(zas, 27.10.14) Der Wahlsieg gestern des PT (Partido dos
Trabalhadores, Arbeiterpartei) und seiner Kandidatin Dilma Rousseff in der 2.
Runde der Präsidentschaftswahlen ist ohne Zweifel mit Erleichterung zur
Kenntnis zu nehmen. Etwas über 3 %, 3.4 Mio. der Stimmen, machten den
Unterschied aus. In den reicheren Regionen des Landes räumte Aécio Neves, der
Kandidat des Neoliberalismus, der Ausrichtung an Washington, der Sabotage an
lateinamerikanischen Vereinigungstendenzen ab, in den Armutszonen dagegen Dilma
Rousseff. Die Systemmedien erklären das als Ergebnis von geköderten Armen (die
nicht kapieren, dass ihnen nur eine transnationale Wirtschaftskur Wohlstand
bringt). Natürlich steckt hinter der Stimmabgabe ein Klassenkonflikt, und da es
gestern nichts Besseres gab als den PT, flossen ihm die Stimmen von unten zu.
Es waren nicht nur Organisationen wie faktisch die Landlosenbewegung MST, die
zur Stimmabgabe für Dilma aufgerufen hatten. Selbst Fraktionen der
trotzkistischen Partei PSOL (1.5 % der Stimmen in der ersten Runde) schlossen
sich angesichts der realen Gefahr eines Wahlsiegs von Neves‘ Partei PSDB diesem
Trend an.
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Siegesfeier vor der PT-Zentrale |
Neves hatte nicht nur die Unterstützung der mächtigen
evangelikalen Sekten, der Unternehmerverbände und der Medien, sondern auch der
reaktionärsten Seilschaften um die Armee – so des Club Militar, eines Zusammenschluss von ehemaligen Offizieren und
aktuellen Fans der Militärdiktatur (1964 – 1985). Neves steht real für sehr
gefährliche Kräfte, sein medial verbreitetes „gemässigt soziales“ Image ist
reine Wahlkosmetik. Zu seinen Wahl-„Versprechen“ gehören Schwerpunkte wie
„Wiederherstellung der Wettbewerbsfähigkeit“ Brasiliens, Vorzugsverträge mit
Washington und Brüssel, Rückentwicklung des Mercosur auf seine frühere
neoliberale Essenz, „Verteidigung der Pressefreiheit“, „Verbesserung“ des
öffentlichen Sektors dank Privatinvestitionen u. ä. Lateinamerika taucht unter
seinen Prioritäten nicht auf, dafür steht der Mann für eine Politik der „harten
Hand“ gegen Kriminalität oder Sozialunruhen.
Nicht nur für Brasilien, sondern für das ganze progressive Lateinamerika
hätte ein Sieg von Neves miserable
Folgen gehabt.
Der Wahlsieg von Dilma ist mit 3 % Vorsprung ziemlich knapp
ausgefallen. Er ruft damit eine in der letzten Zeit beobachtbare Tendenz auch
in anderen Regionen des Südkontinents in Erinnerung (der knappe Wahlsieg Maduros
in Venezuela, die Niederlage von Alianza País in Ecuador bei den Lokalwahlen,
die salvadorianische Zitterpartie letzten März u. a.; einzig in Bolivien haben
das MAS und Evo Morales kürzlich klare Siege davon getragen). In Brasilien dürfte
dies auch mit dem Fehlen einer linken, die Leute mobilisierenden Regierungspolitik
zusammenhängen. Unter Rousseff ist etwa die Agrarreform schon gar nicht mehr
vorangekommen, der PT hatte Gewerkschaftskämpfe auf reine Lohnfragen reduziert,
allfällige Kontaktaufnahmen von Rousseff mit der Basisprotestbewegung vom
letzten Jahr sind real ausgeblieben (entsprechende Vorstösse der Präsidentin
auf institutionellem Gebiet sind von den rechten Seilschaften im Parlament
systematisch abgeblockt worden). Vermutlich hängt die massiv auf über 21 %
gestiegene Wahlabstinenz damit zusammen.
Das Parlament gilt vorallem in der Abgeordnetenkammer als
soweit rechts wie keines seit Ende der Militärdiktatur. Der PT hat klar Anteile
verloren. Zur Veranschaulichung: In Saõ Paulo hat ein TV-Präsentator die
meisten Stimmen als Abgeordneter gemacht, der aggressiv gegen das Recht auf
Abtreibung und generell Rechte von
Minderheiten gegeifert hat. In Rio erzielte ein Ex-Militär das Spitzenresultat,
der die Diktatur verherrlicht und sagt, er ziehe einen toten einem schwulen
Sohn vor. Der PT hat zwar mit seinem „Bündnispartner“, der Rechtspartei PMDB,
in beiden Kammer die Mehrheit, doch ist er dieses Mal geschwächt und der
opportunistische PMDB gar noch gestärkt aus den Parlamentswahlen
hervorgegangen.
