El Salvador: Wie viel Bitcoin kostet die Tortilla?

Dienstag, 28. September 2021

 

Die Dollarisierung El Salvadors 2001 wurde von der damaligen Rechtsregierung der ARENA-Partei ebenso überfallmässig durchgezogen wie jetzt die von der Regierung von Nayib Bukele angestrebte Bitcoinisierung[1] vom 7. September. Keine Vorwarnung, Parlament nickt subito ab, gegen den manifesten Willen der grossen Bevölkerungsmehrheit. Bukele hatte es nicht einmal für nötig erachtet, die regierte Bevölkerung vorab zu benachrichtigen –sie erfuhr von der Sache erst, als er sie an einer Bitcoiner-Konferenz in Miami am 5. Juni verkündete.

Zur Ungewissheit trägt eine gezielte Konfusionsstrategie bei. Bitcoin-Zahlungen zu akzeptieren werde für «ökonomische Agenten» - wer ist das, auch der Taxifahrer, die Campesina, alle, die etwas verkaufen? – obligatorisch werden, sagte Bukele. So steht es auch im am 7. Juni subito verabschiedeten Gesetz. Der kleinste Teil der Bevölkerung hatte überhaupt eine geringe Ahnung, was eine Kryptowährung sein könnte. 70 Prozent der Bevölkerung lebt von informeller Arbeit. Die Perspektive, innert drei Monaten im Bitcoin-Jet in eine futuristische 1. Welt abzudüsen, weckte wenig Begeisterung. Bukele, an Umfragen und Trendmessungen in den Social Media klebend, schaltete Anfang Juli um. No, no, wer nicht will, muss sich nicht in Bitcoin bezahlen lassen. Die Löhne der Staatsangestellten werden weiter in Dollars bezahlt. Und auch die Heimüberweisungen der Verwandten in den USA können in Dollars erfolgen. Doch insistierte etwa der Rechtsberat des Präsidenten kurz darauf, natürlich müsse das Gesetz eingehalten und Bitcoin akzeptiert werden. Der Finanzminister sprach davon, Löhne und Renten in Bitcoins auszuzahlen. Wer hat Recht: der Präsident oder sein Gesetz? Konfusion, systematisch betrieben.

Der Clan um Bukele propagierte im Land ungebrochen die Wohltaten der Bitcoinisierung, obwohl schon eine Reihe von Meinungsumfragen weit verbreitete Unsicherheit und Ablehnung ermittelt hatten. Die Dimension der letzten Demos gegen das Regime[2] hängt klar damit zusammen.

 

Woher nehmen, wenn nicht stehen?

Dieses Jahr rechnet das dollarisierte El Salvador mit etwas über $ 14 Milliarden Einnahmen: $ 7 Mrd. aus Heimüberweisungen, $ 6 Mrd. aus Exporten, $ 200 Mrd. via ausländische Investitionen und $ 1 Mrd. aus Krediten. Mit der Dollarisierung verlor El Salvador jede Möglichkeit einer eigenständigen Geldpolitik, die Zentralbank überliess diese Funktion dem FED der USA. Resultat: permanenter Bedarf an Dollarerwerb, der auf die erwähnten Quellen reduziert ist. Auf der Ausgabenseite stehen über $ 15 Mrd. an: $ 12 Mrd. für Importe und $ 3.2 Mrd. für die Schuldentilgung. Die gesamte staatliche Verschuldung beträgt $ 23 Mrd. bei einem BIP von $ 26 Mrd., die Hälfte davon ist ausländisch, die andere inländisch (Hauptgläubiger die privaten Rentenkassen).[3] Laut Fusades, Thinktank der traditionellen Oligarchie, stehen bis Ende dieses Jahres $ 1.847 Mrd. Schuldenrückzahlungen an.[4]  Die internationalen Gläubiger werden bei Bitcoinzahlungen weitgehend abwinken, sie wollen hard cash. Die nationalen Gläubiger aber können per Gesetz mit Bitcoin bezahlt werden, sagt der rückwirkende Artikel 13 des anderthalbseitigen Bitcoin-Gesetzes.

Konfusion - nehmen wir das Thema der Heimüberweisungen der MigrantInnen in den USA. Bukele rief die compatriotas dort auf, künftig Bitcoins statt Dollars zu überweisen. Geschähe das massenhaft, spülte es zwar Bitcoins in die Wirtschaft, entzöge ihr aber zugleich dringend benötigte Dollars. Woher die Dollars nehmen, wenn nicht stehlen? Beim IWF? Seit langem sind da «Verhandlungen» wegen eines $ 1.4 Milliardenkredits im Gang, zum Preis einer dramatischen Budgetreduktion in der Höhe von 4 % des BIP. Damit könnte die Regierung einen drohenden Default vermeiden. El Salvador hat zwar aus dem IWF-«Entlastungsprogramm» wegen Covid-19 Sonderziehungsrechte im Wert von $400 Mio. erhalten, die reichen aber lange nicht. Doch der Deal will nicht zustande kommen. Der IWF hat wie andere multilaterale Finanzinstitute ein Gesuch Bukeles um Unterstützung bei der Formulierung einer technischen Bitcoin-Verordnung abgeschlagen. Erstens wegen der Bitcoin-Attraktivität für alle internationalen Mafias und der mit dieser Währung verbundenen unvorhersehbaren Volatilität. Der Bitcoin-Preis hängt eben, da eine private Sache, von der Spekulation einiger Superreicher und Hedgefonds[5] ab, nicht von Notenbankentscheiden. Steuereinnahmen in Bitcoins etwa würden dadurch extrem volatil – ihr Wert kann innert kurzer Zeit massiv fluktuieren. Wie bitte sollen da «nötige» Sozialangriffe akkurat berechnet werden? Und ein weiterer wichtiger Ablehnungsgrund: die «rechtliche Volatilität» der Regierung. Der Justizputsch vom 1. Mai und die kürzlich angeordnete Bukele-genehme «Säuberung» der Justiz (s. Endnote 2) wird vom Fonds etc. als Rechtsunsicherheit taxiert, was Investoren gemeinhin nicht schätzen («und morgen beschliesst das Aas, dass ich meine Gewinne nicht expatriieren darf»).

