Nicaragua: Rinden homenaje

Sonntag, 31. Juli 2016

http://www.vivanicaragua.com.ni/2016/07/29/sociales/rinden-homenaje-a-heroes-internacionalistas-en-matagalpa/

 Die Schweizer Solibrigade an der Erinnerungsfeier für die gefallenen Compas.

Korrektur zu El Salvador: Perversion des Menschenrechtsdiskurses

Samstag, 30. Juli 2016

In

El Salvador: Perversion des Menschenrechtsdiskurses

war die Rede von 22'000 Fällen von Kriegsverbrechen, die die UNO-Wahrheitskommission untersucht hatte. Es waren 2'000 Fälle.  Sorry.

„Mit Beissen versuchten die Frauen zu überleben“

Freitag, 29. Juli 2016



(zas, 29.7.16) Da und dort eine kleine Meldung. ÄrztInnen ohne Grenzen (MsF) haben am 20. Juli 2016 im Mittelmeer in Seenot geratene MigrantInnen retten können und die Leichen von 22 weiteren Menschen, 21 von ihnen Frauen, geborgen.
Il Manifesto hat am 23. Juli einen Artikel mit Zeugnissen von Überlebenden und MSF-Mitgliedern  dazu veröffentlicht: «A morsi le donne cercavano di vivere». Es sind erschütternde Berichte.
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„Mit Beissen versuchten die Frauen zu überleben“
Von Rachele Gonnelli

„Der Boden des Schlauchboots brach unter dem Gewicht der Personen entzwei, und Wasser begann einzudringen. Als das Wasser bis zu den Knien reichte, gerieten die Mädchen, die in der Mitte sassen, in Panik. Sie heulten und schrieen. Einige von ihnen haben versucht aufzustehen, aber sie sind nach hinten in die Pfütze aus Wasser und Benzin ausgerutscht. Einige bissen die Männer, denn sie sie sassen unten in der Falle.“
Die Mittelmeerüberfahrt begann für David im nächtlichen Libyen.

„Ich ging vor drei Nächten an Bord des Schlauchboots. Es war eine schreckliche Nacht; einige Männer feuerten Schüsse in die Luft, sie haben die Personen versammelt und Richtung Meer getrieben. Sie haben Zuviel Personen auf unser Boot geladen.“

Er erinnert sich der Momente der Tragödie, der absoluten Panik, als das Boot nach Tagen der Fahrt im offenen Meer entzwei riss.

„Alle im Boot bewegten sich erregt. Sie konnten nirgends hin, aber wenn sie ihre Position änderten, versuchten, nicht auszurutschen, nicht in der Falle der Pfütze von Benzin und Wasser zu bleiben, aber wie sie sich von einer Seite zur anderen bewegten, kam immer mehr Wasser hinein. Wir fingen an, das Wasser auszuleeren, das Boot war voll Wasser.“

Dann kam die Hilfe:

„Als das italienische Schiff kam, wurden zuerst alle noch lebenden Frauen weggetragen. Ein Mädchen, das unter den Leichen lag, lebte noch.“ „Ich lebe noch und danke Gott dafür. An Bord des Bootes zu gehen, ist wirklich gefährlich. Das ist die Wahrheit. Ich rate niemandem dazu. Ich kann nicht vergessen, was ich mit meinen Augen gesehen habe.“
Quelle: Il Manifesto

Mary, vergewaltigt in Libyen
Das Zeugnis von Mary, 24 Jahre alt, sie Nigerianerin, auch sie an Bord des brechenden Boots, zusammen mit ihrem Mann, ist sogar noch härter.

„Während der Überfahrt drang Wasser ein. Ich war am Ertrinken, ich kämpfte ums Überleben. Statt mir zu helfen, traten mich die Personen und benutzten mich, um zu versuchen, sich über Wasser zu halten. Eine Schwangere bat um Hilfe, einige Personen waren schon tot. Ich bat weiter um Hilfe, aber niemand half mir. Ich atmete nicht, ich musste beissen, um atmen zu können. Ich sagte Gott, dass ich nicht sterben wollte. Dann reif jemand: ‚Deine Frau ruft dich‘, und mein Mann hat meine Hand genommen und mich gezogen, damit ich atmen könne. Die Leute gingen über mich. Einige bissen meinen Mann, sein Körper war voller Bisse. Mit aller Kraft, die er noch hatte, hat er mich genommen und über den Rand des Schlauchboots gedrückt. So kam das Wasser zu meinem Mund raus. Als wir einen Helikopter sahen, haben wir versucht, um Hilfe zu winken. Ich dachte, dass auch die libysche Polizei kommen könnte. Ich wäre lieber in jenes Gefängnis zurückgegangen als im Meer zu sterben. Gott hat mir eine zweite Chance gegeben.“

