https://amerika21.de/2021/02/247890/fragwuerdige-neuauszaehlung-ecuador
Quito. In Ecuador wird es zu einer Neuauszählung der Stimmen in 17 von 24 Provinzen kommen. Das teilte der Nationale Wahlrat (CNE) am Freitag mit. Die abgegebenen Stimmen der Präsidentschaftswahl vom 7. Februar, die der linksgerichtete Kandidat Andrés Arauz gewonnen hatte, sollen im Laufe der nächsten zwei Wochen zum Teil überprüft werden: In der Küstenprovinz Guayas sollen alle Wahlurnen geöffnet werden, in den anderen 16 Provinzen je die Hälfte.
Der Entscheidung voraus ging ein Treffen des Wahlrates mit den Präsidentschaftskandidaten Guillermo Lasso und Yaku Pérez, zwischen denen sich ein knappes Ergebnis um den Einzug in die Stichwahl ergeben hatte: Pérez von der Partei Patchakutik kommt nach der Auszählung aller Urnen auf 19,38 Prozent der Stimmen, Lasso von der rechtskonservativen Creo-Partei auf 19,74. Pérez präsentierte während des Treffens vermeintliche Hinweise auf Wahlbetrug. Er und Lasso hatten sich geeinigt, gemeinsam eine Überprüfung der Wahlergebnisse zu fordern. Anwesend waren auch Mitglieder der Wahlbeobachtermission der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS).
Schließlich verkündete Diana Atamaint, Vorsitzende des CNE und selbst Patchakutik-Mitglied, die Neuauszählung geschehe "zum Wohle der Demokratie und der Transparenz des Wahlprozesses vom 7. Februar".
Pérez sagte, er wisse von Fällen, in denen eine große Zahl von Stimmzetteln manipuliert und leere Stimmzettel einem anderen Kandidaten zugeschrieben worden seien. Andere Stimmen, die auf ihn selbst entfielen, seien annulliert worden. Nach einer Neuauszählung, prophezeite der Kandidat der Patchakutik-Partei, würde sich ein gänzlich anderes Resultat ergeben: Der mit 32,71 Prozent der Stimmen klare Wahlsieger Arauz würde dann auf dem dritten Platz landen, während er und Lasso in die Stichwahl einzögen.
Der Vorgang erregte nicht nur wegen der offenbar wenig fundierten Vorwürfe von Pérez Aufsehen: Zum einen hielt sich die Wahlbehörde nicht an das im Wahlgesetz vorgesehene Verfahren, wie der frühere Außenminister Ricardo Patiño mit Verweis auf den entsprechenden Artikel kritisierte. Er kritisierte auch, dass der Wahlrat nur zwei der insgesamt 16 Kandidat:innen anhörte und vor allem nicht die Einschätzung des Wahlsiegers Arauz einholte.
Der spanische Wahlbeobachter und Europaparlamentarier Manu Pineda äußerte auf Twitter seine "große Sorge über die jüngsten Entscheidungen des CNE, die sich außerhalb des rechtlichen Rahmens bewegen". Jede Überprüfung oder Neuauszählung müsse von allen politischen Akteuren und allen akkreditierten Beobachtungsmissionen überwacht werden.
Außerdem äußerten mehrere Kommentator:innen ihre Besorgnis über die Präsenz der OAS, die als einzige Beobachtungsmission zu dem Treffen bei der Wahlbehörde eingeladen war. Der CNE kündigte sogar an, die Nachzählung "mit der Mitwirkung der Wahlbeobachtungsmission der OAS" durchführen zu wollen. Von anderen Beobachter:innen war nicht die Rede. Die US-dominierte OAS steht nicht erst seit ihrem Agieren während und nach den Wahlen in Bolivien 2019 in der Kritik: In Folge des später widerlegten Vorwurfs der Wahlmanipulation kam es zum Putsch gegen den wiedergewählten Präsidenten Evo Morales.
