Drogenkrieg II: Beispiel Mexiko

Mittwoch, 7. Mai 2014

Drei mexikanische Farmarbeiter in den USA. Sie leben unter einer in den Bäumen aufgehängten Zeltplache und haben jeweils nur für wenige Tage einen Job.


(zas, 7.5.14) Der jüngste Nacla-Report of the Americas vom Frühling 2014 hat den Schwerpunkt Mexiko. In verschiedenen Berichten werden zentrale Elemente der laufenden neoliberalen Offensive wie etwa die beschleunigte Privatisierung des Öls oder die massive rechtliche und faktische Verschlechterung der Arbeitsbedingungen der Lohnabhängigen (Leiharbeit, Outsourcing, Limitierung der Gewerkschaftsfreiheit etc.) beleuchtet. Mehrere AutorInnen aus Mexiko, USA und Kanada betonen die Notwendigkeit einer internationalen gemeinsamen ArbeiterInnenbewegung, die sich aus schon existierenden Momenten binationaler US-mexikanischer Kampferfahrungen entwickeln muss. Beispiele dafür sind etwa Arbeitskämpfe mit aktiver Unterstützung aus den USA oder die binationale Kampagne migrantischer ArbeiterInnen für das Recht zu bleiben und das Recht auszuwandern, also das Recht auf die Wahl zwischen würdigen Lebensbedingungen zuhause und einem würdigen Leben anderswo.

  Die extrem schwierigen Lebens- und Organisierungsbedingungen in Mexiko sind geprägt durch den am 1. Januar 1994, dem Tag der zapatistischen Offensive, in Kraft getretenen Freihandelsvertrag NAFTA (USA, Mexiko, Kanada) und dessen 2005 lancierte Verschärfung, der Security and Prosperity Partnership (SPP). Der Ökonom Alejandro Álavarez Béjar von der Universität UNAM schreibt dazu in seinem Heftbeitrag Energy, Integration, and Colonialism:

Die vor allem Energiefragen betreffende SPP "machte die nationalen Sicherheitsinteressen der USA zur Toppriorität der Beziehungen. Die SPP vertieft über Regierungsabkommen die Schemata des Freihandels, der Deregulierung und der Privatisierung und erlaubt den drei NAFTA-Ländern die Durchsetzung einer gemeinsamen Politik ohne Ratifizierung der jeweiligen Legislative."
Ausgedienter Demowagen an eienr Kundgebung der kämpferischen Gewerkschaft SME im Stromsektor. Das grosse staatliche Stromunternehmen Luz y Fuerza wurde 2009 im Zeichen militärisch besetzt, um die Gewerkschaft zu zerschlagen.

In ihrem Einführungstext ins Heft (Introduction: Mexican Workers in the Continental Crucible) nennen Richard Roman und Edur Velasco, emeritierter Soziologe von der University of Toronto der eine, ehemaliger Generalsekretär der mexikanischen Gewerkschaft der Uniangestellten SITUAM der andere, eine weitere Dimension der Verschärfung der Lebensbedingungen der Menschen:

"Die Güter, deren öffentlicher Besitz im revolutionären mexikanischen Prozess errungen wurde (Naturressourcen, vor allem Minen und Energie) werden in die Hände der Reichen und Mächtigen transferiert. Und der Drogenkrieg, ein realer Konflikt zwischen rivalisierenden Fraktionen des Staats-/Drogenkartell-Komplexes wird genau in den Gebieten der neuen Industrialisierung ausgetragen wie dem Grenzgebiet im Norden und in den Schlüsselregionen des Transports globalisierter commodities wie dem Staat Michoacán. Der brutale Drogenkrieg ist eine mächtige, wenn auch nicht beabsichtigte Einschüchterungskraft gegen Versuche der kollektiven Organisierung und des öffentlichen Protests".

Protest nach der Beerdigung von Bernardo Vázquez, des 2012 in Oacaxa ermordeten Anführers eines Kampfes gegen eine Mine.

 Zu den "Gebieten der neuen Industrialisierung" erläutern Roman und Velasco:

"Die neoliberale Reorganisation der mexikanischen Wirtschaft und ihre Integration in ein kontinentales Produktionssystem haben eine massive geographische Verlegung der Industrie und eine Restrukturierung des Arbeitsmarktes und der Arbeitsprozesse mit sich gebracht. So wie in den USA in den 1980er und frühen 1990er Jahren Fabriken den mittleren Westen und den Nordosten in Richtung des antigewerkschaftlichen Südens und Südostens verliessen, zogen Fabriken von Zentralmexiko in die nördliche Grenzregion, sowohl um aus Gebieten mit starker Gewerkschaftstradition zu flüchten wie auch um sich an der Kontinentalisierung der der nordamerikanischen Produktion zu beteiligen. Da der Norden wenig bevölkert war, wurden neue ArbeiterInnen aus einer Vielzahl von Regionen und mit unterschiedlichen Hintergründen für den damals sich ausweitenden, als maquila oder maquiladora bekannten Montagesektor rekrutiert."

