(zas, 21.7.16) Am vergangenen 13. Juli erklärte die
Verfassungskammer des Obersten Gerichts das Amnestiegesetz von März 1993 für
verfassungswidrig. Dieses Gesetz war im März 1993 verabschiedet worden, fünf
Tage nach Veröffentlichung des Berichts
der UNO-Wahrheitskommission über die Kriegsverbrechen während des Bürgerkriegs
von 1980-92. Die Ex-Guerilla des FMLN hatte leidenschaftlich, aber vergeblich
gegen diesen Bruch der Friedensabkommen von 1992 protestiert. Denn das Gesetz erklärte
nicht nur alle Verbrechen gegen die Menschheit für straffrei, sondern machte
auch die friedensvertraglich als verbindlich festgelegten „Empfehlungen“ der
Wahrheitskommission zur Ahndung und Wiedergutmachung der grauenhaften
Ereignisse gegenstandslos.
Ovidio Mauricio González leitet die ehemalige
Menschenrechtsgruppe Tutela Legal, die der Erzbischof mit Segen der
Verfassungskammer schliessen liess, um die während des Kriegs gesammelten Zeugnisse
von Repressionsopfern über die Gräueltaten des Regimes unter Verschluss zu
halten (s. El
Salvador/Washington: Gestohlene Archive). Er erkennt
in der neuen Lage „eine Chance für
Gerechtigkeit und Aussöhnung“. 2'000 Fälle habe die Wahrheitskommission
dokumentiert, doch Gerechtigkeit für die Opfer sei am Amnestiegesetz
gescheitert. Jetzt müsse die Justiz endlich Fälle wie die Armeemassaker von El
Mozote oder vom Río Sumpul (schätzungsweise 1000 resp. 600 ermordete
ZivilistInnen) angehen.
Noch 2007 forderte der damalige Fraktionschef des FMLN und
heutige Staatspräsident, Salvador Sánchez Cerén, das Parlament vergeblich dazu
auf, das berüchtigte Amnestiegesetz aufzuheben. Doch zwei Tage nach dem
Kammerurteil, das scheinbar eben diese Forderung erfüllte, schrieb
der FMLN:
„Die Magistraten
erweisen sich als politische Operateure mächtiger Wirtschaftssektoren, die nie
akzeptiert haben, dass sie seit 2009 die Kontrolle über die Exekutive und das
Parlament verloren haben. Wir prangern die destabilisierende Absicht einer
Gruppe von Richtern an, sich zu einer parallelen Regierung entwickeln zu
wollen, einer Regierung der Richter, die sich verfassungswidrig über den Rest
der Staatsgewalten erheben will. (… ) Wir anerkennen wie stets in der
Vergangenheit das Recht der Opfer auf Wahrheit, Gerechtigkeit und
Wiedergutmachung als Weg zur Aussöhnung, wie er sich in den Abkommen von 1992
niederschlägt“.
Die Verfassungskammer. |
Die Mechanik der
Manipulation
Werfen wir einen Blick auf das Urteil, um die Erklärungen zu
situieren. Die Verfassungskammer hält in ihrem Entscheid
fest, dass das Amnestiegesetz nach internationalem
Recht (Zusatzprotokoll zu den Genfer Konventionen u. a.) nicht amnestierbare
Verbrechen gegen die Menschheit und Kriegsverbrechen verfassungswidrig
jeglicher Strafverfolgung entzogen hat. Dem ist natürlich so. Es liegt
anderswo.
Die Magistraten schreiben den Bericht der
UNO-Wahrheitskommission von 1993 radikal um. Das geht so: „In jedem einzelnen im Bericht der Wahrheitskommission festgehaltenen
Fall ist ein gemeinsamer Nenner wahrzunehmen: die Existenz diverser Strukturen
von militärischem, paramilitärischem oder aufständischem Charakter, die –
ausserhalb der Rechtsordnung – schwere Verletzungen“ der Menschenrechte begangen
haben (S. 28). Auf diesen „poderes de
mando“ (Strukturen mit Kommandohierarchie) insistiert die Kammer
durchgängig. In der Nacht sind alle Katzen grau. Über diese abstrakte operative
konstruiert sie eine inhaltliche Gleichstellung von Armee und Guerilla. Die
Wahrheitskommission ortete 5 % der Kriegsmenschenrechtsverletzungen der
Guerilla zu und 85 % dem Regime. Diesen quantitativ-qualitativen Unterschied nivelliert
die Kammer ohne materielle Begründung.