Die Sorgen, dass ein Wahlsieg des linken Kandidaten Arauz mit unerlaubten Mitteln verhindert werden soll, mehrte zudem die Reise des kolumbianischen Generalstaatsanwalts Francisco Barbosa, der am Samstag in Quito ankam. Der Vertreter der Justiz des rechtsregierten Nachbarstaats sagte, er verfüge über Geheimdienstinformationen, die beweisen würden, dass Arauz' Partei Union für die Hoffnung (Unes) von der kolumbianischen Guerilla Nationale Befreiungsarmee (ELN) Geld erhalten habe.
Letzte Woche hatte sich dagegen ein Video, das angebliche ELN-Guerillakämpfer zeigte, die Arauz vor dem 7. Februar unterstützten, als Fälschung herausgestellt: Der Clip zeigt maskierte Männer, die Gewehre vor der rot-schwarzen ELN-Flagge hielten und sich angeblich in Kolumbien aufhielten. Der Ornithologe Manuel Sanchez erkannte dagegen im Hintergrund den Ruf des Brauentinamu, der nur in den Wäldern an der Küste zwischen Peru und Ecuador vorkommt.
Der frühere kolumbianische Präsident und Vorsitzende der Union südamerikanischer Nationen, Ernesto Samper, bezeichnete die Vorwürfe gegen Arauz als infam. Sie seien "Teil eines schmutzigen Spiels, das die radikale Rechte in beiden Ländern orchestriert, um sich in die Stichwahl der Präsidentschaftswahlen in Ecuador einzumischen".
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Alte Fronten neu deklarieren
(zas, 15.2.21) Dieser Tage suggeriert die Berichterstattung ecuadorianischer Mainstreammedien den Eindruck, bei der Stichwahl gehe es darum, ob Lasso oder Pérez Präsident werde. Nur nebenbei taucht noch die Erinnerung auf, dass der linke Kandidat als Favorit in dieses Rennen steigt. Natürlich, zählt man die Stimmen aller anti-correistischen Parteien zusammen (auch jene des viertplatzierten Unternehmers von der Partei Izquierda Democrática (Demokratische Linke), scheint die Sache klar. Dies ist aber ungewiss, insbesondere wegen der fast 20 % der Stimmen für den Kandidaten der indigenen Partei Patachutik, Yaku Pérez.
Die Ausgangslage (Stichwahl Arauz/Pérez) nach dem Wahltag verleitete viele zur Aussage, der Neoliberalismus sei besiegt und die Stichwahl werde zwischen linken Kräften entschieden. Das ist zwar irreführend, hat aber reale Aspekte. Ein wenig Infos zu den diversen Kräften hilft vielleicht bei der Einschätzung.
Wenig Zweifel gibt es in Bezug auf Guillermo Lasso: Grossbanquier, stringenter Neoliberaler, Opus Dei und sich fürstlich bereichernde Schlüsselfigur beim riesigen Finanzbetrug der 90-er Jahre, der hunderttausende von Menschen in die Emigration zwang.
Komplizierter die Sache mit Pachakutik. Yaku Pérez hatte sich von der mit der indigenen Organisation CONAIE verbandelten Partei Patachutik nominieren lassen, obwohl die einiges relevantere CONAIE eigentlich ihren Chef Jaime Vargas ins Rennen schicken wollte. Vargas und sein vorgesehener Vize, Leonidas Iza, der in der CONAIE den linkeren Flügel vertritt, schluckten das Fait Accompli.
Pachakutik steht rechts. Sie hatte, zusammen mit der CONAIE und einer maoistischen Organisation den Polizeiputsch von 2010 gegen Rafael Correa unterstützt und u.a. schon 2007 Geld vom Washingtoner Regime-Change-Tentakel NDI (National Democratic Institute) erhalten. (Interessant: Auch unter Trump, nicht wirklich bekannt für besondere Sensibilität für feministische oder indigene Inhalte, erhielten zahlreiche ecuadorianische Organisationen mit dem Begriff «indigen», «Mutter Erde» oder «Frauen» im Namen viele, viele Dólares aus Washington.) Yaku Pérez trat als indigener Ökosozialist an, als «Verteidiger des Wassers», als Gegner des Extraktivismus, erhielt Zuspruch aus Extinction Rebellion und gibt sich als radikaler Kämpe gegen Korruption … Irgendwie passt das zu seiner Nähe zur US-Botschaft, der Befürwortung des Neoputschismus in Lateinamerika (bis hin zum Putsch in Bolivien), seiner Hetze gegen Chávez, Cristina Kirchner etc. und natürlich seiner unbeugsamen Bekämpfung des ecuadorianischen Grundübels, nämlich des sog. Correismo (der Kräfte, die unter Rafael Correa regierten). Zu all dem siehe zum Beispiel How Ecuador’s US-backed, coup-supporting ‘ecosocialist’ candidate Yaku Pérez aids the right-wing oder auf Spanisch Respaldado por EEUU, el candidato ‘ecosocialista’ de Ecuador, Yaku Pérez, apoya golpes de estado y ayuda a la derecha.