Woher Dollars nehmen, wenn nicht stehlen? Wie erwähnt, eine Möglichkeit wären die Heimüberweisungen. Die gesendeten Dollars zurückbehalten und in Bitcoins auszahlen. Wie viele EmpfängerInnen da rein technisch (Internetzugang, Handys einer gewissen Güte, Knowhow) überhaupt mithalten könnten, ist fraglich. Derweil müssten die ÜberweisungsempfängerInnen mit dem Auf und Ab des Bitcoins einen «Investorenhabitus» annehmen: «Meine Bitcoins haben gerade an Kaufkraft verloren, bis die Perspektiven aufhellen, verzichte ich auf das Essen für die Kinder und meine Medikamente.» Das könnte politisch für unruhige Zeiten sorgen und drohte, die Wirtschaft weiter zu ersticken. Ein grosses Interesse des Bukele-Clans liegt wohl darin, Bitcoins möglichst zu «popularisieren», um beim unweigerlichen Umtausch in Dollars an den speziellen Wechselautomaten Kommissionen abzusahnen. Sie gehören einer privaten, aber mit Staatsgeldern finanzierten Aktiengesellschaft in den Händen von Bukele-Kadern (s. Endnote 2). Eine andere Möglichkeit verbirgt sich wohl hinter einer ominösen, von Bukele angekündigten «Reform» des privatisierten Rentensystems. Es würde dabei wohl um eine spezielle Art von «Renationalisierung» gehen. Nämlich, die Dollars in die Unternehmen der aufstrebenden bukelistischen Oligarchie[6] umzuleiten. Auch hier hätten wir wieder die Investoreninstinkte: «Ich behalt diesen Monat meine Zitterrente zurück und investiere erst (in mein tägliches Essen etc.), wenn der Coin nach oben saust.»

Zwar hat das bukelistische Parlament während längerer Zeit im Wochenrhythmus grosse Neuverschuldungen abgesegnet, aber wer gibt dem Land noch Kredit? Die inländischen Hauptgläubiger, die AFP, kaufen zurzeit keine kurzfristigen Staatsbonds mehr – sie wissen um die drohende Zahlungsunfähigkeit. Dito hat El Salvador denkbar schlechte Karten bei internationalen Anleihen – in Sachen Länderrisiko in Lateinamerika ist es mit grossem Abstand das Schlusslicht. Dies auf jeden Fall solange, bis es zu einem Abkommen mit dem IWF kommt. China scheint auch nicht in besonderer Spendierlaune zu sein – man betreibt Business, nicht Wohltätigkeit. Wie bedrohlich die Finanzlage des Landes ist, zeigt sich auch darin, dass die Zentralregierung erst kürzlich angekündigt hat, den Gemeinden einen Bruchteil des Geldes zu überweisen, das sie ihnen schuldet. Insbesondere arme Gemeinden hängen von diesen gesetzlich zwingend vorgeschriebenen Transfers von 10 % der nationalen Steuereinnahmen ab. Der «Tatendrang» des Finanzministers erklärt sich damit, dass jetzt auch von der Regierungspartei geleitete Gemeindeverwaltungen hatten dicht machen müssen.

 

Ein «esoterischer» Sturmtrupp

Bukele ist mit einer Gruppe von US-Spekulanten im Bereich der Kryptowährungen verbandelt. Figuren dieser «Community» liessen am Tag des Inkrafttretens des Bitcoin-Gesetzes am 7. September ein rauschendes Fest an der Küste des Landes steigen. Sie kamen im Privatjet ins Land, im Anhang bekannte Influencers aus den Social Media und dem Showbusiness (USA). 150 Drohnen zeichneten im Nachthimmel das Symbol für Bitcoin, das Nationalwappen El Salvadors und andere Schönheiten. Die Schar labte sich spirituell an einer Maya-Zeremonie, ass einheimische Gerichte und war voller Zukunftsoptimismus. Zentral mit dabei Brock Pierce, der schon im Juni von Bukele als «Bitcoin-Botschafter» empfangen worden war. Der frühere Hollywood-Kinderstar hat mit virtuellen Videogames und Kryptowährungen eine Milliarde gemacht, war beruflich mit Steve Bannon und einem weiteren Kader von Cambridge Analytica verbunden und ist wiederholt wegen Pädophilie und krimineller Geschäftsführung ins Visier der Justiz mehrerer Länder geraten, ohne je verurteilt zu werden. Der Mann ist Mitgründer von Tether (einer angeblich stabil an den Dollar angebundenen Kryptwährung, einer sog. stablecoin – anscheinend will der Bukele-Clan eine derartige Währung zusätzlich zu Bitcoin in El Salvador einführen). 

In der Mitte: Brock Pierce und andere Hip-People. Foto: El Diario de Hoy.
 

