Venezuela: Frauen, Feminismus und der Aufbau der Volksmacht

Dienstag, 9. Juli 2024

  Venezuela / Soziale Bewegungen / Politik

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Feministische Organisationen in Caracas bauen Alternativen für politische Partizipation, Autonomie und den Kampf gegen Gewalt auf

Frauen bei einer Versammlung von Tramuco
Frauen bei einer Versammlung von Tramuco

Dass Frauen an der Spitze lokaler Kämpfe stehen, ist nicht nur in Venezuela zu beobachten und auch nichts Neues, sondern seit langem in der politischen Theorie und Praxis auf der ganzen Welt der Fall. Die Alltagserfahrungen der Frauen sind ein entscheidender Faktor: Sorgearbeit ist Frauenarbeit, und damit diese so kollektiv wie möglich gestaltet werden kann, wird das Gemeinschaftsleben zu einer Notwendigkeit.

Für dessen Organisation ist von grundlegender Bedeutung, dass die Bedürfnisse von Haushalt, Gemeinschaft und die der unterschiedlichen Generationen, die Sorgearbeit benötigen, berücksichtigt werden. In Venezuela haben Frauen ihre Widerstandsfähigkeit unter Beweis gestellt, und sie stehen im politischen Kampf an vorderster Front, von Aktivitäten des täglichen Lebens bis hin zu weit gefächerten kollektiven Prozessen.

Im Folgenden geht es um die Erfahrungen venezolanischer Frauen bei der Organisation und Mobilisierung für eine Gesellschaft, in der das Leben im Mittelpunkt steht und die frei von Gewalt ist. Die Berichte, die wir hier teilen, wurden vom 18. bis 21. April während der Konferenz der Bolivarischen Allianz für die Völker Unseres Amerikas - Handelsvertrag der Völker (Alba-TCP) und der Nationalen Volkskonsultation ¡Proyectos del pueblo! (Volksprojekte) in mehr als 49.000 Gemeinderäten in 24 Bundesstaaten des Landes zusammengetragen.

Frauen und öffentliche Teilhabe

In der Bolivarischen Revolution sind viele Erfahrungen zu verzeichnen. Wir konzentrieren uns hier auf die Erfahrungen mit der Volksmacht. Die Kommunen (comunas) sind eine von der venezolanischen Regierung anerkannte Form der sozialen Organisation in den Territorien. Seit der Verabschiedung des "Organischen Gesetzes bezüglich der Kommunen" im Jahr 2010 wurden mehr als 3.000 Kommunen registriert. Jede hat ihre eigene Struktur, einschließlich der Kommunalen Räte. Sie alle treffen sich auf der höchsten Ebene der lokalen Beratung ‒ der Bürgerversammlung ‒, wo sie Forderungen entwickeln, Prioritäten festlegen und die Gemeinschaft organisieren.1

Am 21. April 2024 konnten wir an einem bahnbrechenden Prozess zur Organisation der Volksmacht teilnehmen: Zum ersten Mal stimmten die Bürger darüber ab, welche Projekte in ihren Kommunen Priorität haben sollten. Jede Kommune stellte sieben Projekte vor, und jeder Bürger hatte das Recht, für eines dieser Projekte zu stimmen, das dann mit Bundesmitteln realisiert werden sollte.

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Ausgesuchte Projekte bei der Volksbefragung
Ausgesuchte Projekte bei der Volksbefragung

Wichtig ist auch, wie ein Projekt durchgeführt werden soll. Die Gelder werden auf das Konto der einzelnen Kommunen überwiesen, die alles selbst in die Hand nehmen: Sie nehmen die Bewertungen vor und bauen die notwendigen Strukturen auf, mit ihrer eigenen Arbeitskraft und vorrangig mit Materialien, die in der Kommune produziert werden, wobei sie entweder eigene Leute einstellen, häufig jedoch auf kollektive freiwillige Anstrengungen setzen, je nach den Bedürfnissen und Kapazitäten jedes Einzelnen.

Sowohl die Regierung als auch die Kommunarden schätzen, dass 80 Prozent der Menschen, die sich in der Bewegung engagieren, Frauen sind, die praktische kommunale Prozesse aufbauen. Diese Beteiligung wurde in den Wahlzentren deutlich. Fast jedes Mal wurden wir von Frauen empfangen ‒ lokalen Führungspersönlichkeiten, die mit den Forderungen und der Bevölkerung vor Ort verbunden waren. Es ist kein Zufall, dass es bei vielen Projekten um die Trinkwasserversorgung oder die bauliche Verbesserung von Häusern oder Gemeindebüros sowie den Bau von Gemeinschaftsräumen ging.

