Dramatische Lage in Haiti

Sonntag, 9. Oktober 2022

3 Artikel:

1.      1. «Von Verzweiflung und Wut» Thema: Warum die Revolten in Haiti gegen die Kolonialarroganz der «internationalen Gemeinschaft» unterstützt werden muss.

2.      2. «Die Regierung von Haiti bittet um eine ausländische Militärintervention» - eine aktuelle Nachricht des haitischen Portals Alterpresse.

3.      3. «Steht ein Entscheid für weitere Intervention bevor?» Informationen zum «humanitären» Aufgleisen eines neuen Militäreinsatzes.

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Von Verzweiflung und Wut

Seit drei Wochen lebt Haiti im Zustand des Aufstands. Auslöser ist die brutale Preiserhöhung des Treibstoffs. Es geht nicht nur darum, die Gründe für die Revolte zu benennen, sondern vor allem darum, erneut zu vertreten, dass die Haitierinnen und Haitier Recht haben, sich aufzulehnen.

Frédéric Thomas*

Seit der Bekanntgabe der Verdoppelung des Benzinpreises am 11. September befindet sich Haiti im Aufstand. Die Strassen sind verlassen, die Quartiere verbarrikadiert und die Städte leben im Rhythmus der Demonstrationen, die da und dort in Tumulte umschlagen. Wie bei der Volkserhebung von 2018/19 gegen teure Lebenskosten und Korruption, Oligarchie und Ungleichheiten befindet sich Haiti im Modus peyi lock[1].

Die Plünderung und der Brand eines Lagers des Welternährungsprogramms (WFP), der grössten UNO-Organisation hat die internationale Gemeinschaft aufgebracht.[2] Die Reaktionen scheinen schärfer zu sein als beim Massaker in einem Armutsviertel der Hauptstadt Port-au-Prince letzten Juli – über 300 Ermordete. Es stimmt, damals ging es nur um einen weiteren Höhepunkt im Zusammenbruch eines unregierbaren Landes, und die «befreundeten» Länder waren mit einem weit ernsthafteren und wichtigeren Dossier beschäftigt: der Erneuerung der UNO-Mission vor Ort, deren klarer Misserfolg das Mass für ihre Diskreditierung abgibt.[3]

Im Ton des an verwöhnte Kinder gerichteten Tadels, die ihr Spielzeug kaputt gemacht haben, hat das WFP den Angriff und die Zerstörung seines Lagers deutlich verurteilt und betont, die geplünderte Nahrung hätte zehntausende von Familien ernähren sollen. Solche Akte seien «inakzeptabel», versicherte es. Aber sind das die Instrumentalisierung des Terrors und der bewaffneten Banden, die Systematisierung der Vergewaltigungen, die Straffreiheit und bedingungslose Unterstützung für eine illegitime Regierung, die die Gangsterisierung des Staates beschleunigt, nicht eben so sehr, wenn nicht mehr?

Das «Inakzeptable» erleiden die Haitier und mehr noch die Haitierinnen jeden Tag, seit Monaten. Ist es akzeptabel, die Gründe dafür zu verschweigen, die Akteure und Verantwortlichen nicht zu benennen, nichts über die Ungerechtigkeit zu sagen, die Verquickung des humanitären Narrativs von der humanitären Praxis mit den Dispositiven der Kontrolle und der Unterordnung, die dieses Inakzeptable zulassen und unterhalten, nicht zu vereiteln?

Mit den Säcken von Nahrungsmitteln verbrannte auch die Illusion, in der sich die internationale Gemeinschaft wog, dass nämlich alle ihre Hilfe sie von den Fehlern und Verantwortungen für die aktuelle Lage weisswasche und in den Augen der haitischen Bevölkerung wieder freikaufe. Man beklagt so bitter, dass die HaitierInnen – diese Undankbaren – nicht einerseits zwischen der UNO als Lieferantin von humanitärer Hilfe und als Echokammer Washingtons und Bollwerk gegen jede Veränderung andererseits unterscheiden. Und man staunt auch wegen der Ablehnung der internationalen Gemeinschaft en bloc, und dass niemand die unterschiedlichen Grautöne des Neokolonialismus, der Ausrichtung auf das Weisse Haus und der diplomatischen Erblindung zu beachten mag.

 


Logische Revolten

 Ist es so überraschend, dass die so verzweifelte und verarmte haitische Bevölkerung sich erhebt, um ihren Überdruss anlässlich der Ankündigung der Verdoppelung des Preises für Treibstoff, von dem die ganze Wirtschaft abhängt, durch einen Premier ohne Mandat und Legitimität auszudrücken? Offenbar ja für Diplomaten und Funktionärinnen der internationalen Organisationen. Gefangen in ihrer ideologischen Sichtweise und obsediert von der makroökonomischen Stabilität, opfern sie Fakten und Volkswut und kümmern sich um Gouvernance und Wiederherstellung des Systems, das, so verrottet es auch ist, ihnen am besten entgegenkommt.