Er leitete eine Gruppe Bitcoin-Spekulanten, die nach dem schlimmen Wirbelsturm María 2018 in Puerto Rico einfielen, um dort steuerbegünstigt eine Art Bitcoin-City aufzubauen, während die historische Vertreibung der lokalen Bevölkerung einen neuen Höhepunkt erreichte.[7] Pierce und seine Clique hatten es damals auch mit Spirituellem und versammelten sich etwa um einen alten «Baum des Lebens». Gleichzeitig repetierte einer der Gruppe, der IT-Unternehmer Halsey Minor, das Mantra der «schöpferischen Zerstörung»: «Während es [der Sturm} für die Menschen von Puerto Rico wirklich schlimm war, ist es langfristig ein Himmelsgeschenk».[8] Ein weiterer Blockchain-Unternehmer meinte: «Wir sind wohltätige Kapitalisten und bauen eine wohltätige Wirtschaft auf. Puerto Rico hat diesen versteckten Kern; diese Insel ist ständig übersehen und misshandelt worden. Vielleicht machen wir es 500 Jahre später richtig.» Am Himmelsgeschenk starben 5’000 Menschen, die Behörden wollten mit enormen Steuervergünstigungen einer milliardenschweren Bitcoin-Community in futuristischem Ambiente neue Gewinnchancen eröffnen, und die Heuschrecken gaben sich antikolonial.

Der Mix von Eso und Abfeiern der «schöpferischen Zerstörung», den einige Bitcoiners offenbar pflegen, erinnert frappant an die New-Age-Strömung der 70er und 80er Jahre. Damals sinnierten «Hippies» und frühe Stürmer der IT-Zerschlagung des Sozialen über Buddha und wie sich von LSD angeturnte Gehirne mit NASA-Computern kurzschliessen liessen. Resultat: statt Sehnen nach selbstbestimmtem Leben profit-maximierende flexible Arbeitszeiten, statt Reise nach innen eine Militarisierung des Weltalls, und der Aufbruch in die Freiheit endete bei Google. Heute sagt Pierce zur Bukele-Regierung: «Man sieht selten eine Regierung mit dem Mind eines unternehmerischen Start-ups handeln».[9]

Keine schlechte Charakterisierung des Regimes.

 

Die Armen aussaugen

Inklusion: ein Zauberwort nicht nur für die Bitcoin-Akteure in El Salvador, sondern auch für Organisationen wie der IWF. Gemeint, dass die Menschen, die bisher nicht am formellen Finanzgeschehen «partizipieren» konnten, nun einbezogen werden sollen. Das ist die o. e. Wohltätigkeitsrhetorik, die Bitcoiners und IWF verbindet. Real geht es darum, jetzt dank niederschwelliger IT-Offensiven auch in diesen Klassen abschöpfen zu können. «Wohltätige» Unternehmen, oft im Verbund mit den grossen IT-Buden, bieten etwa Apps für Zahlungsverkehr per  Handys, andere Apps etwa dienen dem Bauer, der Bäuerin, per Drohnen gewonnene Wetterinformationen für die vom fernen Kunden gewünschte und von ihm mit Minikrediten angestossene Agrarproduktion wie bestellt abzuliefern etc. Eine noch kapillarere Form der Unterwerfung unter ein zentralisiertes Produktionskommando. Sie intensiviert die weiterlaufenden «solidarischen Minikredite», wo die Begünstigte noch eine oder zwei Stunden früher aufstehen darf, um ganz unternehmerisch die Kredite zurückzahlen zu können. Von Befreiung von Armut keine Spur.[10]

 

 «Avantgardistische Vision» abgestürzt

Warum Bitcoins das fehlende Bankkonto, also das fehlende Einkommen, ersetzen soll, bleibt ein Geheimnis. Aber sie sollen wohl die Türen für neue Abschöpfungsinitiativen öffnen. Dafür müssten die Leute allerdings mitmachen. Das ist der springende Punkt: Sie wollen nicht. Es hat sich rumgesprochen, ist Wissen auf dem Markt und in der Beiz: Bitcoin ist wie Casino, für Reiche, nix für uns. César Villalona kommentierte: «Das Gesetz ist eine Totgeburt. Du gehst auf die Märkte, in die Geschäfte, und Bitcoin wird nicht benutzt und wird es auch nicht werden. Ich glaube, am Schluss werden sie den Bitcoin-Hype lassen, um sich ihren eigentlichen Zielen zu widmen: dem Geschäft mit den Wechselautomaten, der Kursspekulation einiger Reicher und der Geldwäsche» (s. Endnote 3).

Von daher sind Erklärungen mit dem Profitinteresse an den Wechselautomaten, der Umwandlung des Landes in ein möglichst globales Casino für schwerreiche Spekulanten und dem massiven Interesse an der Geldwäsche der nationalen und ausländische Mafias einsichtiger.

Dieser «avantgardistische» Laborversuch mit Bitcoinisierung dürfte, was allfällige Verschärfungen von IT-gesteuerten Aussaugoffensiven betrifft, an der «Sturheit» der Leute, die checken, dass das ihre Sache nicht sein kann, scheitern. Auch dank des Umstandes, dass organisierte Impulse aus den sozialrevolutionären Segmenten der Linken diese Sturheit in eine für das Regime unheilvolle Manifestation gegen die IT-gesteuerte «Schöne Neue Welt» pushen konnten. Was trotz Kryptoeinschränkungen in China, denen vermutlich auch anderswo welche folgen werden, zu bleiben droht, ist die angestrebte Umwandlung des Landes in die Spielwiese eines globalen Casinos für Superreiche. Casino, Spekulation, Geldwäsche – modern transnational. Wer wird wohl die Kosten dann tragen, wenn Reiche und aufspringende Segmente der Mittelschichten ihre Steuern in Bitcoins zahlen, die aber leider, einmal in den Schatullen des Staates, massiv an Wert verlieren? Bestimmt kommen weitere Sozialoffensiven dieser Art. In Honduras soll eine entstehende, extraterritoriale «Modellstadt» zur Bitcoin-City werden. Dort ist die gleiche Clique aktiv, die einen ersten Ansatz in Puerto Rico versucht hatte und in El Salvador ihre Fiesta steigen liess. Auch in Honduras eingebettet in ein heimeliges «libertäres» Ambiente: Mafias, Militarisierung, Tendenz der Staatsprivatisierung.




