(zas, 21.9.18) Die sandinistische Regierung scheint nicht im
Stand zu sein, eine andere Antwort als Repression auf die Ereignisse der
letzten Monate zu geben. Zumindest nicht so, dass wir hier etwas davon
mitbekämen. Fast täglich gibt die Polizei bekannt, dass sie die und die «Terroristen»
der Justiz überstelle. Abgesehen von der inflationären Verwendung des Begriffs «terrorista»
wäre dagegen erst mal wenig einzuwenden. Schliesslich gab es in Nicaragua eine
Reihe extrem brutaler Gewalttaten, die auf keinen Fall in die Rubrik Einzelfälle
entsorgt werden können – auch wenn genau dies ein Teil der früheren
Solidaritätsbewegung mit Nicaragua in Europa tut. Er folgt damit einer fast nur
gehauchten Diskursanpassung jener sich selbst als links verstehender Kräfte in
Nicaragua, die nach Nachhaken von einzelnen Übergriffen von AktivistInnen reden,
die in der repressiven Not …ähm… etwas zu weit gegangen seien. Wie weit und wie
systematisch, haben wir in diesem Blog versucht, etwas zu vermitteln.
Die Polizei informiert zwar über Verhaftungen und
Anschuldigungen, allerdings ohne diese zu begründen. Man kann einwenden, dies
sei nicht ihre Sache, sondern die der Gerichte. Das stimmt, doch dann sollte auch
eine in einigen Fällen damit einhergehende üble Stimmungsmache unterlassen
werden. Viele von uns haben den Eindruck, dass politische Oppositionelle, aber
keine Killer, und tatsächliche TäterInnen in den gleichen Sack geschmissen
werden. Um nicht missverstanden zu werden: Die Forderung nach Gerechtigkeit ist
überhaupt kein Privileg der Opposition, sondern wird auch von extrem vielen
Menschen leidenschaftlich erhoben, die unter dem rechten Terror gelitten haben.
Doch die Untersuchungen verlieren schlicht an
Glaubwürdigkeit, wenn bis heute nicht ein Mitglied der Sicherheitskräfte, nicht
ein Pro-Regierungsaktivist irgendeines Delikts – geschweige denn eines Mordes –
angeschuldigt ist. Es gibt zwar Gerüchte über Untersuchungen etwa im entsetzlichen
Fall der sechsköpfigen Familie, die im Juni in Managua in ihrem in Brand
gesteckten Haus erstickt ist. Aber offizielle Aussagen zu diesem oder zu
anderen Fällen gibt es schlicht keine. Dafür hat die Regierung der Imperiumsfraktion
ein «Argumentationsmuster» abgeguckt. Sind für diese schlicht alle Ermordeten
Opfer der orteguistischen Diktatur, so hat sich mittlerweile auf prosandinistischer
Seite die Darstellung eingebürgert, dass die Opposition mit ihrer Entfesselung
schlimmer Gewalkt die Verantwortung für alle Toten trage. Hinter dieser Floskel
versteckt sich das erwähnte Schweigen über Taten, deren AutorInnen zu Recht oder
zu Unrecht im sandinistischen Lager vermutet werden.
In diesem Kontext ist die o. e. «Stimmungsmache» oder
schmutzige Propaganda besonders unerträglich. Ein Beispiel der letzten Tage:
Ricardo Baltodano, Bruder der bekannten oppositionellen Ex-Comandante Mónica
Baltodano ist von der Polizei der Justiz
wegen Entführung, Folter und anderen Delikten der Justiz überstellt worden.
Der Mann hat in der privaten Universität
Upoli unterrichtet. Die Upoli war eine Weile ein Zentrum der «Protestbewegung»,
vieles deutet daraufhin, dass sie tatsächlich ein Zentrum auch bewaffneter
Kräfte um die US-finanzierte Partei MRS und kriminelle Bandenstrukturen war. Baltodano,
in seiner Jugend ein sandinistischer studentischer Kader gegen die Diktatur von
Somoza, hat nie ein Geheimnis aus seiner Beteiligung an den oppositionellen
Demos gemacht.
Und jetzt zirkuliert
in regierungsfreundlichen Social Media diese Fotocollage:
Wir wissen nicht, ob an den Anschuldigungen etwas dran ist.
Aber wir sehen eine hetzerische Collage: Bilder, auf denen man Baltodano mit erregt
gestikulierenden, nicht gerade an junge Streetfighters gemahnenden Männer sieht
– vielleicht protestieren sie gerade gegen eine Sauerei der Bullen? - neben Fotos
von sandinistischen Ermordeten, etwa von Keller Pérez Duarte. Der Student wurde
mutmasslich von in der Upoli operierenden Gruppen ermordet. (Die Rechte hatte auch
ihn zum Opfer der Polizei erklärt, was der Vater scharf dementiert hatte.) Es
wird so suggeriert: Der Mann ist eine Bestie.
Diese Art von «Aufklärung» ist eine Schweinerei.
Erst mal viel überzeugender in diesem Fall ist ein ruhiger,
trauriger Facebook-Auftritt der Frau von Ricardo Baltodano und seiner zwei
Schwestern. Sie betonen, dass Ricardo ein solidarischer Mensch sei, ein aktiver
Demonstrant, aber völlig fremd jeder brutalen Gewaltanwendung. Mónica Baltodano
situiert die Verhaftung ihres Bruders im Kontext einer korrupten Justiz.
In einer privaten Mitteilung charakterisiert Mónica
Baltodano ihren Bruder als Pazifist. Wie gesagt, wir wissen nicht, was an den
Anschuldigungen stimmt, was nicht. Wir wissen dagegen, dass die propagandistische
«Begleitmusik» den Verdacht nährt, dass der Mann in Sippenhaft genommen wurde,
um an seine Schwester, eine bekannte Exponentin eines Teils der
Regime-Change-Bewegung, heranzukommen.
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All dies auch stellvertretend für weitere empörende Momente gesagt,
sollte es nicht als Geständnis missverstanden werden, die Imperiumsfraktion und
ihre Mobilisierten hätten letztlich eben doch recht mit ihren Anschuldigungen
von sandinistischer Gewaltherrschaft und Terror. Seit Wochen etwa lesen oder
hören wir fast täglich von gefolterten politischen Gefangenen, die unter
unzumutbaren Haftumständen darben müssten. Die Gefängnisbehörde hat jetzt als
Antwort auf Anschuldigungen wegen Folter, verweigerter medizinischer Hilfe, 24-Stunden-Isolation
im dunklen Loch u. ä. Fotos von Besuchen, medizinischen Checks etc.
veröffentlicht, die einige dieser Fälle betreffen (hier und hier). Dass die
Fotos gefälscht sein könnten, dürfte so gut wie ausgeschlossen sein. Denn ein
allfälliger diesbezüglicher Nachweis wäre ein veritabler GAU für die Regierung. Für genauere Informationen dazu siehe das transskribierte Interview
mit dem stellvertretenden Innenminister Luis Cañas und dem sandinistischen
Abgeordneten Carlos Emilio López.