In den Kommunen sorgen die Frauen für die Nachhaltigkeit des Lebens im weitesten Sinne. Im Rahmen ihrer Selbstorganisation arbeiten sie derzeit an der Durchführung des ersten nationalen Treffens der Kommunardinnen. Dieses Treffen wird ein Meilenstein sein, um diejenigen zu fördern, die an der Spitze dieser Prozesse stehen und die Macht des Volkes von der Basis aus unterstützen. Und es wird ein Raum sein, in dem die Frauen gemeinsam die spezifischen und unterschiedlichen Erfahrungen formulieren können, die sie beim Aufbau dessen gemacht haben, was sie als kommunalen Feminismus bezeichnen.

Transformierende Erfahrungen

Über den territorialen Bereich hinaus organisieren sich venezolanische Frauen an verschiedenen Fronten des Kampfes, um die Nachhaltigkeit des Lebens zu sichern.

Eine dieser Erfahrungen mit Gemeinschaftsarbeit ist die Produktionsgenossenschaft "Transformation, Frauen, Gemeinschaft" (Tramuco). Die 45 Frauen, die dem 2023 gegründeten Kollektiv angehören, organisieren in den Hauptstadtgemeinden Antímano, La Vega, Sucre, Altagracia, San Agustín, Coche und Valle ein gemeinschaftliches, partizipatives System zur Entsorgung und Wiederverwertung fester Abfallstoffe. Die von den Frauen in Eigenregie durchgeführte Arbeit zielt auf die Wiederverwendung von Glas, Papier und Plastik ‒ Materialien, die gepresst und an die Industrie verkauft oder als Recyclingprodukte von den Gemeinden gehandelt und vertrieben werden.

Während der Gründung der Kooperative wurden in jedem einzelnen Gebiet die spezifischen Probleme in Sachen Abfallwirtschaft untersucht.

"Dabei waren die Menschen und Unternehmen vor Ort beteiligt. Daraufhin wurden Schulungs- und Austauschsitzungen mit den Frauen, die in der Kooperative arbeiten, und den Menschen aus den Gemeinden abgehalten", erklärt die Tramuco-Vorsitzende Luz Daza aus La Vega. Die erste Herausforderung habe darin bestanden, die Arbeit der Kooperative zu integrieren: "Im Laufe der Zeit wuchs unser Selbstverständnis als Mitglieder der Organisation, als Frauen, die ihr Wissen austauschen und Teil dieser Familie sind."

Barbara Quintero ist 21 Jahre alt und gehört zu den Mitgliedern der Kooperative. Während des Treffens am 19. April, bei dem die Statuten der Kooperative festgelegt wurden, sagte sie: "Die Kooperative ist ein Raum, der die Gemeinschaft würdigt, und zwar durch Arbeit aus einem ganz und gar feministischen Managementmodell."

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Arbeitstreffen des Tramuco-Kollektivs. Es organisiert ein gemeinschaftliches, partizipatives System zur Abfallentsorgung in mehreren Gemeinden
Arbeitstreffen des Tramuco-Kollektivs. Es organisiert ein gemeinschaftliches, partizipatives System zur Abfallentsorgung in mehreren Gemeinden

Sie unterstreicht die kollektive und individuelle Entwicklung, die ein solcher Prozess mit sich bringt, und konzentriert sich dabei auf die berufliche und die politische Bildung der Frauen. "Jede Frau findet schließlich zu sich selbst, engagiert sich und entwickelt sich weiter, indem sie die Realität der anderen kennenlernt", sagt sie.

Die Kooperative Tramuco ist eines der Projekte der feministischen Organisation Tinta Violeta, die Mitglied des Weltweiten Marsches der Frauen ist. In einem Interview mit dem Ministerium für Volksmacht für Frauen und Geschlechtergleichstellung am 2. Mai sagte die Vorsitzende der Organisation, dass die Arbeit der venezolanischen feministischen Organisationen das staatliche politische Projekt mit dem Namen "Gran Misión Venezuela Mujer" (GMVM) stärkt. Neben Projekten wie Tramuco ist Tinta Violeta auch für Forschung und Frauenrechtsaktionen und für Aktionen gegen sexistische Gewalt zuständig.