[1] Als Kurzeinführung in das Thema Kryptowährungen: nzz.ch, Die Digitalwährungen im Detail (nzz.ch/finanzen/der-druck-auf-den-bitcoin-nimmt-zu-dieser-faellt-auf-35-000-dollar-ld.1336477)

[3] Angaben nach Videokonferenz ~22.9.21. Universidad Autónoma de Santo Domingo mit dem Ökonomen César Villalona.

[4] La Prensa Gráfica, 15.9.21: Exministro descarta un impago en 2021.

[5] Laut einer Anhörung im US-Kongress hält heute ein Siebtel der Hedge Funds zwischen 10% - 20% der Portfolien in Kryptowährungen. An den Krypto-Börsen herrscht Wildwest, die Hedge Funds müssen ihre Kryptoaktiven nicht offenlegen, für deren Erwerb werden fleissig Kryptokredite angeboten, die vor allem von Hedge Funds dafür in der ersten Hälfte dieses Jahres hinterlegten Sicherheiten haben sich um den Faktor 25 auf $ 50 Mrd. erhöht. Dieser Securities-Markt ist heute grösser als es der für Subprime-Hypotheken 2008 war. Platzt diese Blase – oder wird sie finanztechnisch zum Platzen gebracht - steht eine extreme Krise an. Quelle: truthout.org, 7.7.21: Cryptocurrency may Wreak Havoc on Economy – Especially People With No Assets.

[6] Unter der FMLN-Regierung waren 2 % aller Staatsausgaben (v. a. Geheimdienstliches) im staatlichen Transparenzportal nicht detailliert dargestellt. Heute sind es 60 %. Für letztere gibt es jahrelange Infosperren. Gerade hat die Regierung diese Sperre für den ominösen «Nationalen Gesundheitsplan verlängert, «zum Schutz der PatientInnen», wie sie sagt. Dies umfasst auch alle Ausgaben im Zusammenhang mit der sich im Land wieder massiv verschärfenden Covid-19-Lage. Unter solchen Bedingungen könnten auch Milliarden von Rentengelder verschwinden, selbst bei einer kurzfristigen Rentenaufbesserung.

[7] Corrreos 191, 12.9.18: Superreiche Kryptowesen gegen Eingeborene.

[8] New York Times, 2.2.18: Making a Crypto Utopia in Puerto Rico.

[9] cryptoeconomist.ch, 13.9.21 : Bitcoin in el Salvador, Brock Pierce looks to the future. https://en.cryptonomist.ch/2021/09/13/bitcoin-in-el-salvador-brock-pierce-future/

[10] Anschaulich der Artikel Digitaler Kolonialismus in Heft IV auf https://capulcu.blackblogs.org/

 

CHIAPAS – AM RANDE EINES BÜRGERKRIEGES

Dienstag, 21. September 2021

 https://enlacezapatista.ezln.org.mx/2021/09/20/chiapas-am-rande-eines-burgerkrieges/

KOMMUNIQUÉ DES GEHEIMEN REVOLUTIONÄREN INDIGENEN KOMITEE –GENERALKOMMANDANTUR (CCRI – CG) DES EJÉRCITO ZAPATISTA DE LIBERACIÓN NACIONAL – EZLN.

Mexiko.

September 2021.

An den Pueblo Mexikos.
An die Pueblos der Welt.
An die Sexta Internacional und Internacional
An das Europa von unten und links.

Erstens.- In den Morgenstunden des 11. September 2021, als die zapatistische Flug-Delegation sich in Mexiko Stadt befand, entführten Mitglieder der ORCAO (1) – paramilitärische Organisation im Dienste der Regierung des Bundesstaates Chiapas – die Compañeros SEBASTÍAN NUÑEZ PEREZ und JOSE ANTONIO SANCHEZ JUAREZ, autonome Verantwortliche des Rates der Guten Regierung [des Caracol] Patria Nueva, Chiapas.

Die ORCAO ist eine politisch-militärische Organisation paramilitärischen Zuschnitts. Sie besitzt Uniformen, Ausrüstung, Waffen und Munition, die sie sich mit dem Geld aus den sozialen Programmen [der Regierung] beschafft. Einen Teil davon behalten sie selbst und den anderen Anteil erhalten die Regierungsbeamten, damit sie öffentlich sagen, die Unterstützungprogramme werden erfolgreich umgesetzt. Mit ihren Waffen beschießt die ORCAO jede Nacht die zapatistische Gemeinde MOISÉS Y GANDHI.

Die EZLN hat die Geduld bewahrt, bis die möglichen Kanäle für eine Lösung erschöpft waren. Während die Regierung des Bundesstaates Chiapas [die Befreiung der beiden Compañeros] lediglich sabotierte und störte, waren es Organisationen der Menschenrechtsverteidigung und die fortschrittlichen [Teile der] katholischen Kirche, die mit Gerechtigkeitssinn genauestens auswerteten, was geschehen könnte.

Zweitens.- Die Compañeros waren 8 Tage lang ihrer Freiheit entzogen – und sie wurden heute, am 19. September 2021, befreit – dank der Interventionen der Pfarreien von San Cristóbal de las Casas und Oxchuc, die zur Dioziöse von San Cristóbal de las Casas gehören. Den Compañeros wurden ein Funkgerät und 6.000 Peso geraubt, die dem Rat der Guten Regierung gehören.