„Auf unserem Rettungsschiff habe ich einen Mann gesehen, der mir nicht geholfen hat. Er sagte, es sei nicht seine Schuld gewesen, er habe selber um sein Leben gekämpft. „

Mary hatte zwei Monate in Libyen verbracht. Sie war dort im Gefängnis und berichtet, dass sie von den Wärtern vergewaltigt worden ist.

„Ich kann das nicht abstreiten. Sie haben die Pistolen, sie schreien, reden in ihrer Sprache. Ich hoffte, sie würden mich nicht beachten, dass sie mich als erwachsene Frau sähen. Sie suchten junge, attraktive Mädchen. Sie langen dir an den Busen, machen, was sie wollen, sie schlagen dich wie ein Tier. Jeden Tag weinten Personen, fielen in Ohnmacht. Wenn du um Hilfe batest, lachten sie dir ins Gesicht. Hin und wieder öffneten sie das Gefängnis und sagten dir, du solltest abhauen, aber dann fingen sie dich ein und brachten dich wieder zurück. Dies ist mein Zeugnis; ich will es benutzen, um den Personen zu sagen, wie gross Gott ist.“

Das Schweigen der Überlebenden
Die Ärztin Erna Rijnierse leitet das medizinische Team von MsF an Bord der Aquarius. Sie berichtet:

„Als wir ankamen, ist uns sofort das Schweigen aufgefallen. Normalerweise werfen die Personen die Arme in die Luft, schreien, wenn du zu einem Boot gelangst. Dieses Mal lief alles still ab. Ich bat um die Erlaubnis, das Boot zu betreten. Das Wasser reichte mir an die Wade. Es gab einen äusserst penetranten Geruch von Benzin, gemischt mit Urin und anderem. Es war schwierig, nicht auf den Leichen herumzutreten, aber ich wollte absolute Gewissheit, dass die Frauen jenseits jeder Möglichkeit der Wiederbelebung wären. Einige hatten schon die Leichenstarre. Es war klar, dass sie nicht eben in den letzten Minuten gestorben waren. Und ich konnte an ihren Augen ersehen, dass sie ums Überleben gekämpft hatten. Vom medizinischen Standpunkt aus gab es nichts mehr zu machen. Deshalb bin ich auf unser Boot zurückgekehrt, um nach den Überlebenden zu schauen. Viele hatten Augenverbrennungen wegen des Treibstoffs oder des Gas. Andere hatten Kratzer oder Bisse an den Beinen, auf dem Rücken oder an den Armen. Beigefügt vermutlich von den auf den Boden geworfenen Mädchen, als diese sich retten wollten. Es muss die Hölle gewesen sein.“

Die Ärztin fügt weiter an:

„Die Überlebenden sind traumatisiert, sie schauen ins Leere, verlorene Blicke. Sie erkennen nicht einmal mehr ihre Nächsten wieder. Was ich wirklich nicht ertragen kann, ist, dass diese Mädchen eines schrecklichen Todes gestorben sind allein deswegen, weil sie keine andere Möglichkeit hatten, nach Europa zu kommen. Ich bin aufgebracht. Ich bin wütig wegen der Politik, die diese Personen fern hält, die für sie nichts zählen. Diese Mädchen hätten ein Flugticket kaufen und eine bequeme und sichere Reise machen können. Und sie hätten weniger als die Hälfte dessen bezahlt, was sie für diese verdammte Überfahr hinlegten. Gleichzeitig bin ich extrem traurig, denn diese Personen haben kein Verbrechen begangen. Sie waren nicht krank. Es waren normale Personen mit dem ganzen Leben vor sich.“
Quelle: Il Manifesto


Freddy Schippers, MsF-Koordinator auf der Aquarius, berichtet seinerseits:

