ARENA: no volverán - ihr werdet nicht mehr zurückkommen. Zufriedene Gesichter am FMLN-Fest. |
(zas, 8.6.14) Politkulturell
bin ich so sozialisiert, dass mich offizielle Anlässe kalt lassen. Ich war
gespannt auf die fiesta popular am Nachmittag auf der Plaza Cívica vor der
Kathedrale, wo die Leute den neuen Präsidenten begrüssen würden, aber auf die
offizielle Amtseinsetzung von Salvador Sánchez Cerén und seinem Vize Oscar Ortiz
am Vormittag durch das Parlament im Messegelände mit tausend geladenen Gästen
inklusive Staatschefs etc. war ich nicht gerade scharf.
Zu Unrecht, auch wenn das
schwer zu vermitteln ist. Es wurde ein bewegender Anlass, mit Tränen, mit Stolz
und dem Gefühl, einen historischen Moment zu erleben. Im März hatte der FMLN, die Partei der
früheren Guerilla, die Wahlen enorm knapp gewonnen, über 20 Jahre nach den
Friedensabkommen von 1992. Mit einem eigenen Kandidaten, und erst noch einem
der früheren Guerillachefs. 2009 hatte der FMLN in Allianz mit einer Gruppe von
Intellektuellen, Unternehmern, Mittelschichtssegmenten um Mauricio Funes die
Wahlen gewonnen, die diesen zum Präsidenten gemacht hatten. Ohne Funes und sein
Lager hätte der Frente gegen die neoliberale ARENA-Partei erneut verloren.
Jetzt, fünf Jahre später, schaffte der FMLN den Sieg trotz des Fehlens einer
solchen breiten, auch programmatischen
Allianz. Deshalb reden viele hier von der ersten FMLN-Regierung.
Es ist nicht die
Regierung, die der FMLN eingesetzt hätte, hätte seine Grossoffensive von 1989 in
einem militärischen Sieg geendet. Der Sozialismus steht nicht auf der
Tagesordnung. Im Regierungsprogramm wird auch von Dingen wie Umverteilung nach
Massgabe des Produktivitätszuwachses geredet und Hoffnung in Bezug auf
Investitionen im Rahmen des kürzlich von Washington durchgesetzten Public
Private Partnership-Abkommens geäussert. Da geht es um die Einheit der Nation,
ihr Wohl, dem alle gemeinsam dienen sollen, das Grosskapital ebenso wie die ArbeiterInnen,
die Campesinas wie die städtischen Mittelschichten. Man kann dem Frente nicht
vorwerfen, die Erwartungen hochgeschraubt zu haben. Und doch habe ich sehr,
sehr selten so viele und so schöne Gesichter der Hoffnung gesehen wie an der
offiziellen und an der Volksfeier.
Nicht mehr ihr Terrain
Die offizielle
Amtseinsetzung in der Messe – das war ja eigentlich ihr Terrain. Formalismus,
Nationalhymne, Staatsgewalt. Aber da waren andere Leute zugegen als üblich. Als
der abtretende Präsident Funes, dessen Mutter am Vortag gestorben war, und der
von ARENA zum Feind erklärt wurde, weil er dröhnende Korruptionsfälle ihrer
Regierungen ans Tageslicht gezerrt hatte (so dass einer seiner Vorgänger jetzt
untergetaucht ist), als also Funes eintraf, wandten ihm die ARENA-Abgeordneten
den Rücken zu. Das war falsch. Das Buhen, das Pfeifkonzert, die Schmährufe
machten blitzrasch klar, wie die Hauptstimmung unter den Leuten war. Diskrete
Gepflogenheiten? – y qué?! Später stimmte eine Gruppe die Hymne der
FMLN-Guerilla an, aufgenommen von vielen Kehlen quer durch das
Messe-Amphitheater. Einigen von uns kamen die Tränen. Die Botschaft: Hier sind
wir, mitten im Staatsoffizialismus, die wir vor 25, vor 30 Jahren bewaffnet gekämpft
haben und die neuenn Generationen – der Kampf geht weiter. Als Leonel, wie Sánchez Cerén FMLN-intern
genannt wird, seine Rede anfing, begrüsste er zuvorderst die ArbeiterInnen, die
Gewerkschaften, die Sozialbewegungen, die militancia des FMLN. Als er den Namen
seines 2006 verstorbenen Freundes, des FMLN-Anführers Schafik Handal, erwähnte,
explodierte das Amphitheater förmlich: se queda, se queda, el comandante se
queda – der Comandante bleibt. Es war wieder 2006, als eine Riesenmenge zur
Beerdigung kam und eigentlich die Wende von 2009 einläutete, als der Strom der
Trauernden aus dem ganzen Land, der am Sarg des in der Nationaluni Aufgebahrten
vorbeizog, während dreier Tage und dreier Nächte nicht abbrach.
