Kolumbien: Wahl zwischen Pest und Cholera

Mittwoch, 28. Mai 2014




José Rodríguez
(26.5.14) Letzten 25. Mai fand die erste Runde in den kolumbianischen Präsidentschaftswahlen statt.  Auf den ersten Platz kam mit mehr als 60 % die Wahlabstinenz, Ausdruck des Misstrauens gegenüber dem Regime und seinem Politpersonal. Obwohl die Abstinenz Ausdruck der Inkonformität ist, dient sie am Schluss der Machtstärkung der oligarchischen Eliten, die das Land in den Krieg und die soziale Ungleichheit von heute geführt haben. Erwartungsgemäss hat kein/e KandidatIn das absolute Mehr erreicht, so dass es zum Stichentscheid zwischen Oscar Yván Zuluaga und Juan Manuel Santos kommen wird, die 29.25 % bzw. 25.69 % gemacht haben.  Zuluaga repräsentiert den mafiösen und Grossgrundbesitzer-Sektor der Oligarchie und Santos ihre traditionelle, transnationalisierte Finanz- und Kapitalfraktion. Beide repräsentieren die neoliberale Rechte. Zuluaga, Sieger der ersten Runde, steht politisch für die extreme Rechte und Santos für die US-orientierte ultraliberale Rechte.

Äste vom gleichen Stamm
Von den fünf KandidatInnen der ersten Runde kommen vier aus der von Ex-Präsident Álvaro Uribe vertretenen polit-ideologischen Tendenz, dem "Uribimus". Santos, der heutige Präsident und Kandidat, Gründer der Partei , die Uribe an die Macht brachte, war dessen wichtigster Minister, als Verteidigungsminister verantwortlich die Sicherheitspolitik und damit für die Verletzung der Souveränität von Nachbarstaaten, die berüchtigten falsos positivos (tausendfache Ermordung von unbeteiligten Armutsjugendlichen durch die Armee, die anschliessend als gefallene Guerillas dargestellt wurden) oder die Klientelpolitik zugunsten des Narco-Paramilitarismus. Zuluaga war (mit Santos zusammen) der grosse Wirtschaftsideologe Uribes und dessen Finanzminister. Unter Uribe wurde die Sozialversicherung demontiert und die Verwaltung der öffentlichen Gesundheit kam in Privathände – über Konzessionen, die damit endeten, dass sie vom Paramilitarismus kontrolliert wurden und der Mafia Profit erbrachten. Für 70 % der Bevölkerung gibt es keine diesen Namen verdienende Gesundheitsversorgung. Gleichzeitig wurden Renten und öffentliche Erziehung den Marktregeln unterstellt, die Freihandelsverträge vorangetrieben und die von den Paramilitärs geraubten Ländereien legalisiert.
Marta Lucía Ramírez vom Partido Conservador (Grossgrundbesitz, Viehzucht, Klerus), mit 15.52 % der Stimmen auf Rang 3, war Uribes erste Verteidigungsministerin in der Zeit, als die Straffreiheit und Legalisierung der geraubten Ländereien mit dem Drogenhandel und dem Paramilitarismus paktiert wurden ("Gerechtigkeits- und Friedensgesetzes"). Enrique Peñalosa, mit 8.28 % das Schlusslicht der ersten Runde, war Kandidat für die Grüne Allianz, die irgendeinen anderen Namen hätte annehmen können, da sie weder ökologisch noch links ist. Peñalosa ist ein in der Weltbank geformter Technokrat und ehemaliger Bürgermeister Bogotás. 2011 scheiterte er als Kandidat des Uribismus beim Versuch, wiedergewählt zu werden. Er verfügt über eine treue Wahlbasis und könnte die zweite Runde entscheiden.

Schmutzkampagne ohne Inhalte
Von Beginn weg war die Kampagne des Kandidaten Präsidenten und des Kandidaten von Uribe durch das Fehlen klarer Vorschläge und die Dominanz von Skandalen geprägt. Es handelte sich dabei um einen Streit ehemaliger Kumpane, die sich sehr gut kannten. Um nur die beiden wichtigsten Fälle zu nennen: Seitens der Uribe-Kampagne wurde Santos beschuldigt, über seinen wichtigsten Berater – J. J. Rendón, Wahlstratege der lateinamerikanischen Rechten, von der venezolanischen Justiz gesucht und von Washington und Bogotá beschützt – bei seiner letzten Kampagne von den Narcos $ 2 Mio. erhalten zu haben. Die Quelle dafür ist ein in den USA inhaftierter Drogenhändler. Ihrerseits beschuldigte die Santos-Kampagne, gestützt auf ein Video, Zuluaga, mithilfe eines Hackers die Kommunikation der beiden in Havanna verhandelnden Delegationen und hoher RegierungsfunktionärInnen abgehört und einen Plan zur Sabotage der Friedensverhandlungen zwischen FARC und Regierung ausgearbeitet zu haben. Mithin handelt es sich um eine aus wahltaktischen Gründen angestossene Diskussion über Formen der Korruption und der Politikausübung jener Kasten, die die beiden Kandidaten vertreten. Die jüngste Geschichte lehrt uns, dass, was sich die beiden vorwerfen – Beziehungen zum Drogenhandel und zum Paramilitarismus, illegales Abhören etc. – vom einen wie vom andern angewandt worden ist.
Das Fehlen umsetzbarer Vorschläge und Programme bewirkte überdies nicht nur die Wahlprozessen eigene Demagogie, sondern eine Polarisierung bzgl. der Friedensverhandlungen zwischen den Aufständischen und der FARC und der Regierung Santos, die seit Ende 2012 in Havanna stattfinden. So hat Santos diese Gespräche stets als Sprungbrett zu seiner Wiederwahl benutzt , während Zuluaga von Beginn weg offen gegen einen möglichen Pazifizierungsprozess konspiriert hat. Er will so seinen Meister (Uribe) kopieren, der 2002 die Präsidentschaft  mit seiner offenen Propaganda des totalen Kriegs gewonnen hat.

