Marco
Teruggi*
Venezuela
ist keine grosse Barrikade. Und keine Massen haben Caracas eingenommen. Die
Massenmedien lügen. Seit vergangenen Donnerstag (30. März) die globale
Denunzierung dessen, was ein Selbstputsch gewesen sein soll, ansetzte, gleicht die
Stadt sich selber. Die Strassen waren ihre Strassen, so typisch caraqueñas. So sehr, dass man der
Existenz des sogenannten Selbstputsches durch Botschaften von aussen gewahr
wurde, während im Zentrum, in der Umgebung des Parlaments, beim
Miraflores-Palast (Regierungssitz) alles so war wie immer.
Hat es
einen Staatsstreich gegeben oder nicht? Juristisch nein. Das Oberste Gericht
(TSJ) traf einen Entscheid betreffs eines Parlaments (AN, Asamblea Nacional),
das weiter das Recht bricht, indem es drei dank Betrug gewählte ParlamentarierInnen
behält; das mehrmals angekündigt hat, mit Nicolás Maduro Schluss zu machen; das
im Oktober 2016 einen Staatsstreich versucht hat[1]
und das im Januar wieder entschied, den Präsidenten nicht anzuerkennen. Die
Geschichte ändert je nachdem, wo man ihren Beginn sieht – die argentinische Zeitung La
Nación wiederholt, dass die politische Gewalt in Argentinien mit der Guerilla
der Montoneros angefangen habe. Wir könnten auch weiter zurückgehen: Die, die
heute Parlament und Opposition leiten, sind die gleichen, die den Putsch 2002
gegen Hugo Chávez anführten. Sie schieben Vergesslichkeit vor.
Es gab also
am Donnerstag keinen Staatsstreich. Es gab einen Entscheid, der die Immunität
der Abgeordneten aufhob und dem Obersten Gericht die Möglichkeit gab, sich Kompetenzen
der seine Entscheide missachtenden AN anzueignen. Die Medienlawine erfolgte
automatisch im Rahmen der von der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) angeführten
internationalen Angriffe auf Venezuela. Am Freitag (31. März) kam es zu einer
unerwarteten Wende, als die Generalstaatsanwältin vor laufender Kamera sagte,
die Resolution des TSJ habe die Verfassung verletzt. Und in der gleichen Nacht
kam es zu einer weiteren Wende, als Maduro eine Sitzung des Nationalen
Sicherheitsrats zur Lösung des Problems ankündigte. Am Samstag widerrief das
TSJ die beiden Punkte, die Anlass für die Polemik waren. Purzelbaum retour. Zurück
auf Position 1?
Viele
StaatsrechtlerInnen äusserten sich zur Frage der Gültigkeit des ursprünglichen
TSJ-Entscheids. Die Rechte sagte, alles sei einstudierte Show: Die Resolution,
die Staatsanwältin, Maduro, der neue Entscheid. Alles mit dem Ziel zu demonstrieren,
dass eine inexistente Gewaltenteilung existiere – die grosse Verschwörung. So
dass sie niemanden anerkannten und auf die Strasse gingen: Scharmützel am
Donnerstag und Freitag plus einige Minuten Pfannendeckelschlagen, Besammlung am
Samstag von 2000 Leuten im Osten der Stadt, am Dienstag dann die grosse Show
für die Medien. Derweil die Abgeordneten ankündigten, die Obersten RichterInnen
abzusetzen.
Zusammenstoss
der Staatsgewalten, Zusammenstoss für die Kameras, Zusammenstoss international.
Und auf den
Strassen?
…
Caracas ist
in zwei Gemeinden unterteilt. Im Westen regiert der Chavismus, im Osten die
Opposition. Die Grenze: die Plaza Venezuela. Seit Februar 2014, als sie mehrere
Institutionen in Brand setzte, hat die Rechte keinen Zugang mehr zum Westen. Damals
fing der Zyklus der guarimbas (gewalttätige
Strassenkämpfen) an mit seiner Folge von 43 Toten – Leopoldo López, der
intellektuelle Täter, wurde damals verhaftet. Deshalb demonstriert die Rechte
im Osten der Stadt. Hier ist ihre
soziale Basis von oberen Mittelschichten. Die Führer versprechen, in den Westen
zu kommen, zum Sitz der Regierung, jenem des Wahlrats, der
Generalstaatsanwaltschaft, was grad zur Konjunktur passt. Über die Plaza
Venezuela zu gelangen, darum geht es, das wollen die escuálidos (die Kümmerlichen, Verwahrlosten, Kotzbrocken – Begriff für
die Rechten), das künden ihre Führer ohne Führungskapazität an, um dann die Erwartungen
jeweils zu enttäuschen. Denn da sie keine Bewilligung haben, treffen sie auf
ein Polizeiaufgebot. Sollte man sie durchlassen? Damit sie dann auf die
Mobilisierungen des Chavismus stossen?