„Die Leute, die an Bord kamen, blickten ins Leere, sie schauten auf einen fernen Punkt. Die meisten antworteten nicht einmal, wenn wir sie fragten, welche Sprache sie sprächen. Wir haben ihnen eine Tasche gegeben mit einer Decke, Nährungsbiscuits, Wasser, das sie in einem Zug tranken, Strümpfe und einem Handtuch. Ein Mann hat mir auf französisch gesagt: ‚Meine Frau ist tot und sie ist noch auf dem Boot. Ich weiss nicht, was tun….‘“

Die letzte Phase der Operation bestand in der Bergung der leblosen Körper, erklärt der Koordinator:

„Drei Männer sind an Bord des Schlauchboots gegangen, mit einer Bahre und einem Flaschenzug. Egal, wieviel Leichen wir hinüber luden, das Schlauchboot schien sich nie zu leeren. Ich war wütend und voller Trauer für diese unglücklichen Personen, die so viel gelitten hatten. Sie haben kein Delikt begangen ausser jenem, in Europa ein besseres Leben zu suchen.“

 Der Tod wird deine Augen haben
Ablaygalo Diallo ist der Kulturmediator im MsF-Team. Der sich an der psychologischen Ersthilfe beteiligt hatte, als das Schiff in Trapano anlegte. Er hat unter anderem den nigerianischen Mann betreut, der seine Frau sterben sah:

„Ich blieb lange an seiner Seite, im Innern des MsF-Zelts, wo wir den Verletzbarsten eine Privatsphäre und ein Sicherheitsgefühl garantieren. Er hat mir erzählt, wie sie gemeinsam aus Nigeria geflüchtet sind und die Wüste durchquert haben. Die schwangere Frau hat während der Reise ihr Kind verloren. Trotz der enormen Schwierigkeiten ist es ihnen gelungen, gemeinsam zu fliehen und für die extrem gefährliche Überfahrt an Bord zu gehen. Das überladene Boot gab unter dem Druck der mehr als hundert Personen nach; es entstand ein Leck. Die Frauen, die in der Mitte waren, sind erstickt und ertrunken, hat er mir weinend erzählt. Er hat seine Frau nicht mehr gesehen und sah erst auf der Aquarius, dass sie unter den Leichen war. Er erkannte sie an ihrem T-Shirt.“

Diallo gelang es, ihn zum Weinen zu bringen und ihn zu beruhigen. Er überzeugte ihn, seine Familie zuhause anzurufen, „um der Mutter zu sagen, dass er noch lebt“:

„Als er nach Monaten die Stimme seiner Mutter hörte, sah ich ein Lächeln auf seinem Gesicht.“ „Es fiel mir schwer, ihm seine Zukunft zu erklären, jetzt, wo er hier angekommen ist.“

El Salvador: Perversion des Menschenrechtsdiskurses

Donnerstag, 21. Juli 2016



(zas, 21.7.16) Am vergangenen 13. Juli erklärte die Verfassungskammer des Obersten Gerichts das Amnestiegesetz von März 1993 für verfassungswidrig. Dieses Gesetz war im März 1993 verabschiedet worden, fünf Tage nach Veröffentlichung des Berichts der UNO-Wahrheitskommission über die Kriegsverbrechen während des Bürgerkriegs von 1980-92. Die Ex-Guerilla des FMLN hatte leidenschaftlich, aber vergeblich gegen diesen Bruch der Friedensabkommen von 1992 protestiert. Denn das Gesetz erklärte nicht nur alle Verbrechen gegen die Menschheit für straffrei, sondern machte auch die friedensvertraglich als verbindlich festgelegten „Empfehlungen“ der Wahrheitskommission zur Ahndung und Wiedergutmachung der grauenhaften Ereignisse gegenstandslos.
Ovidio Mauricio González leitet die ehemalige Menschenrechtsgruppe Tutela Legal, die der Erzbischof mit Segen der Verfassungskammer schliessen liess, um die während des Kriegs gesammelten Zeugnisse von Repressionsopfern über die Gräueltaten des Regimes unter Verschluss zu halten (s. El Salvador/Washington: Gestohlene Archive). Er erkennt in der neuen Lage „eine Chance für Gerechtigkeit und Aussöhnung“. 2'000 Fälle habe die Wahrheitskommission dokumentiert, doch Gerechtigkeit für die Opfer sei am Amnestiegesetz gescheitert. Jetzt müsse die Justiz endlich Fälle wie die Armeemassaker von El Mozote oder vom Río Sumpul (schätzungsweise 1000 resp. 600 ermordete ZivilistInnen) angehen.
Noch 2007 forderte der damalige Fraktionschef des FMLN und heutige Staatspräsident, Salvador Sánchez Cerén, das Parlament vergeblich dazu auf, das berüchtigte Amnestiegesetz aufzuheben. Doch zwei Tage nach dem Kammerurteil, das scheinbar eben diese Forderung erfüllte, schrieb der FMLN:
„Die Magistraten erweisen sich als politische Operateure mächtiger Wirtschaftssektoren, die nie akzeptiert haben, dass sie seit 2009 die Kontrolle über die Exekutive und das Parlament verloren haben. Wir prangern die destabilisierende Absicht einer Gruppe von Richtern an, sich zu einer parallelen Regierung entwickeln zu wollen, einer Regierung der Richter, die sich verfassungswidrig über den Rest der Staatsgewalten erheben will. (… ) Wir anerkennen wie stets in der Vergangenheit das Recht der Opfer auf Wahrheit, Gerechtigkeit und Wiedergutmachung als Weg zur Aussöhnung, wie er sich in den Abkommen von 1992 niederschlägt“.
Die Verfassungskammer.