Die Linke übersteht ihre Spaltungen
Die Kandidatin von Izquierda Plural, Polo Democrático und Unión Patriótica, Clara López, belegte mit 15.23 % den vierten Rang, in technischem Patt mit Platz 3.  In städtischen Zentren wie Bogotá erzielte sie Resultate zwischen 22 % und 25 %. Der Polo Democrático ist ein Mix von politischen Strömungen, die von liberal-fortschrittlichen und sozialdemokratischen Tendenzen bis zu einer definitiv antisystemischen Linken reichen. Die Unión Patriótica (UP) entstand 1984 aus einem Versuch der FARC-EP, die Waffen in Stimmen umzutauschen; ihre Kader wurden nach ersten Wahlerfolgen von Staatskillern ermordet  und die Partei verboten. In den Parlamentswahlen vom letzten März trat die Linke in drei Gruppen gespalten an: der Polo mit allen seinen Tendenzen; das vom Bürgermeister von Bogotá, Gustavo Petro, angeführte Movimiento Progresista, das damals mit der Alianza Verde von Peñalosa zusammen ging; und drittens der Sektor um die UP und die KP. Nach den Parlamentswahlen wurde eine linke Einheit angestrebt, doch vergeblich. Nur zwischen Polo und UP kam es zu einer programmatischen Verständigung um Clara López als Kandidatin für die Präsidentschaft und Aída Avella von der UP als ihre Vize. Das  Movimiento Progresista von Petro spaltete sich in eine Fraktion für Peñalosa, den Kandidaten der Alianza Verde, und eine andere um Petro, der sich für die Unterstützung von Santos entschied.
Zwei Dinge sind klar: Erstens gingen die linken Stimmen an den von zwei Frauen geführten Zusammenschluss Polo/UP und zweitens missachtete die Basis von Petro dessen Gebot und wählte die KandidatInnen der Linken.
Clara López und Aída Avella

Offene zweite Runde
Bezüglich der zweiten Runde ist, auch aufgrund der Nachwahlerklärungen der beiden Kandidaten,  nur klar, dass sich die Kampagne in den nächsten drei Wochen um den Frieden drehen wird. Santos wird weiter die Gefühle und das Sehnen jener ausnutzen, die wir nach 66 Jahren Krieg ein Kriegsende wollen. Zuluaga seinerseits wird seine Kampagne in Vertretung jener, die vom Krieg gelebt und daraus Profit geschlagen haben, gegen den Frieden richten. Was die sozioökonomische Politik betrifft, laufen ihre unterschiedlich ausgeschmückten Vorstellungen auf das Gleiche heraus: Neoliberalismus pur. Letztlich vertreten sie die gleichen Interessen. Es geht um einen Streit zwischen zwei Fraktionen des Establishments: der Mafia und der traditionellen, weissen und glamourösen Bourgeoisie.
Die beiden Kandidaten werden versuchen, zu Abkommen mit den unterlegenen KandidatInnen zu gelangen. Ohne Zweifel wird der Grossteil der Stimmen für die Kandidatin des Partido Conservador (Platz 3) an Zuluaga gehen. Bei der Alianza Verde werden das die disziplinierten Stimmen ihres Kandidaten machen, andere werden im Namen des Friedens Präsident Santos unterstützen. Aber zweifelsohne werden jene, die leer eingelegt oder Wahlabstinenz geübt haben, den Wahlausgang im Juni entscheiden.
An einem Scheideweg steht die Linke, für die es ethisch, moralisch und politisch UNZULÄSSIG ist, einen der beiden Kandidaten zu unterstützen. Aber gleichzeitig würde ein Aufruf zur Stimmenthaltung eine indirekte Unterstützung für den Kandidaten des Kriegs und der Mafia und die schwere Last einer weiteren Kriegsphase bedeuten. Umgekehrt könnte eine Unterstützung von Santos im Namen des Friedens, ohne dessen Ehrlichkeit in diesem Prozess einschätzen zu können, einen politischen Selbstmord bedeuten.
Ein Ereignis der jüngsten Vergangenheit könnte der Linken als Spiegel  dienen: Gustavo Petro unterstützte zwar Santos, konnte ihm aber keine Stimmen einbringen, und verlor dafür die Glaubwürdigkeit bei jenen, die ihn in seinem Kampf um die Wiedereinsetzung als Bürgermeister unterstützt haben (einem Amt, das ihm Santos weggenommen hatte).
Die Linke wird in klarer Weise die historischen, politischen und realen Gründe darlegen müssen, die uns hindern, einen der beiden Kandidaten zu unterstützen und darauf beharren, dass der Frieden ein inhärenter Grund für unser Linkssein in Kolumbien ist. Und so jeder Kolumbianerin und jedem Kolumbianer die Freiheit seiner Stimmabgabe zu lassen, denn wie jemand sagte, man hält uns an, zwischen Pest und Cholera zu wählen.