Die Kommune Cinco de Marzo und das Kollektiv der Weberinnen

In der "Comuna 5 de Marzo Comandante Eterno"2 leben rund 5.000 Menschen. Die Frauen aus den sieben Kommunalen Räten, die die Verwaltung der Gemeinde bilden, sind im Verwaltungsausschuss für Frauen und Gleichstellung organisiert und engagieren sich für die kommunale Organisation des Lebens.

Ausgehend von der Idee des kommunalen Feminismus reflektieren die Frauen über ihre alltäglichen Bedürfnisse für die Nachhaltigkeit des Lebens in ihren Gemeinden und arbeiten in Projekten zur Gewährleistung von Rechten, Schutz und Aufklärung über geschlechtsspezifische Gewalt und reproduktive Gesundheitsfürsorge. "Wenn wir von Frauennetzwerken sprechen, meinen wir das Gewebe, das wir jeden Tag weben, jede für sich, aber das mit den Geweben anderer verwoben ist, mit den Fäden und Garnen anderer, egal wie viele Kilometer zwischen uns liegen", schrieb das Kollektiv in den sozialen Medien.

Die Ruta de Flores ist eine der feministischen Kommunalpolitiken, die in der Kommune 5 de Marzo in Caracas, in den Gemeinden Vencedores de Carorita im Bundesstaat Lara und in Las 5 Fortalezas de Cumanacoa im Bundesstaat Sucre entwickelt wurden. Die drei Blumen ‒ Hibiskus, Sonnenblumen und Bromelien ‒ stehen für drei Bereiche der Organisation: Gesundheitsfürsorge für Frauen, Bekämpfung von Gewalt sowie Bildung und Information. Die Arbeit der Frauen in der Ruta das Flores umfasst die Aufklärung über Verhütungsmethoden und weitere Informationen über Sexualität und Schutzmaßnahmen. Die Organisation fördert auch die Entwicklung des kommunalen Feminismus durch regionale Treffen mit Frauen aus den Gemeinden.

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Das Casa comunal des Kollektivs Tejiéndonos Mujeres
Das Casa comunal des Kollektivs Tejiéndonos Mujeres

Darüber hinaus finden Frauen, die Opfer von männlicher Gewalt geworden sind, in der Casa Morada Comunal des Kollektivs Tejiéndonos Mujeres einen Treffpunkt, Notunterkünfte und Betreuung, was psychologische Unterstützung und andere notwendige Maßnahmen zur Gewährleistung der Sicherheit von Frauen und Kindern umfasst.

Diese Reihe von Basisinitiativen, die den Kampf um die Nachhaltigkeit des Lebens auf lokaler Ebene mit dem Aufbau von Volksmacht in der Verwaltung der öffentlichen Politik verbinden, sind Beispiele für die feministische Stärke der venezolanischen Frauen. Die Frauen bauen gemeinsam Alternativen auf, die sich aus ihren Gemeinschaften, aus dem Leben ihrer Mitstreiterinnen in der Nachbarschaft und aus den täglichen Bedürfnissen ergeben. Die radikale Organisation dieser Frauen sorgt für Veränderungen in der Gesellschaft und im alltäglichen Leben in den Kommunen, nicht nur für Frauen, sondern für alle. Die Frauen zeigen durch die Kraft des kommunalen Feminismus einen Weg zum Aufbau einer Welt auf, in der sie leben wollen.

  • 1. Die Kommunen (comunas) sind Zusammenschlüsse mehrerer Consejos Comunales auf lokaler Ebene. Die Consejos Comunales (Kommunale Räte) sind eine Struktur der Selbstverwaltung in den Gemeinden. Gewählte Nachbarschaftsvertreter sind zur Planung und Haushaltsgestaltung in lokalpolitischen Angelegenheiten berechtigt. Sie sind seit 2010 bzw. 2006 gesetzlich verankert, haben Verfassungsrang und sollen die Grundlage für den Kommunalen Staat bilden. Ziel ist die Selbstregierung des Volkes und die Überwindung des bürgerlichen Staates. Hugo Chávez bezeichnete die Kommunen als "Keimzelle für den Aufbau des Sozialismus"
  • 2. "Comandante eterno" ist der frühere Präsident Hugo Chávez, der am 5. März 2013 verstarb