Grafische Darstellung der Statistik der Wahrheitskommission der Morde nach den verantwortlichen Kräften. Quelle: Twitter-Page. |
Weiter urteilt sie, dass auch nicht-staatliche Akteure die
Verfassung verletzen können – „als wären
sie Behörden im formalen Sinn“ –wenn sie über Kommandostrukturen verfügen
(S. 23). Wiederholt betonen die Magistraten die Bestrafbarkeit von Verbrechen, die
nicht im Bericht der Wahrheitskommission aufgetaucht seien – Verbrechen „gleicher oder grösserer Schwere und
Bedeutung“ als die im Bericht dokumentierten (S. 40). Aus spezifischen
Gründen fehlt ein Verbrechen des FMLN im Bericht (s. Kasten), doch ansonsten
ist er massgebend, wie in den Friedensabkommen festgelegt. Denn die
UNO-Kommission hatte unvergleichlichen Zugang zu Archiven und Quellen beider
Seiten, ominöse „neue“ Fälle erhalten jetzt jedoch per Spruch der
Verfassungskammer das gleiche Gewicht.
Um den Justizapparat unter einer angeblichen Flut möglicher
Verfahren nicht zusammenbrechen zu lassen, weiss die Kammer ein ominöses
Mittel: eine Prioritätenliste (S. 39)
von zu ahnenden Fällen. Mehr dazu – wer erstellt diese? nach welchen Kriterien?
– lässt sie sich in diesem Urteil nicht entlocken.
Es gibt weitere, beunruhigende Elemente in diesem Urteil.
Auf S. 34 lesen wir: „Die neue Situation
aufgrund dieses Verfassungsurteils unterstreicht die Notwendigkeit eines echten
demokratischen Übergangs zum Frieden [und der Respektierung…] der Garantie der
Nichtwiederholung von Verbrechen gegen die Menschheit und von
Kriegsverbrechen.“ Mehrmals thematisiert die Kammer, dass mit ihrem Spruch
die Pforten für eine „Transitionsjustiz“ geöffnet werden. 24 Jahre nach den
Friedensabkommen – und unter einer FMLN-Regierung! Es passt zum Diskurs rechter Thinktanks über ein neues
„Friedensabkommen“, einen neuen „Gesellschaftsvertrag“ zwecks Absicherung des
neoliberalen Modells, das schrittweise von der FMLN-Regierung durchbrochen
wird.
Zur Situierung des „Triumphs der Menschenrechte“ ist weiter
zu beachten: Die damaligen Militärführungen haben mit den Jahren politisch
massiv an Bedeutung verloren. Der FMLN dagegen ist an der Regierung. René
Hernández Valiente, Mitglied der Verfassungskammer von 1994-97 und rechter
Hardliner, gehört zum engen Umfeld der heutigen Verfassungskammer. Er freute
sich in BBC
Mundo: Das Kammerurteil „wird unsere
Gesellschaft durcheinander wirbeln (…). Es gibt Anschuldigungen gegen
Mitglieder der aktuellen Regierung; sie werden definitiv betroffen sein“.
Im Visier vorallem Staatspräsident Salvador Sánchez Cerén. Dieses Urteil reiht
sich zusammen mit anderen (s. u. und Die
Rolle der Verfassungskammer) in die Bestrebungen der Kammer ein, die
FMLN-Regierung zu destabilisieren. Dafür werden sogar Opfer auf Seiten der
traditionellen Rechten in Kauf genommen. Nicht zufällig heult die rechte
ARENA-Partei auf: Mit der Aufhebung der Amnestie drohe ein Wiederaufflammen des
Kriegs. Der Parteibonze, Oligarch und frühere Staatspräsident (während der
Friedensverhandlungen), Alfredo Cristiani, ist eindeutig in die Jesuitenmorde
während der Guerillaoffensive von 1989 verwickelt und deshalb potenziell
gefährdet.
Der renommierte Menschenrechtsanwalt David Morales leitet
die staatliche, aber regierungsunabhängige Menschenrechtsprokuratur. Er begrüsst
die Abschaffung des Amnestiegesetzes als „Errungenschaft“
der Opfer der Menschenrechtsverletzungen, für die sie 20 Jahr gekämpft haben.