Beschränken sich Rousseff, Lula und der PT weiter auf
institutionelle Politikarrangements, dürfte ihr Niedergang, selbst vorausgesetzt,
die Rechte hält sich an rechtsstaatliche Gepflogenheiten, besiegelt sein. Ein
beträchtlicher Teil dieser „Arrangements“ liefert etwa den Nährstoff für die
vielen Korruptionsfälle, wenn etwa die „verbündeten“ Profiteure des PMDB Geld
und Posten fordern, um im Parlament die diversen Sozialprogramme der Regierung
nicht zu köpfen. Ein weiterer Teil ist die Korruption von relevanten
PT-Sektoren selber, bei einem dritten schliesslich werden reale oder oft auch
nur angebliche Korruptionsfälle in staatlichen Unternehmungen wie etwa dem
Ölunternehmen Petrobras benutzt, um diese unter Kontrolle des Privatkapitals zu
bringen (was als demokratische Kontrolle, Transparenz und dgl. verkauft wird).
(Dass „unsere“ Medien das extrem durchsichtige Manöver der rechten Zeitschrift
Veja, welche in ihrer letzten, um einen Tag vorverlegten Ausgabe just vor dem
2. Wahlgang Lula und Rousseff direkt mit Korruptionsvorfällen in Verbindung
bringt, als Orakel von Delphi behandeln, zeigt übrigens nur deren Korrumpierung
und Unterordnung unter das transnationale Kommando auf. Gleichzeitig gibt man
sich abgestossen von einer „Schmutzkampagne“, die faktisch stets beim PT angesiedelt wird.)
Im institutionellen Gefüge scheint es wenig Spielraum für
eine allenfalls linkere Politik des PT zu geben. Ob diese einst vibrierende
Unterklassenpartei heute überhaupt noch willens und fähig ist, adäquat auf die
Bewegungen vom letzten Jahr zu reagieren, indem sie eben „auf der Strasse“, in
der Gesellschaft, für radikalere Reformen mobilisieren, wird sich weisen. Viele
sehen das skeptisch. Nur so liesse sich dem reaktionären Trend real eine Alternativkraft
entgegensetzen. Andernfalls bedeutet der Sieg einen Zeitgewinn von höchsten
vier Jahren (Regierungsperiode) für das lateinamerikanistische Lager im
Kontinent und für die Menschen in Brasilien immerhin ein paar Jahre mehr etwas
sozialen Schutz als ohne, aber auch eine Phase der Zermürbung.
Letzten Sommer, unmittelbar vor der WM, brachte CNN en Español
jeden Tag Sendungen und Diskussionen über das harte Schicksal der
Favela-BewohnerInnen, wegen der Megaprojekte des PT (WM, Olympiade) ihre Heime
verlieren. Es war absurd. Da paradierten jene ExpertInnen, fast mit Tränen in
den Augen ob des Leids der Schwestern und Brüder in den Slums, denen ansonsten
jeder kleine Hinweis auf soziale Opfer ihrer Rezepte als lächerlicher oder
gefährlicher, auf jeden Fall marktverzerrender Unsinn gilt. Es war klar: Hier
wird internationale Wahlkampagne (mit Rückkoppelung auf Brasilien) betrieben.
Logischerweise verbreiteten die hiesigen Medien den gleichen Schmus. Man beruft
sich dabei auf die Revolten letzten Jahres, die mit der Forderung nach passe livre – Gratis-ÖV – in Saõ Paulo
begann und relativ bald von reaktionären Kräften vereinnahmt wurde. Es ist
immer wieder das gleiche Manipulationsmuster: Ist eine Bewegung, Revolte zu
stark und zu offensichtlich legitim, als dass sie einfach bekämpft oder
totgeschwiegen werden könnte, wird sie in ihr perverses Gegenteil verkehrt: So
betonten hieisige Medien bei der grossen Revolte 2001 in Argentinien, dass die
Menschen zusammen mit dem IWF die „Unfähigkeit“ der (von den gleichen Medien
vorher angehimmelten) Regierung bekämpften. Als die Sicherheitskräfte des
NATO-Landes Türkei Mitte Oktober 40 der KurdInnen umlegten, die gegen die aktive
aktive Komplizenschaft Ankaras mit der Offensive des IS gegen Kobanê protestierten,
hiess es, die Revolte kritisiere die zu
grosse Passivität der Erdogan-Regierung. In Brasilien werden Bewegungen von
unten, die sich wohl wegen mangelnder Organisation nicht erfolgreich gegen
reaktionäre Vereinnahmung wehren konnten, als Bestätigung der eigenen
Sichtweise missbraucht.
Nun, Dilma und der PT haben gewonnen. Aus den vom Neves-Lager
angekündigten Offensiven gegen Bolivien (Kredite nur bei Wohlverhalten), Kuba (
Stopp der Infrastrukturinvestitionen), den Mercosur, Venezuela etc. wird erst
mal nichts. Das ist schon viel. Und es bleibt die kleine Hoffnung, dass der
Rückgriff in der Kampagne auf Dilma, die Guerrillera gegen den Horror der
Militärdiktatur – unter dem Motto coraçao valente, tapferes Herz – nicht einzig
der Werbetechnik zu verdanken ist.