Gibt es keinen Aufstand, denken sie, dass ihre Diplomatie funktioniert und die Dinge sich zum Besseren wenden. Kommt es zur Revolte, führen sie das auf die Manipulation durch Bandenchefs zurück, überzeugt, dass es vorbeigeht. Ihre Politik des Negierens negiert auch das Politische; sie radiert die Motive und Forderung der Erhebung aus und versucht, die befolgte Strategie in ein Bündel von humanitären und Sicherheitsmassnahmen – Ausbildung und Ausrüstung der haitischen Polizei, die gegen DemonstrantInnen eindeutig wirksamer ist als gegen bewaffnete Banden – zu klopfen.

Das Nichtanerkennen des Scheiterns dieser Strategie und des Veränderungswillens der Haitier und Haitierinnen führt zu einer Flucht nach vorne ins Spektakel. So verkündet der haitische Aussenminister im Sicherheitsrat der UNO, dass im Land «alles unter Kontrolle ist»[4], während die diversen Vertreter der internationalen Gemeinschaft ihre Besorgnis, ihre Verpflichtung auf die Menschenrechte und ihren Ruf nach einer haitischen Krisenlösung wiederholen.

Dabei wurde eine haitische Lösung schon vor mehr als einem Jahr vom Accord Montana vorgeschlagen, in dem extrem viele zivilgesellschaftliche Akteure und Akteurinnen zusammenkommen. Sie haben sich auf Bedingungen und Etappen einer «Transition zum Bruch» verständigt. Leider handelt es sich dabei in den Augen Washingtons und seiner Kumpane nicht um eine «gute» Lösung und nicht um das «gute» haitische Volk. Man müsse im Gegenteil so rasch wie möglich zu Wahlen schreiten.

Die Absurdität, mit einer korrupten und unfähigen Regierung, die mit den bewaffneten Banden, die jetzt den Grossteil von Port-au-Prince kontrollieren, verbandelt ist, Wahlen gegen die grosse Mehrheit durchzusetzen und davon eine Stabilisierung des Regimes und Legitimierung der Macht zu erwarten, erklärt sich nur mit der Ablehnung jeder Volksalternative, die zwangsläufig der Kontrolle des Weissen Hauses entglitten wäre.[5]

In den internationalen Reaktionen auf die Rebellion in Haiti lassen sich drei Schrecken erkennen: vor den Schwarzen, vor den Bevölkerungen des Südens und vor der «Plebs». Logisch, mit 7000 km Distanz und vollem Bauch ist es angesagt, der aufständischen Romantik zu misstrauen. Aber wichtig wäre, sich des paternalistischen Blicks und des falschen Mitleids, die in der Revolte einen Unfall oder einen Fehler sehen, zu entledigen. Die derzeitige Erhebung hat die Positionen geklärt. Die Haitierinnen und Haitier haben den ihnen zugewiesenen Platz – dem einer bevormundeten, «von oben» verwalteten und zur Abhängigkeit von einer ausweglosen humanitären Hilfe verurteilten Bevölkerung – verlassen. Sie haben damit das Schloss des Status Quo und der Beherrschung gesprengt und gleichzeitig den internationalen Zynismus und seine Doppelbödigkeit entlarvt. Und ihre Optionen auf den einfachsten Ausdruck gebracht: isoliert, im Schoss der Familie, die Angst vor Entführung und Vergewaltigung, die Gewalt der Verachtung und der Beherrschung erleiden, oder ihnen gemeinsam auf der Strasse zu begegnen. Mit dem Risiko eines neuen, von den bewaffneten Banden angerichteten und von der Macht ferngeleiteten Massakers.

 Man muss es sagen und nochmals sagen: Nicht nur haben die Haitier und Haitierinnen Grund zur Revolte, sondern einzig die Revolte öffnet die Möglichkeit eines Wandels, indem sie erlaubt, sic von der doppelten Unterwerfung unter die Oligarchie und die internationale Gemeinschaft zu lösen.

·        https://www.cetri.be. 3 octobre 2011. Haïti : de désespoir et de rage. Der Autor ist Politwissenschaftler und Studienleiter beim belgischen Centre Tricontinental (CETRI).


[1] Anm. Correos. Sinngemäss: Alles steht still im Land.

[2] rfi.fr.com, 16 septembre 2022. « Haïti : manifestations, pillages et axes routiers bloqués »..