Die Mechanik der Manipulation
Werfen wir einen Blick auf das Urteil, um die Erklärungen zu situieren. Die Verfassungskammer hält in ihrem Entscheid fest, dass  das Amnestiegesetz nach internationalem Recht (Zusatzprotokoll zu den Genfer Konventionen u. a.) nicht amnestierbare Verbrechen gegen die Menschheit und Kriegsverbrechen verfassungswidrig jeglicher Strafverfolgung entzogen hat. Dem ist natürlich so. Es liegt anderswo.
Die Magistraten schreiben den Bericht der UNO-Wahrheitskommission von 1993 radikal um. Das geht so: „In jedem einzelnen im Bericht der Wahrheitskommission festgehaltenen Fall ist ein gemeinsamer Nenner wahrzunehmen: die Existenz diverser Strukturen von militärischem, paramilitärischem oder aufständischem Charakter, die – ausserhalb der Rechtsordnung – schwere Verletzungen“ der Menschenrechte begangen haben (S. 28). Auf diesen „poderes de mando“ (Strukturen mit Kommandohierarchie) insistiert die Kammer durchgängig. In der Nacht sind alle Katzen grau. Über diese abstrakte operative konstruiert sie eine inhaltliche Gleichstellung von Armee und Guerilla. Die Wahrheitskommission ortete 5 % der Kriegsmenschenrechtsverletzungen der Guerilla zu und 85 % dem Regime. Diesen quantitativ-qualitativen Unterschied nivelliert die Kammer ohne materielle Begründung.
Grafische Darstellung der Statistik der Wahrheitskommission der Morde nach den verantwortlichen Kräften. Quelle: Twitter-Page.

Weiter urteilt sie, dass auch nicht-staatliche Akteure die Verfassung verletzen können – „als wären sie Behörden im formalen Sinn“ –wenn sie über Kommandostrukturen verfügen (S. 23). Wiederholt betonen die Magistraten die Bestrafbarkeit von Verbrechen, die nicht im Bericht der Wahrheitskommission aufgetaucht seien – Verbrechen „gleicher oder grösserer Schwere und Bedeutung“ als die im Bericht dokumentierten (S. 40). Aus spezifischen Gründen fehlt ein Verbrechen des FMLN im Bericht (s. Kasten), doch ansonsten ist er massgebend, wie in den Friedensabkommen festgelegt. Denn die UNO-Kommission hatte unvergleichlichen Zugang zu Archiven und Quellen beider Seiten, ominöse „neue“ Fälle erhalten jetzt jedoch per Spruch der Verfassungskammer das gleiche Gewicht.
Um den Justizapparat unter einer angeblichen Flut möglicher Verfahren nicht zusammenbrechen zu lassen, weiss die Kammer ein ominöses Mittel:  eine Prioritätenliste (S. 39) von zu ahnenden Fällen. Mehr dazu – wer erstellt diese? nach welchen Kriterien? – lässt sie sich in diesem Urteil nicht entlocken.
Es gibt weitere, beunruhigende Elemente in diesem Urteil. Auf S. 34 lesen wir: „Die neue Situation aufgrund dieses Verfassungsurteils unterstreicht die Notwendigkeit eines echten demokratischen Übergangs zum Frieden [und der Respektierung…] der Garantie der Nichtwiederholung von Verbrechen gegen die Menschheit und von Kriegsverbrechen.“ Mehrmals thematisiert die Kammer, dass mit ihrem Spruch die Pforten für eine „Transitionsjustiz“ geöffnet werden. 24 Jahre nach den Friedensabkommen – und unter einer FMLN-Regierung! Es passt zum  Diskurs rechter Thinktanks über ein neues „Friedensabkommen“, einen neuen „Gesellschaftsvertrag“ zwecks Absicherung des neoliberalen Modells, das schrittweise von der FMLN-Regierung durchbrochen wird.