Drittens.- Das Delikt einer Entführung wird laut Gesetzen der schlechten Regierung und laut den  zapatistischen Gesetzen bestraft. Während die Regierung des Bundesstaates von Chiapas diese Verbrechen vertuscht, dazu ermuntert und nichts tut, ging der Ejército Zapatista de Liberación Nacional – EZLN dazu über, die notwendigen Mittel zu ergreifen, um die Entführten zu befreien und die für das Verbrechen Verantwortlichen festzunehmen und zur Rechenschaft zu ziehen.

Viertens.- Dass der Konflikt nicht bis zu einer Tragödie eskaliert ist, lag an dem Eingreifen der erwähnten Pfarreien, den Organisationen der Menschenrechtsverteidigung und den Mobilisierungen und öffentlichen Protesten, die in Mexiko und vor allem in Europa, umgesetzt wurden.

Fünftens.- Die Miss-Regierung von RUTILIO ESCANDÓN tut alles, damit der südöstliche mexikanische Bundesstaat Chiapas destabilisiert wird:

– Sie unterdrückt mit großer Gewalt die Normalistas, die Student*innen der ländlichen Normal-Schulen.

– Sie sabotiert die Vereinbarungen zwischen der demokratischen Lehrer*innen-Gewerkschaft und der mexikanischen Staatsregierung und zwingt die Lehrer*innen, sich radikal zu mobilisieren, damit diese Vereinbarungen erfüllt werden.

– Ihre Bündnisse mit dem Drogenhandel erzeugen, dass sich die Comunidades originarias (2) gezwungen sehen, Selbstverteidigungsgruppen zu bilden. Denn die Regierung tut nichts, um Leben, Freiheit und Güter der Einwohner*innen zu schützen. Die Regierung von Chiapas vertuscht nicht nur die Drogenhändler-Banden, sondern ermutigt, fördert und finanziert paramilitärische Gruppen, – wie jene, die unausgesetzt die Gemeinden von Aldama und Santa Martha angreifen.

– Sie führt eine gewollt langsame und ungeordnete Impfpolitik durch, die Streit und Ablehnung zwischen der ländlichen Bevölkerung provoziert – und es wird nicht lange dauern, bis diese explodieren. Währenddessen steigt die Anzahl der COVID-Toten in den Comunidades, den Gemeinden, ohne dass sie beachtet wird.

– Von den öffentlichen staatlichen Geldern rauben die Funktionäre, die Regierungsbeamten, das, was sie ergattern können. Möglicherweise bereiten sie sich derart auf einen Zusammenbruch der mexikanischen Regierung vor oder setzen auf einen Parteienwechsel an der Macht.

– Jetzt ging es darum, die Abfahrt der zapatistischen Delegation – die an der Reise für das Leben, Kapitel Europa – teilnimmt, zu sabotieren: indem sie ihren Paramilitärs der ORCAO die Entführung unserer Compañeros anordneten, dieses Verbrechen straffrei ließen und versuchten, eine Reaktion der EZLN zu provozieren – mit dem Ziel den Bundesstaat zu destabilisieren, dessen Regierbarkeit an einem Faden hängt.

Sechstens.- Wenn das Ziel der Grünen Ökologistischen Partei Mexikos (PVEM) darin besteht, ein Problem zu schaffen, welches internationale Auswirkungen haben wird, sowie das Regime an der Macht zu destabilisieren – wäre es wohl besser, wenn sie sich auf die »Volksbefragung zur Aufhebung-Bestätigung des Präsidentschaftsmandat« (3) zurückgreifen würden.

PVEM ist einer der Namen, den der langjährige PRIismus (4)  in Chiapas benutzt. Manchmal nennt er sich PAN, manchmal PRD, gegenwärtig tritt er schlecht verkleidet als  MORENA-Partei (5) auf. Es sind dieselben Kriminellen von früher – und heute sind sie Teil der schlecht benannten »Oppositions«-Bewegung – als »5. Kolonne« der 4T (6).

DIE VERANTWORTLICHEN SIND: Rutilio Escandón und Victoria Cecilia Flores Pérez (7).

Falls sie die aktuelle Staatsregierung stürzen wollen, oder Schwierigkeiten bereiten wollen als Repressalie gegen die Strafverfolgungen, die gegen sie laufen, oder innerhalb einer der Fraktionen  mitspielen wollen, die sich um die Regierungsnachfolge in 2024 streiten – dann sollen sie doch ihre legalen Kanäle, zu denen sie Zugang haben, nutzen – und es sein lassen, mit Leben, Freiheit und Gütern der Menschen in Chiapas ihr Spiel zu betreiben. Wählt oder ruft zum Widerruf des Regierungsmandates (3) auf – aber hört auf, mit dem Feuer zu spielen, denn Ihr werdet verbrennen.

Siebtens.- Wir rufen das Europa von unten und links und die Sexta Nacional und Internacional dazu auf, vor den mexikanischen Botschaften und Konsulaten und in den Gebäuden der Regierung des Bundesstaates Chiapas zu demonstrieren – um zu fordern, dass die Provokationen eingestellt werden und sie ihren Todes-Kult, dem sie nachgehen, aufgeben.

Datum: Freitag, 24. September 2021.

Angesichts der Handlungen und Unterlassungen der bundesstaatlichen und staatlichen Regierungsverantwortlichen gegenüber dem aktuellen und den vorherigen Verbrechen – werden wir die angemessenen Mittel einsetzen, damit Recht und Gerechtigkeit angewandt und umgesetzt werden – gegen die Kriminellen der ORCAO und die Regierungsfunktionäre, die sie fördern.

Das ist alles. Bei nochmaligem Geschehen wird es kein Kommuniqué geben. Das heißt: Es werden keine Worte sondern Taten folgen.

Aus den Bergen des Südosten Mexikos.
Im Namen des CCRI – CG.