[3] alterpress.org, 27 juillet 2022. Roromme Chantal : « L’Onu, le Phtk et la criminalité en Haïti »,.

[4] courrierinternational.com, 28 septembre 2022 : « En Haïti, tout va très bien Madame la Marquise ».

[5] cetri.be, 10 mai 2022. Frédéric Thomas : « Haïti : l’aveuglement international ».

 

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Die Regierung von Haiti bittet um eine ausländische Militärintervention

 

Alterpresse*

 

Laut dem Portal der US-Zeitung Miami Herald  haben der De-facto-Premier Ariel Henry und sein Kabinett am Donnerstagabend, 6. Oktober 2022, vereinbart, von der internationalen Gemeinschaft eine Militärhilfe zu erbitten. Das schriftliche Begehren soll laut der Zeitung, die mehrere mit der Sache vertrauten Quellen zitiert, heute an die Alliierten Haitis verschickt werden.

Die De-facto-Regierung präzisiert nicht, woher diese ausländischen Streitkräfte kommen sollen. Sie gibt nur an, dass es diese Hilfe für die Verteilung des Treibstoffes und Massnahmen gegen die tödliche Cholera-Epidemie brauche.

Kurz nachdem die Minister dem Verlangen zugestimmt haben, zirkulierten in verschiedenen Landeszonen Gerüchte von einer Demission Ariel Henrys. Sofort haben viele Personen den Abgang des De-fact-Regierungschefs auf den Strassen gefeiert (…) Das Kommunikationsbureau des Premiers musste auf Facebook schnell ein Dementi der vor allem über Social Media verbreiteten Information publizieren.

(…)

Die Anfrage von Henry kam am Ende eines Tages, an dem die UNO und ihre humanitären Partner die bewaffneten Gangs inständig gebeten haben, der Regierung von Haiti und der internationalen Gemeinschaft einen «humanitären Korridor» zu gestatten, damit, schreibt der Miami Herald, der Treibstoff im ganzen Land verteilt werden könne.

Seit Montag, dem 12. September 2022, wird das wichtigste Ölterminal des Landes in Varreux, in der Gemeinde Cité-Soleil nördlich der Hauptstadt von einer bewaffneten Bande blockiert. Das zwingt die Spitäler zu schliessen, die Schulen die Eröffnung des neuen Schuljahres zu verschieben und die Wasseraufbereitungsanlagen einen Produktionsstopp zu verordnen.

Am gleichen Tag hat der Generalsekretär der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS), Luis Almagro, der diese Woche an der Generalversammlung der OAS in Lima, Peru, teilnimmt, auf Twitter Haiti aufzurufen, «eine dringende Hilfe der internationalen Gemeinschaft zu verlangen».  Almagro gab bekannt, anlässlich des 52. Gipfels der OAS an einem Treffen zu Haiti mit US-Aussenminister Anthony Blinken, der kanadischen Aussenministerin Mélanie Jolie und dem haitischen De-facto-Aussenminister Jean Victor Geneus teilgenommen zu haben.

 

·        aus alterpresse.org, 7.10.22: Le gouvernement d’Haïti sollicite une intervention militaire étrangère

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Steht ein Entscheid für weitere Intervention bevor?

 

(zas, 8.10.22) Alterpresse hat mittlerweile das erwähnte Kabinettschreiben veröffentlicht (« Déploiement immédiat » d’une force étrangère spécialisée armée en Haïti). Festgehalten ist darin das Ersuchen nach einer «sofortigen Entsendung einer spezialisierten bewaffneten Armee mit genügender Stärke, um im ganzen Territorium die unter anderem wegen der aus den kriminellen Aktionen der bewaffneten Gangs resultierenden Unsicherheit mitverursachte humanitäre Krise zu beenden». Nur so könne schnell «ein Sicherheitsklima» geschaffen werden, das u. a. «einen wirksamen Kampf gegen die Cholera» erlaube.

(Ebenfalls gestern zitierte Alterpresse aus einer Stellungnahme der Menschenrechtsorganisation Sant Karl Lévèque Folgendes: «Die aktuelle Treibstoffkrise hat nicht nur mit einer schlechten Regierung zu tun, sondern vor allem damit, dass eine entschlossene ökonomische Gruppe den Staat in Geiselhaft genommen» hat. Und weiter: «Es gibt keinen Willen, die Lagerung [der Treibstoffe] zu dezentralisieren, denn die Benzin-Konzentration in Port-au-Prince erleichtert einerseits die Lähmung der Aktivitäten und andererseits den für den mafiösen Kreis profitablen Mangel.)