Zur Situierung des „Triumphs der Menschenrechte“ ist weiter zu beachten: Die damaligen Militärführungen haben mit den Jahren politisch massiv an Bedeutung verloren. Der FMLN dagegen ist an der Regierung. René Hernández Valiente, Mitglied der Verfassungskammer von 1994-97 und rechter Hardliner, gehört zum engen Umfeld der heutigen Verfassungskammer. Er freute sich in BBC Mundo: Das Kammerurteil „wird unsere Gesellschaft durcheinander wirbeln (…). Es gibt Anschuldigungen gegen Mitglieder der aktuellen Regierung; sie werden definitiv betroffen sein“. Im Visier vorallem Staatspräsident Salvador Sánchez Cerén. Dieses Urteil reiht sich zusammen mit anderen (s. u. und Die Rolle der Verfassungskammer) in die Bestrebungen der Kammer ein, die FMLN-Regierung zu destabilisieren. Dafür werden sogar Opfer auf Seiten der traditionellen Rechten in Kauf genommen. Nicht zufällig heult die rechte ARENA-Partei auf: Mit der Aufhebung der Amnestie drohe ein Wiederaufflammen des Kriegs. Der Parteibonze, Oligarch und frühere Staatspräsident (während der Friedensverhandlungen), Alfredo Cristiani, ist eindeutig in die Jesuitenmorde während der Guerillaoffensive von 1989 verwickelt und deshalb potenziell gefährdet.
Der renommierte Menschenrechtsanwalt David Morales leitet die staatliche, aber regierungsunabhängige Menschenrechtsprokuratur. Er begrüsst die Abschaffung des Amnestiegesetzes als „Errungenschaft“ der Opfer der Menschenrechtsverletzungen, für die sie 20 Jahr gekämpft haben. Und kündet die Schaffung eines Mechanismus seiner Prokuratur an, dessen „Ziel ist, (….) mögliche opportunistische, politisch motivierte Anschuldigungen zu verhindern. Ich will nur, dass der Schmerz der Opfer (…) nicht instrumentalisiert wird, dass nicht andere Akteure ihre Gegner aus politischen Gründen mit unbegründeten Anschuldigungen, auf der Basis mangelnder Information, angreifen.“ In weniger diplomatischen Worten formulierte das die Parlamentspräsidentin Lorena Peña auf ihrer Facebookseite mit dem Satz, das Urteil „trägt nichts zur Wiedergutmachung für die Opfer bei, es missbraucht sie.“
Wie Präsident Sánchez Cerén begrüsst Regierungssprecher Eugenio Chicas die Aufhebung des Straflosigkeitsgesetzes, gibt aber zu bedenken, dass die bisherige „Passivität“ der Justiz nicht allein dem Amnestiegesetz zu danken sei: „Es gibt mehr als 900 Dossiers im Obersten Gericht, die [mutmasslich korrupte] Operateure der Justiz betreffen, die nicht behandelt werden. Dies schafft Strafffreiheit.“ Für die Dossierbehandlung ist letztlich die Verfassungskammer zuständig. 2002 hatte zudem die damalige Verfassungskammer das Amnestiegesetz für die Zeit des ARENA-Regierungsantritts vom 1. Juni 1989 bis Kriegsende aufgehoben, da sich eine Regierung nicht selber amnestieren könne. Mehrere Massaker, so auch die Jesuitenmorde, hätten von der Generalstaatsanwaltschaft untersucht und von den Gerichten geahndet werden müssen, notfalls mit Eingreifen der Verfassungskammer. Geschehen ist nichts.
Einige Sektoren wollten die Aufhebung des Amnestiegesetzes für das Anfachen von Widersprüchen zwischen der Regierung und der Armee missbrauchen. Doch „die jetzigen Streitkräfte“, so Chicas, „haben nichts mit jener Institution zu tun, die während des bewaffneten Konflikts die Verbrechen beging. Sie haben neue Chefs.“ „Die Streitkräfte tanzen nicht mehr automatisch nach der Pfeife Washingtons“, versicherte kürzlich ein hoher FMLN-Kader im Gespräch. Wenn es jetzt gelänge, via den vorhandenen Korpsgeist Emotionen zur Verteidigung von möglichen Angeschuldigten zu schüren, die im Krieg verbrecherische, aber untergeordnete Rollen hatten, wäre dies ein willkommenes Moment, um die Frente-Regierung weiter zu schwächen. (2014 hatte der geschlagene ARENA-Präsidentschaftskandidat die Armee zum Einschreiten aufgerufen.)
Auch in der neuen Konstellation bleiben zwei Hauptkräfte bei den Menschenrechtsverbrechen während des Kriegs unerwähnt: die USA und die Oligarchie. Die damaligen Grossgrundbesitzer, die heutigen Handels- und Finanzbarone, finanzierten etwa weite Bereiche der militärischen Todesstrukturen. Die USA hatten in der Gesamtkriegsführung die Leitung übernommen, ohne „Details“ wie die Ausbildung von Folterspezialisten zu vernachlässigen.