"In der ersten Welle der Maquilas – Elektronik und Textilien – wurden vor allem junge Frauen für die Fabriken angeheuert. Aber in späteren Wellen der Maquila-Entwicklung wurden, vor allem im Bereich Autoersatzteile, hauptsächlich Männer rekrutiert. Der junge Charakter der Grenzgebietmigration und die extrem repressive Politik von Unternehmen und Staat machten kollektive Organisierung und Widerstand sehr schwierig."

In ihrem Heft-Beitrag Criminal Violence and Social Control geht die Assistenzprofessorin an der University of New Brunswick, Hepzibah Muñoz Martínez, auf die laut offiziellen Angaben 26'121 Fälle von Verschwundenen in Mexiko von 2006 bis 2012 ein, von denen "die grosse Mehrheit aus urbanen ArbeiterInnen- oder Mittelklassen oder aus der Landarmut" stammt. Sie beschreibt, wie Unterklassenangehörige von Verschwundenen praktisch keine Chancen haben, jemals vom Staat über das Los ihrer verschwundenen Nächsten aufgeklärt zu werden, im Gegensatz zu den Fällen, in denen es um reiche Verschwundene geht, wo es dann auch zu Verhaftungen von Polizeimitgliedern kommt. Dann sagt sie:

"In der Zwischenzeit ist die durch die Fälle von Verschwindenlassen hervorgerufene Angst eine Form der sozialen Kontrolle geworden, um Opposition gegen den militarisierten Neoliberalismus zum Schweigen zu bringen. Ein Grossteil der Gewalt findet in Regionen intensiver und kürzlicher Industrialisierung statt und hat somit eine enorme Auswirkung auf die aus verzweifelter Arbeitsnot in die Städte gekommenen ArbeiterInnen. Die Kombination von organisierter Gewalt des Staates und der Kartelle schafft ein Klima des Terrors, das wiederum die staatliche Repression gegen Organisierungsversuche der ArbeiterInnen in den Regionen der für den Export produzierenden Maquilas verschärft. Die Gewalt in ihren verschiedenen Ausprägungen macht, absichtlich oder nicht, individuellen oder kollektiven Widerstand gegen Ausbeutung extrem schweirig und riskant."

"Neoliberale Reformen haben die Politik der Austerität und der Privatisierung von Gemeinschaftsland vorangetrieben und viele BäuerInnen zur Migration in die Maquila-Regionen gezwungen, die zu den wenigen Quellen beständiger Arbeit gehören. Maquila-Gebiete wie die von Ciudad Juárez sind zu den gewalttätigsten Zonen des Landes geworden. ArbeiterInnen müssen sich nicht nur mit Arbeitsunsicherheit und Tieflöhnen auseinandersetzen, sondern auch mit der täglichen Drohung von Gewalt, Folter und Verschwindenlassen. In den 90er Jahren waren in den Maquilas arbeitende Frauen das Hauptziel von Gewalt und Verschwindenlassen. Seit 2006 kommen jedoch zunehmend junge Männer, Kinder und Betagte zu den Opfern von Verschwindenlassen hinzu."
 
Maquila-Arbeiterin in Tijuana

"Die Wirtschaftskrise und die allgemeine Unsicherheit haben die möglichen Strategien für Verhandlungen mit den Unternehmern und dem Staat und für Proteste gegen die Verschlechterung der Arbeitsbedingungen weiter reduziert. VerteidigerInnen von Arbeitsrechten wurden gekidnapped und erhielten Drohungen. So wurde beispielsweise 2012 ein Anwalt des ArbeiterInnen-Hilfezentrums im Staat Puebla auf seinem Weg zu einer Verhandlungsrunde in einem Prozess gegen ArbeiterInnen der Bekleidungsindustrie entführt. Dies zwang das Zentrum zur Schliessung seines Büros und zur Beendigung seiner Arbeit mit den Maquila-ArbeiterInnen in Puebla. Der Gewerkschaftsbund in der nördlichen Stadt Matamoros in Tamaulipas, einer der ältesten Maquilaregionen des Landes, hat wegen der Gewalt seit 2009 die 1. Mai-Demonstrationen suspendiert." 


An einer Demo der Gewerkschaften SME und CNTC (LehrerInnen) wird ein Bild des 1974 gefallenen Guerillaanführers Lucio Cabañas mitgetragen.
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Alle Fotos aus NACLA-Report Spring 2014