Worte Leonels wie soziale
Gerechtigkeit, Verbesserung der Bedingungen der Arbeitenden oder verstärkte Wiederankurbelung der vom
Neoliberalismus massiv angegriffenen Landwirtschaft bekommen in diesem Kontext
eine andere, tiefere, kämpferischere Konnotation als sonst. Wer will, kann das
überhören und die Bewegung um den FMLN mit den üblichen markigen Worten als ins
System integrierte Reformpfuscherei und Schützenhilfe für den Kapitalismus
abschreiben.
Wer näher an der Sache
mit ihren enorm komplexen Widersprüchen bleiben will, macht das, was Leonel
nicht zufällig an der Volksfeier auf der Plaza beschwört hat: auf die Leute
hören, auf das Volk hören. Wer das nicht tue, so der neue Präsident und alte
Genosse, verirre sich. Er selber ist ein Beispiel für komplexe Widersprüche; der
frühere Chefkommandant einer marxistisch-leninistischen Guerilla gibt heute
zuweilen Dinge von sich, die an Wertkonservatismus erinnern. Familienwerte sind
ihm ein Dauerthema, nach dem Wahlsieg eilte er mit seinem Vize zum
Danksagungsgottesdienst in die Kirche. (In El Salvador sitzen 17
Unterklassenfrauen teils für Jahrzehnte in Haft, weil sie abgetrieben oder „einfach“
ihr Kind verloren haben. Die Verfassungskammer des Obersten Gerichts befand solche
Strafen kürzlich für lax, die Kirchen sind happy.) Auf die Leute achten – wer
das an diesem Sonntag auf der Plaza tat, bekam eine Seelenmasssage. Die Leute –
Zehntausende, nicht wie im März 200‘000, der Frente hatte einfach keine Mittel
mehr für Bustransporte aus dem ganzen Land und die Leute sowieso nicht – strömten Hoffnung, tiefe
Befriedigung, Freude aus. ES GEHT WEITER! Nicht die
überschwengliche Hoffnung, jetzt wird
alles auf einen Schlag besser – die Arbeitslosigkeit verschwindet, die zuerst
auf die Wahlen und dann auf das Datum der Amtsübergabe hin explodierende
tägliche Mordrate, die in der Woche seither wieder deutlich zurückgegangen ist,
sinkt auf Schweizer Verhältnisse. Die Leute sind keine naiven Kindchen, die
sich auf den Weihnachtsmann freuen. Hier waren die Menschen des FMLN, die
täglich für Veränderungen kämpfen, die ihre Partei dafür brauchen und wollen,
die wissen, was Sache ist, dass dieser Kampf noch lang und komplex ist. Die
aber auch wissen, was es in diesem Land bedeutet, dass jetzt einer der ihren
Präsident ist, dass sie hier ihren Sieg feiern und keine mörderischen Kugeln
pfeifen, dass es gelungen ist, in diesem Land der Angst, der neoliberalen
Demoralisierung, der Hetze der Medien und der Bischöfe, der existenziellen
Erpressung des Grosskapitals die Hälfte der Stimmen für das Projekt der
sozialen Veränderung zu bekommen. Eine Hälfte, die im Gegensatz zur anderen
nicht auf Erpressung basiert, auf Stimmenkauf, sondern auf Bewusstsein. Die
zeigt, dass die Schritte unter der ersten FMLN-Koalitionsregierung – die
sozialen Verbesserungen, die Wiederbelebung der Landwirtschaft, die
unvergleichlich sauberere Weise der Politik mit ihrem Vertrauen in die Leute - in
die richtige Richtung gegangen sind. Die Freude hängt mit dem Wissen zusammen,
dass sich dies in Zukunft beträchtlich verstärken kann.
