. Juni, kommt es zu einer Mobilisierung vor dem Land der Marina Cue. Es sind mehr als 1000 Personen da. Der Plan ist, beim Eingang zu lagern oder das Gelände zu besetzen, bis die Verhafteten freigelassen und die Ländereien der Marina Cue übergeben werden. Am gleichen Morgen künden Liberale, Colorados und Oviedistas den politischen Prozess an. Binnen Stunden wird im Parlament das Prozessprotokoll verhandelt, der Präsident erhält das Recht, sich am Freitag während zwei Stunden zu verteidigen. Ab Donnerstag mobilisierten die sozialen Organisationen vor das Parlament. Dort übernachten auf Freitag 2000 Personen und Kolonnen aus allen Departementen treffen in Asunción ein. Am Freitag versammeln sich ungefähr 10'000 Menschen vor dem Parlament. An verschiedenen Orten im Land kommt es zu Strassensperren.
Am Freitagnachmittag wird Lugo nach einer absurden und zirkusreifen Session im Senat verurteilt. Endlich haben die paraguayischen Abgeordneten die mit dem Amtsantritt Lugos begonnene Demokratisierung zerstören können. Nach Bekanntgabe des Urteils kommt es zu einer ersten Repressionswelle vor dem Parlament. Dies ist nur der Beginn dessen, was die sozialen Bewegungen, insbesondere die bäuerische, erwartet.