Am letzten 8. August veröffentlichte OAS-Chef Almagro ein Statement zu Haiti, das absurderweise in diversen progressiven Portalen positiv gewürdigt wurde. Almagro hatte nämlich die «Präsenz» der sog. internationalen Gemeinschaft in Haiti in den letzten 20 Jahren (also seit dem US-franco-kanadischen Sturz der Regierung Aristide) als «einen der schlimmsten und klarsten Misserfolge» der besagten Gemeinschaft bezeichnet. Die Freude schien damit zu tun haben, dass Almagro etwas sagte, das man selber schon lange vertritt. Im Stil: «Er gibt es zu». Vielleicht auch, dass Almagro en passant Töne spuckte, die man als progressiv zu interpretieren beliebte: «Die internationale Gemeinschaft, die internationalen Finanzinstitute, das multilaterale System und die internationale Finanzgemeinschaft der Geberländer stehen vor der Entscheidung, ob sie Haiti ausreichend industrialisieren wollen, um Arbeitsplätze für 9 Millionen HaitierInnen zu schaffen, oder ob es wirtschaftlich profitabler ist, weiter haitische MigrantInnen zu absorbieren».   

Sein Hauptanliegen war, die internationale Intervention zu verschärfen. Zuerst hämmerte er den alten Refrain ein: Haiti ohne «uns» ist verloren. Haiti sei unterentwickelt und es herrsche viel Gewalt, und da will man «uns glauben machen, eine komplett endogene haitische Lösung könne gedeihen. Das wird nicht der Fall sein.» Und die internationale Gemeinschaft habe versagt, einen funktionierenden Staat aufzubauen. «Wir müssen uns bewusst sein, dass was wir mehr oder weniger einen gescheiterten Staat und eine schwache und verwundbare Gesellschaft sehen. Die schlimmste aller Welten: ein schwacher Staat und eine schwache Zivilgesellschaft.»  

Almagros «Lösung»: «Ein vertrauenswürdiger, fairer, transparenter Wahlprozess» und «ein institutionalisierter Sicherheitsprozess für das Land», selbstredend auf der Basis eines von der internationalen Gemeinschaft unterstützten möglichst breiten «Dialogprozesses aller politischen Kräfte, die dafür zusammengebracht werden können» (dafür zusammengebracht …!).

Transparenter Wahlprozess? Die OAS hat seit vielen Jahren sämtliche Wahlen in Haiti massiv verfälscht. Sicherheit? Da weiss Almagro ein Beispiel für eklatantes Versagen der internationalen Gemeinschaft zu nennen: «Es ist diese internationale Gemeinschaft, die nie wusste, ob sie die Minustah weiterführen oder abschaffen wollte.» Diese UNO-Mission mit Schwergewicht auf Sicherheitskräfte aus vielen Ländern existierte bis Oktober 2017. Sie war verantwortlich für enorme Repression und den Aufbau eines fürchterlichen Polizeikorps – und sie war entsprechend verhasst. So sehr, dass schliesslich auch eine Mehrheit der sie tragenden Ländern ihres Ersatzes durch eine abgespeckte UNO-Mission zustimmen musste. Almagro sagt das auf seine Weise: «Wenn wir auf die derzeitige Lage in Haiti schauen, verstehen wir, warum interne Kräfte – mit externer Komplizenschaft – die Minustah abschaffen wollten.»

Was verlangen die Grossdemonstrationen, die das Land wieder aufwirbeln? Ein zentraler Inhalt ist: «Internationale Gemeinschaft» - hau ab! Die Basisbotschaft der OAS ist: Nur das nicht!

Protest in Haiti.
 

Almagros August-Statement verhiess Ungutes.  Jetzt, nachdem die nie real bekämpften paramilitärischen Strukturen im Entstehen gegen die rebellische Bewegung für unerträgliche Zustände sorgten, scheint sich eine neu-alte Besatzungsmodalität herauszubilden.

Ein weiteres Indiz dafür ist der Aufruf der Organisation internationale de la francophonie (Oif) zu einer nationalen und internationalen Mobilisierung zur Abwendung einer humanitären Katastrophe, wie Alterpresse gestern berichtete. Diese Organisation (bei der die Schweiz Mitglied ist) hatte sich auch rund um den Sturz der Regierung Aristide, auch damals besorgt um edle Anliegen, als imperialistisches Organ profiliert. Die New York Times berichtete gestern im Zusammenhang mit der «Bitte» von Ariel Henry um eine neue militärische Besatzung: «Eine der Fragen, die sich der Biden-Administration stellen, ist, welche Schwelle Haiti überschreiten muss, damit die USA die Unterstützung für die Entsendung einer UNO-Peacemaker-Kraft in Betracht ziehen, wie ein/e hohe/r Offizieller der Administration sagte.»