Auf der Plaza am 1. Juni 2014 |
Gegen alle Widerstände
Es gibt eine zwangsläufige Tendenz in einem Regierungsapparat, sich den
„Sachzwängen“ von Ausbeutung und Entfremdung zu beugen. Tendenz, wohlgemerkt,
nicht fait accompli. Am Empfang am Abend dieses Sonntags hat Parteichef Medardo
González nicht von ungefähr und unter Beifall des neuen Präsidenten betont,
dass der Frente seine Regierung kontrollieren werde. Nicht, weil die Compas in
der Regierung nun einfach, wie die Schablone will, die neue Eliten darstellten,
sondern weil alle wissen, wie gross die Schwierigkeiten sind und wie dringend deshalb
eine Verankerung, Rückversicherung bei der Basis ist. Die Rechte –
Grossunternehmerverbände, Parteien, Medien, ihre Seilschaften in der Justiz
etc. – behalten sich vor, bald wieder auf die Karte der offenen Destabilisierung
zu setzen, die Regierung Sánchez Cerén daran zu hindern, etwas zu bewirken.
Links Parteichef Medardo González, rechts Präsident Slavador Sánchez Cerén |
Am Montag, dem 2. Juni, trat El Salvador der von Venezuela für die Karibik
und Zentralamerika gegründeten Organisation Petrocaribe bei. Zurzeit gibt das Land $ 1 Mrd. im Jahr für den
Ölimport aus. Mit Petrocaribe kann El Salvador diese Summe auf die Hälfte
reduzieren, da der halbe Preis erst in 25 Jahrten zu bezahlen ist. Von der so
gewonnenen halben Milliarde können $100 Mio. auf die Seite gelegt werden, mit
den Zinsen wird dereinst der Rest abbezahlt (auch Zahlungen in Natura wie etwa
Kaffee sind möglich). $ 400 Mio. können jährlich in soziale und produktive
Projekte investiert werden. Bolivarische Solidarität, die übliche Importmafia
schreit auf. ARENA protestiert gegen die neue „Schuld“. Würde diese heute weiter
(mit Anleihen auf dem Bondmarkt) beglichen, wäre alles in Butter. Aber so … könnte die FMLN-Regierung
„wirtschaften“! Es ist durchaus möglich, dass die unsägliche Verfassungskammer
des Obersten Gerichts (deren Chef an der offiziellen Amtseinsetzung
ausgepfiffen wurde) den Beitritt zu Petrocaribe als verfassungswidrig
annulliert.
Weitere Schwierigkeiten am Horizont: Der honduranische Wahlbetrugsgewinner
Juan Orlando Hernández, der seine Militärpolizei kürzlich im Parlament auf
protestierende Linksabgeordnete hetzte, weigerte sich, an die Amtseinsetzung
des Präsidenten seines Nachbarlandes zu kommen. Vorwand: Vor einigen Wochen kam
ein honduranischer Fischer in der Nähe der von beiden Ländern reklamierten und
von Honduras militärisch besetzten Isla del Tigre im Grenzgolf von Fonseca offenbar
durch eine Aktion der salvadorianischen Marine ums Leben. Statt auf die schon von
Funes offerierten Mechanismen zurückzugreifen – gemischte
Untersuchungskommission, Verhandlungen, allenfalls Anrufung des Haager Tribunals
– markiert Hernández den starken Mann. Ein Umstand, der bei Bedarf, im Fall
massiver militanter Destabilisierungsoperationen in El Salvador, als
internationale Komponente der Verschärfung dienen kann.