Subcomandante Insurgente Galeano.
Mexiko, 19. September 2021.

 

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Anmerkungen der_die Übersetzer_in:

(1) ORCAO: Organización Regional de Cafeticultores de Ocosingo: »Regionale Organisation der Kaffeeanbauer von Ocosingo«
(2) wörtlich übersetzt: »originäre/ ursprüngliche Gemeinden«; hier gemeint sind: Gemeinden von Pueblos originarios in Chiapas.
(3) Diese soll offiziell am 27. März 2022 stattfinden, um das Regierungsmandat der jetzigen Regierung zu bestätigen oder zu widerrufen.
(4) Korrupte Strukturen und Klientel-Politik der über 70 Jahre herrschenden PRI-Partei (»Partei der institutionalisierten Revolution«)
(5) Namen mexikanischer Parteien. Die jetzige Regierungspartei unter dem Staatspräsidenten Andrés Manuel López Obrador (AMLO) nennt sich »Bewegung der nationalen Erneuerung« (MORENA).
(6) 4T: sogenannte »Vierte Transformation«; die jetzige offizielle, neoliberale Regierungspolitik unter AMLO
(7)  Rutilio Escandón: Gouverneur des Bundesstaates Chiapas; Victoria Cecilia Flores Pérez: Innenministerin von Chiapas

 

El Salvador: Von Angst zu Widerstand …

Montag, 20. September 2021

 

(zas, 20.9.21) Am 16. September wollte die Regierung den Bicentenario feiern, den 200. Jahrestag der Befreiung von der spanischen Krone. Unter seiner Regierung, so Präsident Nayib Bukele, werde das Land seine wahre Unabhängigkeit erreichen. Wie das? Aktuell gerade mit Bitcoin, der Kryptowährung, die seit dem 7. September «neben» dem US-Dollar offizielle Landeswährung ist – eine Weltpremiere. Am 5. Juni kündigte Bukele das per Video einer begeisterten Bitcoin-Konferenz in Miami an, zwei Tage später hatte die bukelistische Parlamentsmehrheit in gewohntem Arbeitstempo den früh morgens gelieferten Gesetzestext abgesegnet. Wie üblich, konnte man sich bürokratische Umtriebe wie Studien, Konsultationen etc. sparen –der Text kam schliesslich vom «Presi»! Erneut zeigtedas allseits bewunderte El Salvador der Welt, wie man Dinge anpackt.

Zwei Dinge trübten am 7. September die Freude. Zum einen hatte der Bloque  de Resistencia y Rebeldía Popular an diesem Tag eine Bitcoinprotestdemo mit ca. 1’200 TeilnehmerInnen durchführen können. Der Bloque  ist ein Zusammenschluss von Sozialorganisationen. Er steht der in der jetzigen Leitung der FMLN-Partei nicht vertretenen Corriente Revolucionaria Socialista nahe. 200 RichterInnen stiessen zur Schlusskundgebung hinzu. Sie protestierten gegen einen vom Bukele-Parlament gerade ergangenen Beschluss für die obligatorische Pensionierung von RichterInnen ab 60 Jahren. Betroffen ist rund ein Drittel der MagistratInnen, ihren Ersatz soll das Bukele gehorchende Oberste Gericht ernennen, nicht mehr der nationale Gerichtsrat. Die Chefetage der Judikative hatte Bukele gleich am ersten Arbeitstag seiner neuen Parlamentsmehrheit zusammen mit dem Generalstaatsanwalt in einem offenen Verfassungsbruch mit gehorsamem Personal ersetzt. Verschiedene Protestaktionen von Ex-Soldaten und Ex-Guerillas (nicht wenige ehemalige Bukele-WählerInnen) gegen die drastische Beschneidung ihrer Renten und Bitcoin in den vorausgegangenen Wochen zeigten, dass die Popularität der sich selbst als «coolsten Präsidenten der Welt» vermarktenden Figur Risse bekommt. Eindrücklich war Ende Juli schon eine kämpferische, vom Bloque und von autonomen studentischen Zusammenhängen organisierte kämpferische Demo gewesen. Es ging dabei um die Erinnerung an ein grosses Massaker 1975 von Studierenden und gegen die neue Militarisierung des Landes. Diese Mobilisierungen liessen spüren, dass die Zeit der politischen Lähmung zur Linken langsam zu Ende ging.

Vernichtende Wahlniederlagen, die grosse Popularität des auf Entrüstungsmanagement via Hassreden und Social Media spezialisierten Präsidenten, das Damoklesschwert der Pandemie hatten eine halbwegs saubere Aufarbeitung schwerer Fehler des FMLN, aber auch zynischer, oft jedoch verinnerlichter Demoralisierungskampagnen alter und neuer Rechter enorm erschwert. Hinzu kam eine neue, verbreitete Angst hinzu. Tausende von nicht-genehmen Staatsangestellten waren entlassen worden, die Justiz ist weitgehend ein Hilfsorgan der Exekutive, die brutale Selbstherrlichkeit von Armee und Polizei erreicht seit der Pandemie neue Gipfel, ein Spitzelwesen wird propagiert, selbst Personen und Institutionen der traditionellen Oligarchie sollen mit Betriebsschliessungen oder etwa Strafandrohungen wegen Steuerhinterziehungen gezwungen werden, die aufstrebende  Oligarchie um die Regierungsclique als Familienoberhaupt anzuerkennen (s. zu einigen Aspekten El Salvador: Tendenz zum Faschismus).