Yaku Pérez und US-Botschafter Michael Fitzpatrick
Trotz Pérez/Pachakutik kann aber ihre jetzige Wahlbasis nicht einfach als rechts abgetan werden. Am meisten prozentuale Stimmen machte Yaku Pérez in den indigenen Gebieten, wo die Leute sich keineswegs generell an Minen und Erdölförderung erfreuen. Sollte es zur rechten Einheitsfront gegen Arauz kommen, scheint nicht gesichert zu sein, dass diese Orientierung in den indigenen Gebieten auf grosse Zustimmung stösst – kein Wunder nach den Kämpfen im Oktober 2019 gegen das neoliberale Diktat von IWF und Moreno, Lasso u. a. Erst recht nicht, falls der «Heros gegen die Diktatur» den Namen Lasso tragen würde. Pérez argumentiert denn auch, nur er als gemeinsamer Nenner von rechts und «sozialem Widerstand» könne gegen den Correismo gewinnen.
Als Lasso 2017 gegen den vermeintlich correistischen Lenín Moreno angetreten war, hatte er die Unterstützung von Pérez. Der «indigene Rebell» muss mit Blick auf seine Basis den Eindruck eines offenen Arrangements mit Lasso vermeiden, doch eigentlich versteht man sich – wenn’s nicht gerade um die Pfründe geht. Lasso meinte am 12. Februar: «Ich glaube, Yaku Pérez und Guillermo Lasso sind sich viel näher als was jene Analysten sich vorstellen mögen, die uns als entgegengesetzte Extreme sehen.» Und tatsächlich kamen sie an diesem Tag zum Nachprüfungsbeschluss überein (s. den Artikel oben von Steffen Vogel). Der Wahlrat CNE übernahm die Regelung und fügte noch an: «Der CNE verpflichtet sich mit Beteiligung der Wahlbeobachtung der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) zur strikten Befolgung des erreichten Abkommens».
Das hat es in sich. Ricardo Patiño, ein ehemaliger Aussenminister Correas, schrieb aus seinem mexikanischen Exil vorgestern:
«Wir unterstützen jegliche Überprüfung der Stimmen, inklusive Neuauszählung der Wahlzettel, um möglicherweise entstandene Unregelmässigkeiten zu korrigieren (…) Die Überprüfung muss in Übereinstimmung mit dem Wahlgesetz (Art. 138) erfolgen, wonach der CNE in drei Fällen die Urnen überprüfen kann: a) wenn das Informatiksystem die Wahlakte wegen numerischer Inkonsistenz zurückweist, b) wenn die Unterschriften [der Wahltischverantwortlichen] fehlen, und c) wenn [eine Partei] eine Kopie der Wahlakte eines Wahltisches vorlegt, die mit der computerisierten Akte nicht übereinstimmt.»
«Andererseits ist es unerhört, dass der CNE eine öffentliche Debatte der den 2. Rang beanspruchenden Kandidaten unter Ausschluss der anderen 14 Präsidentschaftskandidaten promoviert und sich dann ihren Beschlüssen unterwirft.»
«In ihrer öffentlichen Ankündigung sagte die CNE-Präsidentschaft zudem, dass in diesem Überprüfungsprozess nur die Delegierten der [Abkommenspartner], also der beiden gesuchstellenden Parteien, dabei seien, was inakzeptabel ist. Die Delegierten aller Parteien müssen teilnehmen, die an der Bewachung der Wahlzettel interessiert sind, die nicht ausschliesslich von zwei Parteien behandelt werden können.»