Noch gravierender die Frage des Saatguts. Vor zwei Jahren führte El Salvador
Übergangsbestimmungen ein, wonach die Regierung das Saatgut für
Grundnahrungsmittel direkt bei lokalen ProduzentInnen (BäuerInnen und
Agrokoops) kaufen und die mit dem Freihandelsvertrag CAFTA (USA/Zentralamerika)
kompatible spezifische Ausschreibungsprozedur umgehen konnte. Resultat: Bei
Mais und Bohnen existiert praktisch völlige Selbstversorgung beim Saatgut und bei
den (Rekord-) Ernten, beim Gemüse ist der Selbstversorgungsgrad von 15 % auf 30
% gestiegen. Das sorgt für grossen Ärger in Washington und beim bisherigen
Saatgutimportoligopol um Monsanto. Weshalb seit einigen Monaten die
US-Botschaft vermehrt mit Verweis auf CAFTA Druck aufsetzt. Dabei geht es auch um
ein in diesem Fall bei der Weltbank angesiedeltes sogenanntes
„Staats-/Investorschiedsgericht“, ein Instrument der transnationalen
Kapitaldiktatur, bei dessen Entstehen die Schweiz übrigens kräftig mitgewirkt
hat. Das kann für El Salvador gravierende ökonomische Konsequenzen haben. Der
Frente versucht, wie bei den Public
Private Partnerships, bei denen es ihm gelang, zentrale Bereiche wie die
Wasserversorgung trotz CAFTA dem Privatisierungszugriff zu entziehen, konziliant
aufzutreten, ohne dabei das Erreichte und die weiteren Ziele der
Ernährungssouveränität aufzugeben. Bei den diesjährigen Saatgutausschreibungen letzten
März konnten internationale Anbieter wieder teilnehmen, blieben jedoch grossenteils
wegen überhöhter Preise und schlechter Qualität aussen vor. Für die
US-Botschaft war das Verfahren nicht „offen“
genug.
Es gibt weitere Hindernisse. Die Keule des Weltbank-„Schiedsgerichts“
können die USA etwa bei Bedarf gegen das neue Medikamentengesetz schwingen,
dass die horrenden Preise im Land schon beträchtlich gesenkt hat, und
Zumutungen enthält wie jene, dass der Staat fürs Gesundheitswesen Generika aus
Kuba und Venezuela beziehen kann. Die Nachfrage nach Medikamenten hat sich mit der 2009 begonnenen Abdeckung der
ländlichen Armutsbevölkerung durch mobile Gesundheitsteams massiv gesteigert. Washington
und das ans transnationale Kapital angebundene Pharmaimportoligopol der
salvadorianischen Rechten haben z. B. noch die Rechnung offen, dass es dem
Gesundheitsministerium gelungen ist, wichtige Medikamente für chronisch Kranke,
die einige Multis, darunter Novartis, bei der neuen Preispolitik nicht mehr
lieferten, anderswo zu besorgen. (El Salvador hatte Untersuchungen zufolge das
weltweit höchste Preisniveau für Medikamente in absoluten Zahlen!)
Solche Elemente sind Erpressungsmaterial für den Imperialismus. Washington
verfolgt derzeit die Linie, die Regierung Sánchez Cerén auf die „sanfte Tour“
gefügig zu machen. Misslingt dies, können diese Elemente in eine dann von
Stapel gelassene interne Destabilisierungsstrategie integriert werden. Die
salvadorianische Rechte wartet nur auf das Plazet der Administration Obama,
„venezolanische Verhältnisse“ herbeizuführen. Das einzelne Element mit dem grössten
Erpressungspotential für Washington besteht eindeutig in der salvadorianischen
Massenmigration in die USA hinein. Bei einer Bevölkerung im Land von etwas über
6 Mio. gehen die Schätzungen von SalvadorianerInnen in den USA bis zu 3 Mio.
Viele davon ohne legalen Status. Für die Administration Obama, die die
Deportationsrate „Illegaler“ von Bush verdoppelt hat, wäre es ein Leichtes, die Polizei anzuweisen,
ihre Hetzjagden auf ArbeitsmigrantInnen ein wenig in jenen Gegenden zu
intensivieren, in den viele SalvadorianerInnen leben. Das würde schnell
zehntausende neuer Arbeitsloser im Land und fehlende Heimüberweisungen aus den
USA bedeuten.
Dies sind Momente der realen Bedingungen, unter denen der FMLN das kontinentale
Projekt der Befreiung in diesem Land voranbringen muss. Diesen Versuch gilt es
zu begreifen und zu unterstützen. Für abgehobene Schnellurteile steht man am
Morgen besser erst gar nicht auf.
Que viva el FMLN!