Es handelt sich um eine für El Salvador neue Form der Angst. Im Krieg, hört man, war die Angst, gefoltert, verschwunden zu werden, im Kampf zu fallen. Heute ist sie diffuser, dafür verbreiteter. Offenbar wird El Salvador «modern». Wenn ich in den Beschreibungen mancher Compas manchmal einen verwunderten Unterton über die lähmende Angst vor Stellenverlusten höre, muss ich an den «deutschen Herbst» mit seinen Berufsverboten denken, als etwa LehrerInnen schleichend nicht nur Fragen zur «Terrorismusbekämpfung», sondern generell linke Inhalte vermeiden sollten. Oder wenn ein studentischer Aktivist davon berichtet, dass bei kleinen Protestaktionen mehr filmende Militärs als TeilnehmerInnen zu verzeichnen sind, dürfte das nicht so Wenige hierzulande an eigene Erlebnisse gemahnen. Auch die Antwort – Blitzdemos zur Vermeidung eines Kessels – fällt in diese Rubrik. Lähmende Angst, Selbstzweifel («waren wir korrupt?») gepaart mit der grossen Popularität des Präsidenten, der Arroganz der Sicherheitskräfte in vielen «unpolitischen» Alltagsepisoden inklusive etwa der schikanösen Militarisierung traditioneller FMLN-Gebiete im Departement Chalatenango, der angelaufenen Verdoppelung der Armeebestände zwecks Bekämpfung des «inneren Feindes» (O-Ton Bukele) oder der offenkundigen Absprachen zwischen Regime und Maras wirkten wie ein Narkosemittel. Das scheint sich zu ändern.

Zum andern wollte am 7. September keine Freude über die Einführung von Bitcoin aufkommen, weil sie technisch misslang. Trotz der immensen Regimepropaganda für die tollen Wechselautomaten Bitcoin/Dollar, bei denen du nach Gusto zwischen den beiden Währungen pendeln darfst, crashte die Software landesweit. Out of service, no bitcoin. Bekannt ist, dass die Automatensoftware  von Personal aus dem venezolanischen Regime-Change-Lager stammt, dessen Kader im Bukele-Apparat dem kommunen Kabinett gegenüber weisungsbefugt sind. Zu den an der Bitcoinisierung El Salvadors beteiligten Unternehmen hat man nur Infosplitter aus ausländischen Kryptowährungsmedien. Die Kabinettschefin Carolina Recinos sitzt in der Leitung der staatlich finanzierten, aber zwecks Umgehung der staatlichen Rechnungskontrolle privatrechtlich aufgestellten AG, welche die rund 250 Wechselautomaten betreibt. (Sie war, wie ihr Mann, der jetzige Botschafter in Italien, vor über 20 Jahren am Versuch einer Machtübernahme im FMLN durch nach rechts «offene» Kräfte beteiligt). Sie funktionierte nicht wie gewünscht, die App, aber Informatiker hatten sie schon untersucht und herausgefunden, dass sie (also das Regime) Zugriff auf alle Daten, Kamera, Mikrofon etc. des Handys hat. Nicht gerade der Sachverhalt, den man mit der dezentralisiert über viele Computer rund um den Globus funktionierenden Blockchain-Verschlüsselungssoftware assoziiert.

Feindliche Demo? Abgestürzte Einführung von Zauber-Coin? Kein Problem, teilte Bukele per Twitter mit: «Wie jede Innovation, weist der Bitcoin-Prozess in El Salvador eine Lernkurve auf. So ist jeder Weg in die Zukunft, man kann nicht alles in einem Tag erreichen. Aber wir müssen mit den Paradigmen der Vergangenheit brechen. El Salvador hat das Recht, in Richtung 1. Welt zu schreiten.»

Doch dann kam der Nationalfeiertag vom 15. September. Schon seit Wochen mobilisierte der Bloque für einen zentralen Protest in der Hauptstadt gegen Diktatur, Sozialangriff und Bitcoin. Er löste damit eine überraschende Lawine aus. Rund 50 Organisationen und NGOs, auch solche aus dem bürgerlichen Lager, schlossen sich an. (Diese Dynamik unter dem leicht schwammigen Begriff der «Zivilgesellschaft» zusammenfassen, greift zu kurz.) Mindestens 20'000 Menschen waren an den drei Sternmärschen dabei gewesen, beteiligte Sozialorganisationen sprechen von 40'000. Kurz: Die vom Bukelismo immer verächtlich abgetane «Rumpfopposition» blüht auf. Nicht irgendeine möglichst institutionell orientierte Opposition, sondern eine auf der Strasse, trotz Twitter oder Facebook immer noch das reale Terrain der gesellschaftlichen Kämpfe. Die zahlreichen Inhalte am Protest drückten überwiegend linke, soziale Positionen aus. Es gab durchaus bürgerliche Kräfte in der Mobilisierung, orientiert am Idealbild der liberalen Demokratie. Sie schlossen sich an diesem Tag der Linken an, nicht umgekehrt. 

Schlusskundgebung am 15. September.
 

Demo vom 15. September. Foto: Revista Factum.