«Falsch ist auch, dass der CNE ohne Begründung nur die OAS zur Beteiligung einladet, aber die anderen internationalen Beobachter ausschliesst. [Zwar wisse er um die Ehrlichkeit der Leiterin der OAS-Delegation, einer ehemaligen Vizepräsidentin von Panama], aber wir erinnern uns an die bösartigen Handlungen der letzten Zeit des OAS-Generalsekretärs Luis Almagro, insbesondere beim Putsch von Oktober 2019 in Bolivien.»
Zusammengefasst: Der CNE und zumindest stillschweigend die OAS unterstützten ein komplett illegales Manöver für die Stichwahl, beide foutierten sich um Gesetze, Regeln etc., beide schlossen die deutlich grösste Partei (und alle anderen) davon aus, eine minimale Überwachungsfunktion wahrzunehmen.
Der «indigene Rebell» hatte grosse Hoffnung auf diese Art von Nachzählung gesetzt, was das Blatt Blatt El Universo so zusammenfasste: Pérez «fügte an, es wäre keineswegs verwunderlich, wenn Arauz vom 1. auf den 3. Rang fiele und Pérez und Lasso in die Stichwahl gingen.» Für die von Pérez zuerst geforderte Nachzählung aller Wahlzettel war Lasso nicht zu gewinnen. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang die folgende Formulierung in El Comercio vom 13. Februar: «Lasso vertrat die Meinung, dass man das Land nicht der Unsicherheit einer totalen Nachzählung aussetzen könne, denn dies würde Andrés Arauz begünstigen, der für die Stichwahl schon gesetzt sei.»
Doch gestern, am 14, Februar, wechselte die Szene erneut. Momentaner Stand: Lasso gibt an, den Deal mit Pérez/OAS/CNE aufzukündigen, mit der Begründung, dieser sei nicht legal, solange ihn nicht alle Parteien mittrügen. Er werde jeden Schritt des CNE anfechten, der nicht von allen an der 1. Runde beteiligten KandidatInnen mitgetragen sei. Denn: «Die Übereinkunft dient der Transparenz der Wahl des Volkes, um einen angeblichen Betrug auszuschliessen, nicht um einen durchzusetzen.»
Die Antwort aus dem Pérez-Lager erfolgte heute: Ecuarunari, die wohl grösste Mitgliedsorganisation der Conaie, kündete an, ab heute Montagnacht regionale Mobilisierungen für einen Marsch aus Quito zu beginnen. Ecuarunari-Präsident, Carlos Sucuzhañay, erklärte: “Wir können nicht zulassen, dass die rechte Oligarchie mit dem Volkswillen spielt.» Der Bürgermeister von Quito behauptete seinerseits, sie sollten nur kommen, in der Stadt wären 3 Millionen, die kein Puff wollten.
Zu der von Steffen Vogel erwähnten Intrige, wonach die kolumbianische Guerilla des ELN seine Kampagne finanziere, wies Andrés Arauz in einem Video schon fast ungläubig darauf hin, dass der Version aus Kolumbien zufolge der Kontakt ELN/Arauz beim Treffen der Internacional Progresista von letztem September stattgefunden habe, dass aber das Treffen wegen Covid-19 virtuell abgelaufen sei. (Diese Progressive Internationale umfasst eine Reihe von AktivistInnen, Organisationen etc. wie Bernie Sanders, Yanis Varoufakis, Noam Chomsky, der bolivianische Präsident Lucho Arce oder eben Arauz.) Dass wie von der Generalstaatsanwältin erörtert, Arauz damit aus dem Rennen fallen könne, macht eher den Eindruck eines weiteren Elements in der Schmutzkampagne denn als reale Drohung. Nur: Wenn die nationale Wahlbehörde offen illegal operiert, um einen intrarechten Deal umzusetzen, und die OAS dabei faktisch mitmacht, sind der Phantasie kaum Grenzen gesetzt.