Agrarmilizen in Rondônia an der Macht

Donnerstag, 1. Dezember 2022

Die brutale Gewalt gegen die Bauern geht auf die Zeit der Militärdiktatur zurück, hat aber mit der extremen Rechten an der Spitze des Präsidentenamtes zugenommen.

Murilo Pajolla*

Auf der einen Seite stehen 16’000 Familien von landlosen ArbeiterInnen, die sich seit drei Jahrzehnten im Kampf für eine Agrarreform organisiert haben. Auf der anderen Seite eine ländliche Miliz aus Schlägern und Polizisten, ausgestattet mit einem Budget von 450 Millionen R$ ($ 87 Millionen) und unter dem Kommando des grössten Landräubers in der Geschichte der Region. Dies sind die beiden Seiten im ungleichen Landkrieg in Rondônia[i], wo sich die Leichen der bäuerischen Führungen Bauernführer unter Zustimmung der traditionellsten Familien in Politik und Justiz anhäufen.

Der Ursprung der Konflikte liegt in der von der Militärdiktatur geförderten Landkonzentration, die den reichen Anhängern des Regimes die Erlaubnis gab, grosse Teile von Land im Bundesstaat zu besetzen. Die Machtübernahme von Jair Bolsonaro (PL), der die Landlosen als "terroristische Gruppe" bezeichnet hat, hat die Agrarmilizen und die dahinterstehenden Grossgrundbesitzer gestärkt.

Am 17. November zerschlug eine Operation der Polícia Federal (PF, Bundespolizei) eine Agrarmiliz, die sich aus Zivil- und Militärpolizisten zusammensetzte und an den meisten Morden an Landlosenkadern in Rondônia beteiligt war.

Bei der Aktion wurden 32 Haftbefehle und fünf Durchsuchungs- und Beschlagnahmebeschlüsse und Entlassung aus dem öffentlichen Dienst umgesetzt. Die Namen der Festgenommenen wurden von der Bundespolizei nicht veröffentlicht.

Die in diesem Monat eingeleitete PF-Operation bestätigt die Anschuldigungen der Volksbewegungen auf dem Lande, die einen relativen Rückgang der Gewalt voraussagen, zumindest bis sich die Miliz wieder organisiert.

 

Wer ist der Anführer? 

Die PF (Bundespolizei) gab die Namen der an der Miliz beteiligten Personen nicht bekannt, aber Brasil de Fato fand heraus, dass der Hauptanführer der kriminellen Organisation der Grossgrundbesitzer Antônio Martins dos Santos, genannt Galo Velho (alter Hahn), ist. Nach Angaben der PF ist er der Anführer eines Plans zur Invasion und illegalen Besetzung von öffentlichem Grund und Boden unter häufigem Einsatz von Bewaffneten. Galo Velho wurde bereits im Jahr 2020 unter diesem Verdacht verhaftet, lebt aber heute ein angenehmes Leben in Brasilia.

Dank der Abschaffung des Bankgeheimnises fanden die Ermittler heraus, dass die Miliz 450 Millionen R$ umgesetzt hat. Der Betrag ist fast 30-mal höher als das Budget der Polícia Militar (PM)[ii] von Rondônia für 2022. Diese Zahl erstaunt selbst diejenigen, die die gewalttätigen Aktionen der Miliz genau verfolgen.

"Das ist eine beeindruckende Summe", sagt Valdirene Oliveira, allgemeine Ombudsfrau des Büros für staatliche Pflichtverteidigung (DPE-RO). "Aber wenn wir die gigantischen, zu Tage geförderten Besetzungsprojekte anschauen, wird klar, dass dieser Betrag der für das Gebiet vorgesehenen Ausweitung der Landwirtschaft und Viehzucht entspricht", erklärt sie.

Im Jahr 2020 wurde bei der ersten PF-Operation gegen Galo Velho die Beteiligung des Bundesrichters Herculano Martins Nacif aufgedeckt, der 2015 bei einem Verkehrsunfall ums Leben kam. Der Richter entschied zugunsten des Grileiro[iii] Landräubers) bei betrügerischen Klagen und dem Erhalt von Entschädigungen mit überhöhten Beträgen.