Die Demo vereinte so ziemlich alles, was an emanzipatorischen Kämpfen existiert. Da waren unübersehbar die Feministinnen, die die vom Regime geleugneten Frauenmorde und Entführungen und die faktische Komplizenschaft von Regime und Maras bekämpfen. Da waren die Organisationen gegen die Privatisierung des Wassers, wie sie das Bukele-Lager mit einem neuen Gesetz anstrebt (15 Jahre Verfügungsrecht für Unternehmen über immense Wassermengen, zugunsten etwa der Luxusgrosssiedlung Valle del Ángel der Oligarchenfamilie Dueñas bei der Hauptstadt, was binnen weniger Jahre zu schweren Problemen mit der Wasserversorgung in Bevölkerungszentren zu führen droht, oder etwa zugunsten des Coca-Cola-Abfüllers SABMiller). Da waren die linken Gewerkschaftsverbände, die Entlassenenorganisationen, die EinwohnerInnen auf den Schienengeländen der vor Jahrzehnten stillgelegten Eisenbahn, die jetzt wegen eines Megaprojekts (der tren pacífico) von Räumung bedroht sind. Da waren die AgrarproduzentInnen, deren Mais-, Milch- oder Reisproduktion das Regime mit dieses Jahr weiter hochgefahrenen Importen aus Mexiko kaputt macht (angeblich gekauft bei Unternehmen der Drogenkartelle. Im oberen Importsegment hocken viel Leute aus der engsten Regierungsriege). Da waren die LGBTI-Communities und speziell die Transmenschen mit ihrem Kampf gegen die andauernde Gefahr, ermordet zu werden. Da waren die grossen studentischen Kontingente mit Tanzeinlagen und radikalen Parolen. Da waren Gruppen der indigenen Völker, die von der Bukele-Regierung wieder marginalisiert werden, dafür aber für Tourismuswerbung herhalten sollen. Da waren die RichterInnen, die sich gegen ihre politische «Säuberung» und gegen Bevormundung durch ein regierungshöriges oberstes Gericht zur Wehr setzen. (Einer ihrer Wortführer, Antonio Durán, veröffentlichte vor wenigen Stunden über Twitter, dass Polizei- und Armee-Angehörige vor seinem Haus stünden. Eine klare Einschüchterung, die an die Vorgänge bei der Verhaftung von ehemaligen FMLN-Regierungsmitgliedern erinnert. Ein anderer bekannter Richter hat eine Vorladung der Bukele-hörigen Generalstaatsanwaltschaft erhalten). Da waren die nirgends Organisierten, die ihrem Gewissen folgten. Da waren JournalistInnen, die sich gegen eine Hasskampagne der Regierung wehren. Und wichtig: Da waren die FMLN-AktivistInnen zusammen mit den «antipartidarios», den linken Strömungen, denen so etwas wie eine Partei ein Graus ist. Auf der Strasse, im Kampf gegen das neuartig faschistische Regime, fanden sie zusammen.


"Ich tausche dir mein Bitcoin für alle verschwundenen Schwestern". Bild: Gato Encerrado.

"Ich war nicht im Krieg, damit die Diktatur zurückkehrt."

 Worin bestand die Regimefeier dieses Tages, für die sich Bukele vom Parlament $ 1 Million hatte umbuchen lassen? In einer Ansprache in der Casa Presidencial vor diplomatischem Korps und Armeeeinheiten, die obligatorisch über alle TV- und Radiokanäle gesendet wurde. Sie beinhaltete zentral, neben wie gewohnt verlogener Versprechen neuer Wohltaten, eine wütende Attacke auf die gewalttätigen DemonstrantInnen und solches Tun finanzierende ausländische Regierungen. Er sei kein Diktator, habe bisher die Sicherheitskräfte nicht gegen Demos eingesetzt, aber das könne sich ändern, denn die seien gewalttätig. Von wegen «kein Diktator» nur ein Beispiel: Der frühere markant rechte Bürgermeister von San Salvador, Ernesto Muyshondt, ein Feind des als Arbeitsminister fungierenden Mafioso Rolando Castro, ist von Bukeles Generalstaatsanwalt wegen angeblicher Korruptionsdelikte in Untersuchungshaft gebracht worden. Seit Juli hat ein Gericht vier Mal die Verlegung des offenbar an einer neurologischen Krankheit leidenden Mannes in Hausarrest mit Fussfesseln angeordnet. Er ist weiter im Gefängnis. Zur Gewalttätigkeit der markant friedlichen Demo: Stunden vor ihrem Beginn verbrannte eine Gruppe Vermummter ein zuvor auf der Demoroute abgestelltes Motorrad ohne Nummernschild, was dem Wachpersonal des gegenüberliegenden Kinderspitals aufgefallen war. Anscheinend die gleiche Gruppe Vermummter mit Baseballschlägern versuchte Stunden später vergeblich, sich der Demo anzuschliessen. Sie wurde aus einem Wagen mit identischer Marke und Nummer wie die eines bei früheren Werbeaktionen für die Regierung fotografierten Wagens eines Staatsbetriebs versorgt. Bevor sie abzog, zertrümmerte die Gruppe fotogen einen Bitcoin-Wechselautomaten. Die den Event filmenden «Journalisten» wurden als Mitglieder einer bukelistischen Gemeinderegierung und eines für die «Arbeit mit Jugendlichen in Marazonen» zuständigen Büros Bukeles identifiziert, das als Schaltstelle des Regimes zu den Maras fungiert.

Das Bemerkenswerteste an der «Feierrede» des Präsidenten: Mit keinem Wort erwähnte er die seit Anfang Juni aus allen Rohren propagierte Bitcoin. Er sprach aus der Defensive. Zum ersten Mal seit seiner Wahl haben die Bewegungen auf der Strasse, hat die linke Opposition Fakten geschaffen, mit denen er nicht zu Schlag kam. Seine zukünftige Antwort macht aber die ein obskurer Vorgang deutlich: Ein Wagen des salvadorianischen Konsulats in Long Island, New York, ist gestern Sonntag früh anscheinend in Brand gesteckt worden. Sofort verbreitete Bukele einen Tweet weiter, der dafür FMLN und ARENA, in der Regimediktion zwei Seiten der gleichen Medaille verantwortlich macht. Diese, kommentierte er, «werden nicht so einfach weg gehen. Sie zeigten schon, dass sie zu allem bereit sind.» Das Aussenministerium sprach von einem «terroristischen Anschlag» und verlangt von den US-Behörden eine «verstärkte Sicherheit» für seine diplomatischen Vertretungen.