So
mobilisierten sie am Dienstag. Es waren wenige, sehr wenige. Vielleicht drei
tausend, angetreten um eine Regierung, eine Diktatur zu stürzen. Denn das wird
ihnen gesagt. Und wer wie ich aus dem Süden kommt, mit all den Toten „im Gepäck“,
muss sich zusammenreissen, wenn er die Kinder der Bourgeoisie hört, wie sie
Diktatur schreien, diese Herren der Verhältnisse schon viel zu lange, die an jedem
Tod auf unserer Seite verdienen. Das Muster der internationalen Berichterstattung
ist klar: Putsch, Regime, Diktatur, Zensur, politische Gefangene, Verletzung
der Menschenrechte, humanitäre Krise. Auf der Strasse spielt sich anderes ab:
Angriffsgruppen für die Konfrontation, um Rauch zu erzeugen, Steine, Fluchten.
Es braucht Bilder für die OAS, die Welt. Wenn die Massen fehlen, gibt es
trainierte Zellen. In der Krawallzone waren es nicht mehr als 300 Leute. Man
verknüpfe solche Bilder mit den Tränen der zur Engelgestalt erhobenen Gattin
des politischen Gefangenen (Leopoldo López), ein paar Entkräfteten, einem
Wasserwerfer, und das Paket ist geschnürt.
4. April: trainiert gegen die Diktatur... |
…
Der Rechten
gelingen keine Grossmobilisierungen mehr. Sie hat letztes Jahr die Hoffnungen zwei
Mal betrogen. Sie brachte 40‘000 Menschen auf die Strasse mit dem Versprechen,
zum Miraflores-Palast zu ziehen. Am Schluss jeder Kundgebung schickte sie die
Leute wieder nachhause, um bestenfalls Pfannenlärm zu machen. Sie haben an
Legitimität eingebüsst, ihre soziale Basis will Revanche, Bestrafung. Auch die
Führung. Es ist nicht so einfach, eine Regierung zu stürzen ohne Streitkräfte
und Unterklassen und mit einer Bourgeoisie, die ihre Abkommen zunehmend mit genau
dieser Regierung schliesst. Deshalb hängen sie von der internationalen Front
ab. In den Tagen rund um die Verkündung des Putschs reisten zwanzig ihrer
AnführerInnen ins Ausland, darunter Capriles Radonsky, Lilian Tintori, Freddy
Guevara, Julio Borges. Zufall?
Sie haben
die Strasse verloren. Der Chavismus dagegen behält sie. Mit weniger
Spontaneität und mehr Staatsangestellten allerdings. Die soziale Basis beider
Seiten ist zurückgegangen. Eine von mittel zu klein, die andere von immens zu
gross. Letztere wird stärker, wenn der
Imperialismus wie in den vergangenen Wochen einen Angriff verkündet: die Reihen
schliessen sich, der historische Feind rückt ins Bild.
Chavistische Mobilisierung gegen die aktuelle Destabilisierung |
Etwas ist diese
Tage bemerkenswert: es gibt kein Klima von Putsch, von politischer Konvulsion
wie etwa noch im letzten Oktober. Auf den Strassen von Caracas und des Landes
herrscht Alltag. Wie wenn der Konflikt, so real wie es der Gewaltenkonflkt und
die Drohungen der OAS sind, nichts mit den normalen Leuten zu tun hätte. Als wären
sie der Logik von Konflikt/Abkommen zwischen Superstrukturen überdrüssig, der
kleinen Politik. Ein Signal, das zeigt, dass es nötig ist, zu begreifen, was in
den Zeitrhythmen des Volkes passiert, die sich nicht in den kommunikativen/politischen
Agenden wiederspiegeln. Warum scheint die Mehrheit etwas derart Wichtiges aus
der Distanz zu betrachten? Was bedeutet dies?