 

Putsch gegen Dilma stärkte Miliz

Nach Angaben der DPE-RO ist dies das erste Mal, dass eine polizeiliche Untersuchung auf eine direkte Beteiligung von Polizeibeamten an den Milizen hinweist. Die Berichte von BäuerInnen und Volksorganisationen thematisierten wiesen jedoch bereits seit mindestens sechs Jahren diese Realität.

"Das Narrativ über die Beteiligung von Staatsbediensteten an der Miliz hat seit dem Regierungswechsel im Jahr 2016 an Konsistenz und Ausmass gewonnen", erklärt die Ombudsfrau.

Die Massnahmen der DPE-RO betreffen 16,5 Tausend Familien, die in Rondônia von Räumung bedroht sind: 9,2 Tausend in ländlichen Lagern und 7,3 Tausend in städtischen Gebieten. Sie sind auf 62 Gebiete in 22 Gemeinden verteilt. "Nicht mitgezählt sind die, die von Volks- oder Privatanwälten betreut werden", sagt Valdirene.  

Sie erinnert daran, dass Michel Temer[iv] im Juli 2017 ein Gesetz gebilligt hat, das die Vergabe von endgültigen Titeln an Grileiros von Unionsland erlaubt. In der Praxis bedeutete eine Ermächtigung für die Grossgrundbesitzer, mit Gewalt gegen die Volksbesetzungen in Rondônia vorzugehen.

Im Jahr 2021 führte der Bundesstaat die Zahl der gewaltsamen Todesfälle aufgrund von Konflikten auf dem Lande mit 11 Todesopfern an. Nach Angaben der Pastoral-Land-Kommission (CPT) wurden die Verbrechen weder untersucht noch geahndet. Es wird vermutet, dass die meisten von ihnen von der Miliz von Galo Velho begangen wurden.

"Die Schuldigen werden nicht bestraft", sagt CPT-Mitglied Maria Petronila aus Rondônia. "Mehr noch als die Morde beunruhigt die Tatsache, dass die Täter selbst Polizisten waren, laut deren Aussagen es sich um eine Konfrontation gehandelt habe. Aber wir haben bei diesen «Zusammenstössen» nie Polizisten gesehen, die mit irgendwelchen Verletzungen weggegangen wären", sagt sie.

Zu den ständigen Zielscheiben der Gewalt gehören die Bewohner des Lagers Tiago dos Santos in Nova Mutum (RO), in dem zweitausend Familien der Liga dos Camponeses Pobres (LCP, Liga der armen Bauern), einer im Bundesstaat tätigen Landlosenorganisation, leben. Das Lager befindet sich auf einem von Galo Velho  angeeigneten Land; Galo Velho besitzt einen Hof von der doppelten Grösse der Stadt Porto Velho in Rondônia.

 

Polícia Militar im Landlosencamp Nova Mutu,

Bolsonaro droht, dann wird massakriert

Am 7. Mai 2021 war Bolsonaro in Rondônia, um eine Brücke einzuweihen, die den Bundesstaat mit Acre verbindet. Der Präsident sprach eine Drohung aus, die er Monate später mit Hilfe des Força Nacional  de Segurança Pública  (FNSP)[v] wahrmachen wollte.

"LCP [Liga dos Camponesos Pobres], macht euch bereit. Was ihr tut, wird nicht kostenlos sein. Hier ist kein Platz für eine terroristische Vereinigung. Wir haben die Mittel, euch zu disziplinieren, damit ihr Gesetz respektiert", rief der Präsident.

Die Rede wurde von Bolsonaro-Anhängern, die bei der Veranstaltung anwesend waren, mitverfolgt. Darunter der gewählte Gouverneur von São Paulo, Tarcísio de Freitas (Republikaner), sowie der Gouverneur von Rondônia und Oberst der Militärpolizei (PM) Marcos Rocha (Union).

Im August desselben Jahres wurden bei einem Überfall, bei dem auch Hubschrauber Força Nacional zum Einsatz kamen, drei Bauern getötet: Amarildo Aparecido Rodrigues, sein Sohn Amaral José Stoco Rodrigues und Kevin Fernando Holanda de Souza. Nach Angaben der LCP war die Miliz von Galo Velho an der Aktion beteiligt.