Die Erpressung
Am gleichen Tag, an dem die Kammer ihr Amnestieverdikt bekannt gab, verschärfte sie die finanzielle Strangulierung der Regierung weiter, u. a. mit dem Verbot eines parlamentarisch abgesegneten Kredits von $ 900 Mio. Die Regierung hat jetzt akute Finanzprobleme, als Resultat der Blockadenpolitik der Rechten im Parlament, und, wenn diese nicht greift, des Eingreifens der Verfassungskammer, die Verfassungswidrigkeit von moderaten Steuerreformen oder Massnahmen gegen Steuerbetrug oder, wie an diesem Tag, auch einen 13-prozentigen Zuschlag auf die (billigen) Strompreise für die 30% der grössten StrombezügerInnen verkündet, ein Zuschlag für die Finanzierung alternativer Energiequellen und der Stromsubventionen der restlichen 70 % der Bevölkerung. Als Resultat scheint die Regierung ab September oder Oktober schlicht nicht mehr ihren Zahlungsverpflichtungen (von den Löhnen bis zu den Auslandsschulden) nachkommen zu können. Für ihre nötige parlamentarische Zustimmung zu neuen Krediten (und dem Stillhalten der Kammer) will die Rechte einen „Sparkurs“ unter der Ägide des IWF durchsetzen. „Pragmatische“ Kräfte im Kabinett sehen dazu offenbar keine Alternative.