Für die
Rechte ist es ein minderes Problem, keine Massenmobilisierung zu erreichen. Es
ist nicht von strategischer Bedeutung, die Entpolitisierung der Gesellschaft
ist Teil ihres Plans. Im Gegensatz sind die Kosten für den Chavismus dafür sehr
hoch: Eine der Stärken des Veränderungsprozesses war gerade, die Politik den
Menschen zurückzugeben, sie zum Teil der Geschehnisse zu machen, mit einer
Politik hinter verschlossenen Türen zu brechen. Es gibt die Aufrufe an die Demos,
um Kadern zuzuhören, Entscheide des Präsidenten zu unterstützen: jedes Mal
weniger Ausdruck von subjektivem Protagonismus, sondern davon, am Empfangsende
für die Übermittlung der offiziellen Linie zu sein. Etwas entfernt sich: die
Führung von der Basis oder die Basis von der Führung? Als Im Ergebnis scheint
die Politik wieder in die normalen Bahnen der eingeschränkten Demokratie
zurückzufinden, in jene, die zu zerstören die Revolution sich vorgenommen
hatte. Es ist die Politik des Nichtengagements, der Distanzierung von einer Politik
in einer nationalen Dynamik, die gekennzeichnet ist durch periodische Episoden
wie jene, die wir gerade durchqueren.
Wohin gehen
die, die sich entfernen? Ihre Alltagsprobleme lösen, gezeichnet von den
Schwierigkeiten einer als Teil der Destabilisierung sabotierten Wirtschaft,
unter der die Volkssektoren am meisten leiden, die wichtigste gesellschaftliche
Basis des Chavismus.
Wohin gehen
sie in Sachen Wahlen?
…
Die
politische Frage ist: Warum fällte das Oberste Gericht seinen Entscheid zum
Parlament mitten im internationalen Angriff? Es war voraussehbar, dass das den
internationalen Druck verstärken würde, die nationale Ungewissheit, die Ermüdung
der Leute. Der Grund ist die Unmöglichkeit, mit einer Initiative zur
Schaffung/Modifizierung von gemischten Ölgesellschaften voranzukommen. Denn
dafür ist von Gesetz wegen die Zustimmung des Parlaments erforderlich. Welche
Modifizierungen oder Neuschaffungen waren so ausgebremst? Es musste sich, damit
dieser Entscheid in diesem Moment getroffen wurde, um etwas Strategisches
handeln. Jedenfalls gab es dazu keine öffentliche Debatte.
Deshalb die
Frage nach dem Resultat unter dem Strich. Diente die Sache der Repolitisierung,
der Öffnung von Kanälen, der Revitalisierung des politischen Geschehens? Wenn
sie aber mehr Distanz zwischen Leuten und Politik schuf, ist der Saldo negativ,
eine Verstärkung einer gefährlich wachsenden Tendenz. Es ist problematisch, das
wie ein Schachspiel zu sehen, wie einen Disput zwischen zwei einzig von ihren
Führungen bestimmten politischen Kräften. Aus dieser Sicht aber, die im in der
chavistischen Führung um sich greift, war es eine siegreiche Schlacht.
Die
Ereignisse entwickeln sich laufend. Die Rechte wird weiter darauf insistieren ,
von der Legislative aus die politische Konfrontation zu leiten. Sie will zudem
das Oberste Gericht absetzen und den „Bruch der demokratischen Ordnung und die
Weiterexistenz des Puschs“ deklarieren. Das Epizentrum ihres Plans ist im
Ausland, ein Zeichen ihrer Schwäche im Land, ihrer fehlenden
Führungskapazitäten, ihrer internen Dispute, der Unmöglichkeit, jenen Sprung zu
machen, den sie seit 1999 nicht schafft, um die Konfrontation auf Augenhöhe zu
führen. Deshalb so viel OAS, Wirtschaftsangriff, Infiltration von Paramilitärs
ins Land. Es macht nicht den Anschein, dass sie mehr Leute um sich scharen kann.
Aber ist das wirklich wichtig? Entscheidend scheint zu sein, ob sie die Stimmen
jener ergattern kann, die sich müde abwenden.
Die
Revolution ihrerseits steht vor der Notwendigkeit, dort wieder geboren zu
werden, wo sie entstand: bei den Leuten, im Volk, das materiell und politisch
nicht mehr jenes von 1999 ist. Und einer der schlimmsten Fehler der Führung ist
die Selbstgenügsamkeit. Auf wirtschaftlichem Gebiet hat die Regierung schon klargemacht,
auf was sie setzt: zentral auf das Unternehmertum. Man hat ihm die
Preisliberalisierung gegeben, die Importdollars, TV-Frequenzen. Im Alltag kommt
das Resultat noch nicht an. Zeit? Es verbleibt nur noch wenig. Gegenüber
bereitet sich eine Revanche an den Massen vor.
·
hastaelnocau,
wordpress.com, 6. 4. 17: Nuevos asaltos: ¿cómo se miden las victorias?
[1] Eine kurze Auslandreise von
Präsident Maduro in Sachen internationaler Ölpreis verurteilte es als
Amtsaufgabe des Präsidenten. Die dadurch entstandene Vakanz müsse es jetzt füllen.
Es war ein Versuch eines parlamentarischen Putsches nach brasilianischem oder paraguayischem
Vorbild.