 

Anwältin verteidigt Agrarreform

Für die bekannte Anwältin Lenir Correia, die die Familien von Tiago dos Santos verteidigt, war die von der Bundespolizei aufgelöste Miliz nicht nur für die Todesfälle, sondern auch für die Umzinglung der BäuerInnen des Lagers verantwortlich. Ausserdem verbrannten sie Hab und Gut der Familien, wie Autos, Motorräder und Häuser. "Wir hoffen, dass die Union eine Wiederaneignungsklage mit dem gerechten Ziel der Ansiedlung von mehr als 2.000 Familien, die bereits dort leben, einreicht", sagte die populäre Anwältin gegenüber Brasil de Fato.

In Rondônia sind nach Angaben des CPT 20 Personen von Angehörigen der Polizei und der Miliz mit dem Tod bedroht. Sie sind in das Schutzprogramm für MenschenrechtsverteidigerInnen aufgenommen. Eine von ihnen ist die Mutter eines der Opfer des Massakers auf der Tucumã-Farm, wo zwei Landlose von Bewaffneten ermordet wurden. "Diese Frau hat ernsthafte psychische Probleme", sagt Maria Petronila vom CPT. " Von ihrem Sohn immer noch keine Spur. Die Leiche des anderen Opfers wurde verbrannt, sie kam in einem Auto zum Vorschein. Aber ihr Sohn ist nie aufgetaucht", klagt sie.

 

Von der Diktatur zum Landraub

Die Ombudsfrau von Rondônia (DPE-RO) sagt, dass der Ursprung des Konflikts in den Landkonzessionen liegt, die von der Militärdiktatur 1964 an reiche Familien aus dem Süden und Südosten Brasiliens vergeben wurden. "Es waren Familien, die das Regime unterstützt haben", fügt Valdirene von der DPE-RO hinzu. Diese Landbesitzer, die die Diktatur politisch unterstützten, durften das Land im Rahmen der Kolonisierung des Amazonasgebietes nutzen, sofern sie die Entwicklung der Region förderten, was praktisch nicht geschah. "Die Familien hatten Beziehungen mit Politikern und Richtern", sagt die Ombudsfrau.

Indem sie mit diesen Gebieten wirtschaftlich spekulierten und sie ohne produktive Aktivitäten hielten, hielten sich die Konzessionäre der ländlichen Grundstücke nicht an die Klauseln in den mit der Bundesregierung abgeschlossenen Verträgen. Dennoch wurden sie nie bestraft und blieben Eigentümer des Landes.

Nach dem Ende der Diktatur setzten sich die Volksbewegungen, darunter auch das MST, für die Besetzung unproduktiver öffentlicher Ländereien ein, mit dem Ziel, diese für eine Agrarreform zu nutzen. Daraufhin gingen die Landbesitzer in die Offensive und setzten einen Kreislauf der Gewalt auf dem Land in Gang, der bis heute anhält. 

"Diejenigen, denen es gelang, diese Gebiete zu behalten, obwohl sie sich nicht an die Klauseln hielten, waren diejenigen, die zwangsläufig zu diesen schweren Konflikten innerhalb des Staates führten", sagt Valdirene.

"Sie beanspruchen das Eigentum an diesen Grundstücken, weil die Union ihnen damals die Nutzung der Grundstücke gestattet hat. Da sie aber diese soziale Funktion nicht erfüllten, sollten die [ländlichen] Grundstücke aus rechtlicher Sicht zurückgenommen werden. Aber das war nie der Fall", erklärte das Mitglied des Büros für Pflichtverteidigung.

Como as milícias rurais dominaram Rondônia e quem é o homem por trás da mais poderosa delas

 

·       brasildefato.com.br. 28. 11.22: Como as milícias rurais dominaram Rondônia e quem é o homem por trás da mais poderosa delas



[i] Nördlicher Bundesstaat in Brasilien.

[ii] Trotz des Namens zivile Polizeicorps unter der Leitung der Gliedstaatsregierung.

[iii] Grilagem: Landraub mit gefälschten Grundbuchangaben.

[iv] De-facto-Präsident nach dem institutionellen Putsch gegen Dilma Rousseff.

[v] Nationale Kraft der öffentlichen Sicherheit. Ein Organ unter Leitung des Justizministeriums, das Sicherheitskräfte auf nationaler Ebene koordinieren soll.