Und kündet die Schaffung eines Mechanismus seiner Prokuratur an, dessen „Ziel ist, (….) mögliche opportunistische,
politisch motivierte Anschuldigungen zu verhindern. Ich will nur, dass der
Schmerz der Opfer (…) nicht instrumentalisiert wird, dass nicht andere Akteure
ihre Gegner aus politischen Gründen mit unbegründeten Anschuldigungen, auf der
Basis mangelnder Information, angreifen.“ In weniger diplomatischen Worten
formulierte das die Parlamentspräsidentin Lorena Peña auf ihrer Facebookseite
mit dem Satz, das Urteil „trägt nichts
zur Wiedergutmachung für die Opfer bei, es missbraucht sie.“
Wie Präsident Sánchez Cerén begrüsst
Regierungssprecher Eugenio Chicas die Aufhebung des Straflosigkeitsgesetzes,
gibt aber zu bedenken, dass die bisherige „Passivität“ der Justiz nicht allein
dem Amnestiegesetz zu danken sei: „Es
gibt mehr als 900 Dossiers im Obersten Gericht, die [mutmasslich korrupte]
Operateure der Justiz betreffen, die nicht behandelt werden. Dies schafft
Strafffreiheit.“ Für die Dossierbehandlung ist letztlich die
Verfassungskammer zuständig. 2002 hatte zudem die damalige Verfassungskammer
das Amnestiegesetz für die Zeit des ARENA-Regierungsantritts vom 1. Juni 1989
bis Kriegsende aufgehoben, da sich eine Regierung nicht selber amnestieren
könne. Mehrere Massaker, so auch die Jesuitenmorde, hätten von der
Generalstaatsanwaltschaft untersucht und von den Gerichten geahndet werden
müssen, notfalls mit Eingreifen der Verfassungskammer. Geschehen ist nichts.
Einige Sektoren wollten die Aufhebung des Amnestiegesetzes
für das Anfachen von Widersprüchen zwischen der Regierung und der Armee
missbrauchen. Doch „die jetzigen
Streitkräfte“, so Chicas, „haben
nichts mit jener Institution zu tun, die während des bewaffneten Konflikts die
Verbrechen beging. Sie haben neue Chefs.“ „Die Streitkräfte tanzen nicht mehr automatisch nach der Pfeife
Washingtons“, versicherte kürzlich ein hoher FMLN-Kader im Gespräch. Wenn
es jetzt gelänge, via den vorhandenen Korpsgeist Emotionen zur Verteidigung von
möglichen Angeschuldigten zu schüren, die im Krieg verbrecherische, aber
untergeordnete Rollen hatten, wäre dies ein willkommenes Moment, um die
Frente-Regierung weiter zu schwächen. (2014 hatte der geschlagene
ARENA-Präsidentschaftskandidat die Armee zum Einschreiten aufgerufen.)
Auch in der neuen Konstellation bleiben zwei Hauptkräfte bei
den Menschenrechtsverbrechen während des Kriegs unerwähnt: die USA und die
Oligarchie. Die damaligen Grossgrundbesitzer, die heutigen Handels- und
Finanzbarone, finanzierten etwa weite Bereiche der militärischen
Todesstrukturen. Die USA hatten in der Gesamtkriegsführung die Leitung
übernommen, ohne „Details“ wie die Ausbildung von Folterspezialisten zu
vernachlässigen.
Die Erpressung
Am gleichen Tag, an dem die Kammer
ihr Amnestieverdikt bekannt gab, verschärfte sie die finanzielle Strangulierung
der Regierung weiter,
u. a. mit dem Verbot eines parlamentarisch abgesegneten Kredits von $ 900 Mio.
Die Regierung hat jetzt akute Finanzprobleme, als Resultat der Blockadenpolitik
der Rechten im Parlament, und, wenn diese nicht greift, des Eingreifens der
Verfassungskammer, die Verfassungswidrigkeit von moderaten Steuerreformen oder
Massnahmen gegen Steuerbetrug oder, wie an diesem Tag, auch einen
13-prozentigen Zuschlag auf die (billigen) Strompreise für die 30% der grössten
StrombezügerInnen verkündet, ein Zuschlag für die Finanzierung alternativer
Energiequellen und der Stromsubventionen der restlichen 70 % der Bevölkerung. Als
Resultat scheint die Regierung ab September oder Oktober schlicht nicht mehr
ihren Zahlungsverpflichtungen (von den Löhnen bis zu den Auslandsschulden)
nachkommen zu können. Für ihre nötige parlamentarische Zustimmung zu neuen
Krediten (und dem Stillhalten der Kammer) will die Rechte einen „Sparkurs“
unter der Ägide des IWF durchsetzen. „Pragmatische“ Kräfte im Kabinett sehen
dazu offenbar keine Alternative.
Mit
einem Federstrich…
Als vierten Entscheid am 13. Juli
verkündete die Kammer, dass alle ErsatzparlamentarierInnen ab sofort keine mehr
seien. Diese werden seit Jahrzehnten nicht individuell gewählt, sondern eben
als auf den Wahlzetteln nicht einzeln aufgeführten Ersatz, als „suplentes“ der normalen Abgeordneten.
Bei den Parlamentswahlen 2018 müssten diese „suplentes“ auf den Wahlbögen einzeln mit Namen und Foto angekreuzt
werden. Nun tagt das salvadorianische Parlament in der Regel ein Mal die Woche
im Plenum, viele Abgeordnete sitzen zudem in mehreren Kommissionen, die an
anderen Tagen arbeiten. Es ist somit absehbar, dass bis 2018 der
Parlamentsbetrieb massiv gestört sein kann. Die Kammer hatte mit neun früheren
Entscheiden massiv in die Parlamentswahlen letztes Jahr eingegriffen, sich aber
nie an den „suplentes“ aufgehalten.