Mit einem Federstrich…
Als vierten Entscheid am 13. Juli verkündete die Kammer, dass alle ErsatzparlamentarierInnen ab sofort keine mehr seien. Diese werden seit Jahrzehnten nicht individuell gewählt, sondern eben als auf den Wahlzetteln nicht einzeln aufgeführten Ersatz, als „suplentes“ der normalen Abgeordneten. Bei den Parlamentswahlen 2018 müssten diese „suplentes“ auf den Wahlbögen einzeln mit Namen und Foto angekreuzt werden. Nun tagt das salvadorianische Parlament in der Regel ein Mal die Woche im Plenum, viele Abgeordnete sitzen zudem in mehreren Kommissionen, die an anderen Tagen arbeiten. Es ist somit absehbar, dass bis 2018 der Parlamentsbetrieb massiv gestört sein kann. Die Kammer hatte mit neun früheren Entscheiden massiv in die Parlamentswahlen letztes Jahr eingegriffen, sich aber nie an den „suplentes“ aufgehalten. Ihr jetziges Verdikt reiht sich in ihren Kampf gegen das Parlament ein, seit dieses nicht mehr rechts dominiert ist. Parlamentspräsidentin Lorena Peña versicherte: „Wir können nicht den Kopf einziehen, wenn sie sich dafür entscheiden, die Verfassung zu verletzen und einen Wahlprozess, der nach ihren Regeln erfolgt ist, abzuerkennen. Als FMLN akzeptieren wir keine technischen Putsche, die mit „suplentes“ beginnen und dann in komplizierteren Lagen für das Land enden. [Die Magistraten] spielen damit herum, Wahlen mit einem Federstrich verschwinden zu lassen“.
Die durch das Urteilspaket vom 13. Juli ausgelöste Unruhe kommt in einem Moment, in dem es der Regierung und dem FMLN gelungen ist, im Kampf gegen die brutale Gewalt im Land klare Fortschritte zu erzielen. Das Klima im Land beginnt sich zu ändern, die Leute schöpfen wieder etwas Hoffnung. Die Kammer tut das ihre, um diese Dynamik abzuwürgen.
Ein Letztes: Gerechtigkeit heute für die Opfer im Krieg bedeutet immer weniger, dass oft schon alte und kranke Täter den Rest ihres Lebens im Gefängnis verbringen müssen. Immer mehr rückt dagegen das Sehnen der Opfer nach Wahrheit über die „Nacht- und Nebel“-Aktionen des Regimes als Teil einer „Wiedergutmachung“ ins Zentrum. Der FMLN-Chef Medardo González sagte zum Thema Amnestiegesetz: „Wir waren immer an der Seite der Opfer. Wir haben die Verfassungswidrigkeit [des Gesetzes] vertreten, weil wir Gerechtigkeit wollten.“ „Aussöhnung und Frieden“ setzten einen Prozess der Wiedergutmachung für die Opfer voraus, dieser beruhe seinerseits auf der Wahrheitsfindung. „Der FMLN will eine Gerechtigkeit der Wiedergutmachung, nicht der Strafverfolgung.“

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Das Massaker der FPL
1990 kam es in der « parazentralen » Front der FPL, einer der damaligen Mitgliedsorganisationen des FMLN, im Department San Vicente, zu einer realen oder angeblichen Aufdeckung eines Rings von Armeeinfiltranten, die hingerichtet wurden. Die Sache weitete sich aus, es kam zu weiteren Hinrichtungen an immer mehr „Spitzeln“. Die Angaben gehen von hundert Ermordeten bis zu tausend (massiv übertrieben; das hätte wohl die Auslöschung der ganzen Front impliziert). Die Oberleitung der FPL, deren Chef der heutige Staatspräsident war, griff erst ein, als ihr das Ausmass klar wurde. Ihre entsandte Vertretung kam zum Schluss: Massenmord an den eigenen Leuten. Der verantwortliche Comandante wurde standrechtlich erschossen. Ob der Hauptverantwortliche paranoid war oder während einer früheren Gefangenschaft „umgedreht“ wurde, scheint offen zu sein, beantwortet aber nicht die Frage, wie diese militaristische Pervertierung wirksam werden konnte.
Dies ist das einzige Verbrechen der Guerilla, das in gewissen Aspekten einem der systematischen des Regimes gleicht. Nur, dass hier die Täter gestoppt und bestraft wurden, nicht befördert. Die von der Armee informierte Wahrheitskommission versuchte vergeblich, Zeugenaussagen von Opferangehörigen zu bekommen. Doch trotz Schmerz und Verbitterung verweigerten sich diese der Parteinahme gegen den FMLN.
Sánchez Cerén hat sich später im Namen der FPL öffentlich für das Verbrechen entschuldigt. Die Verfassungskammer scheint mit ihrer Urteilserläuterung und Betonung der „poderes de mando“, der Strukturen mit Befehlshierarchie, mit dem Gedanken zu spielen, den Präsidenten als Kriegsverbrecher hinzustellen. Das ist Dynamit. Die Guerillas sind heute ergraut. Aber ihre Spur des Widerstandes lebt. Im Gespräch sagten viele: „Wir sind nicht wie der [brasilianische] PT. Wenn wir die Wahlen verlieren, bueno, aber wir bleiben nicht passiv beim technischen Putsch.“ 
Am Rande einer Protestkundgebung des FMLN gegen den weissen Putsch am 17. Juli 2016.