Ihr jetziges Verdikt reiht sich in ihren Kampf gegen das Parlament ein, seit
dieses nicht mehr rechts dominiert ist. Parlamentspräsidentin Lorena Peña versicherte:
„Wir können nicht den Kopf einziehen,
wenn sie sich dafür entscheiden, die Verfassung zu verletzen und einen
Wahlprozess, der nach ihren Regeln erfolgt ist, abzuerkennen. Als FMLN
akzeptieren wir keine technischen Putsche, die mit „suplentes“ beginnen und
dann in komplizierteren Lagen für das Land enden. [Die Magistraten] spielen
damit herum, Wahlen mit einem Federstrich verschwinden zu lassen“.
Die durch das Urteilspaket vom 13.
Juli ausgelöste Unruhe kommt in einem Moment, in dem es der Regierung und dem
FMLN gelungen ist, im Kampf gegen die brutale Gewalt im Land klare Fortschritte
zu erzielen. Das Klima im Land beginnt sich zu ändern, die Leute schöpfen
wieder etwas Hoffnung. Die Kammer tut das ihre, um diese Dynamik abzuwürgen.
Ein Letztes: Gerechtigkeit heute für
die Opfer im Krieg bedeutet immer weniger, dass oft schon alte und kranke Täter
den Rest ihres Lebens im Gefängnis verbringen müssen. Immer mehr rückt dagegen
das Sehnen der Opfer nach Wahrheit über die „Nacht- und Nebel“-Aktionen des
Regimes als Teil einer „Wiedergutmachung“ ins Zentrum. Der FMLN-Chef Medardo
González sagte
zum Thema Amnestiegesetz: „Wir waren
immer an der Seite der Opfer. Wir haben die Verfassungswidrigkeit [des
Gesetzes] vertreten, weil wir Gerechtigkeit wollten.“ „Aussöhnung und Frieden“
setzten einen Prozess der Wiedergutmachung für die Opfer voraus, dieser beruhe
seinerseits auf der Wahrheitsfindung. „Der
FMLN will eine Gerechtigkeit der Wiedergutmachung, nicht der Strafverfolgung.“
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Das Massaker der FPL
1990 kam es in der « parazentralen » Front der
FPL, einer der damaligen Mitgliedsorganisationen des FMLN, im Department San
Vicente, zu einer realen oder angeblichen Aufdeckung eines Rings von
Armeeinfiltranten, die hingerichtet wurden. Die Sache weitete sich aus, es kam
zu weiteren Hinrichtungen an immer mehr „Spitzeln“. Die Angaben gehen von
hundert Ermordeten bis zu tausend (massiv übertrieben; das hätte wohl die
Auslöschung der ganzen Front impliziert). Die Oberleitung der FPL, deren Chef
der heutige Staatspräsident war, griff erst ein, als ihr das Ausmass klar
wurde. Ihre entsandte Vertretung kam zum Schluss: Massenmord an den eigenen
Leuten. Der verantwortliche Comandante wurde standrechtlich erschossen. Ob der
Hauptverantwortliche paranoid war oder während einer früheren Gefangenschaft
„umgedreht“ wurde, scheint offen zu sein, beantwortet aber nicht die Frage, wie
diese militaristische Pervertierung wirksam werden konnte.
Dies ist das einzige Verbrechen der Guerilla, das in
gewissen Aspekten einem der systematischen des Regimes gleicht. Nur, dass hier
die Täter gestoppt und bestraft wurden, nicht befördert. Die von der Armee
informierte Wahrheitskommission versuchte vergeblich, Zeugenaussagen von
Opferangehörigen zu bekommen. Doch trotz Schmerz und Verbitterung verweigerten
sich diese der Parteinahme gegen den FMLN.
Sánchez Cerén hat sich später im Namen der FPL öffentlich
für das Verbrechen entschuldigt. Die Verfassungskammer scheint mit ihrer
Urteilserläuterung und Betonung der „poderes
de mando“, der Strukturen mit Befehlshierarchie, mit dem Gedanken zu
spielen, den Präsidenten als Kriegsverbrecher hinzustellen. Das ist Dynamit.
Die Guerillas sind heute ergraut. Aber ihre Spur des Widerstandes lebt. Im
Gespräch sagten viele: „Wir sind nicht wie der [brasilianische] PT. Wenn wir
die Wahlen verlieren, bueno, aber wir bleiben nicht passiv beim technischen
Putsch.“
Am Rande einer Protestkundgebung des FMLN gegen den weissen Putsch am 17. Juli 2016. |