(zas, 7.6.16) Weisser
Putsch in Brasilien? Ach was, ein notwendiges Einschreiten der Vernunft,
nachdem die Regierung Rousseff das Land wirtschaftlich in den Abgrund gefahren
hat. Darin ist sich das mediale Kapitalgesinde einig, unabhängig davon, ob es das
Kleptokratische der jetzt Regierenden ausblendet oder (im Hinblick auf eine
erhoffte „fähigere“ sogenannt technokratische Regierungsequipe) nur etwas klein
schreibt. Die beträchtlichen Fehler oder auch Machtlosigkeiten der PT-Regierungen,
die tatsächlich – neben der entscheidenden globalen reaktionären
Krisenoffensive – zu einer Krise mit beigetragen haben, sind genau entgegen
gesetzt dem, das als Heilmittel gepriesen wird. Eine wichtige Rolle im Putsch spielte
der IWF & Co.
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Die
wirtschaftlichen Ziele hinter dem Putsch
Sergio Martín Carillo
celag.org, 4.9.16: Las
motivaciones económicas detrás del golpe neoliberal en Brasil
Unheilvolle Woche für die Demokratie in
Brasilien und der ganzen Region! Der Putsch gegen die Regierung von Dilma
Rousseff wurde vollzogen. Ein Putsch gegen die Demokratie. Ein Putsch gegen die
Regierungen des „Partido dos Trabalhadores“ (PT), die es schafften, die extreme
Armut um mehr als 63 % zu reduzieren. Zweifellos handelt es sich um einen
ökonomisch motivierten Putsch, aber auch um einen „rassistischen, misogynen und
homophoben Putsch“, wie die Präsidentin vor dem Senat sagte. Ein Putsch der Elite
gegen die Mehrheiten. Brasilien – ein Gigant, der während so vieler Jahrzehnte
an Hunger, Elend und den unbeschreiblichen Folgen der kolonialen Vergangenheit
litt; ein Gigant, der 2003 mit der Machtergreifung des PT aus seinem Alptraum
aufwachte und der jetzt seine Träume, seine offenen Venen heilen zu können,
wegen des Egoismus einer mit dem transnationalen Kapital verbundenen Elite
zerstört sieht.
Das 21. Jahrhundert brachte der Region
einen Duft, den sie seit zu langer Zeit nicht mehr hat atmen können. Die lange, dunkle Nacht des
Neoliberalismus ging zu Ende. Venezuela, Argentinien, Brasilien, Bolivien,
Ecuador, Uruguay, Paraguay… eine Welle
des Wandels erfasste die Region. Das übersetzte sich in unbestreitbare
Fortschritte im sozialen und oft auch im institutionellen Bereich. Der Wechsel
tat Not, der Patient lag im Koma. Die angewandten Rezepte waren sehr
verschieden von denen des IWF und der Weltbank. Die wirkten sich immer
zugunsten der Eliten und zulasten der Mehrheiten aus.
Wir konzentrieren uns
hier auf Brasilien und speziell die wirtschaftliche Zielsetzung hinter dem
Putsch. Dafür müssen wir einen Blick zurückwerfen. Wie schon gesagt, sind die
sozialen und wirtschaftlichen Errungenschaften eindeutig. Sie basierten
grundsätzlich auf einer erweiterten Umverteilungskapazität des Staats in Form
von vielen Sozialprogrammen und einer starken Erhöhung der Sozialinvestitionen.
Aber die eigentliche Einkommensverteilung wurde nicht geändert. Da der Kuchen
stetig wuchs, erhöhten sich, auch wenn sich der Staat ein gutes Stück zugunsten
der Lebensbedingungen der Mehrheit abschnitt, auch die Einkommen der
ökonomischen Eliten und ihre Interessen blieben gewahrt. So funktionierte der
Klassenpakt mit dem Segen des Staats.
Den Bruch dieses Pakts im
zweiten Mandat von Dilma lösten Budgetengpässe aus. Auf diese gab es zwei
Antworten: 1. den grossen Mehrheiten etwas wegnehmen und sie klassisch neoliberal
die Lasten der Budgetkürzungen tragen lassen, oder 2. die privilegierten Eliten
verstärkt für die Kosten der Anpassung heranziehen.
Wofür entschied sich Präsidentin
Dilma Rousseff? Zuerst versuchte sie, den Pakt mit den Eliten zu vertiefen.
Ausdruck war die Ernennung von Joaquim Levy zum Finanzminister. Die
Oppositionsmedien begrüssten seinen Amtsantritt am 1. Januar 2015, denn diese Entelechie [Begriff für etwas, das sein
Ziel schon in sich trägt], die die Märkte sind, zeigte sich zufrieden mit der
Wahl. Nach der Ernennung verzeichnete
die brasilianische Börse ein so starkes Plus wie zuletzt drei Jahre
zuvor und der Real stieg im Verhältnis zum Dollar beträchtlich an. Seinerseits
feierte der PMDB – Wolf im Schafsfell – die Umorientierung, die ihm neu 6 statt
5 Kabinettsposten einbrachte. Der Pakt mit dem Teufel schien zu funktionieren,
zumindest, was die Zufriedenstellung der Eliten betraf.
Doch die Widersprüche wurden bald
sichtbar, denn diese Neuorientierung implizierte die Verletzung klassischer
PT-Postulate. Der Pakt verlangte stets neue Anpassungen. Über eines der
Hauptprogramme des PT, die bolsa familia (Finanzhilfe für 60 Millionen Arme für
die Deckung ihrer Grundbedürfnisse), kam es zur Kontroverse zwischen
Präsidentin Dilma und Joaquim Levy. Nach weniger als einem Jahr im Amt wurde
das offene Geheimnis offiziell und Levy trat am 17. Dezember 2015 zurück. An
diesem Tag zeigten die „Märkte“ ihren Unmut. Die Börse schrumpfte um 2.14 % und
der Real fiel stark gegenüber dem Dollar. Das Zerwürfnis begann schon lange vor
dem 17., da die Präsidentin für die andere Möglichkeit optierte, dass nämlich
jene, die mehr haben, mehr Kürzungslasten tragen sollten. Ergebnis davon war
der Beginn des Impeachment-Verfahrens am 2. Dezember 2015. Resultat dessen also,
dass ein den Interessen der ökonomischen Eliten abträglicher Weg eingeschlagen
wurde. Die Karten lagen jetzt offen auf dem Tisch. Entweder Dilma Rousseff
würde den Pakt (die Erpressung) akzeptieren oder sie würde auf welche Weise auch
immer abgesetzt werden.
Joaquim Levy hatte seine Aufgabe
schon erfüllt: einen Wirtschaftsschock zu beginnen. Dieser förderte nicht nur
starke Anpassungen, sondern brachte auch eine Inflation von über 10 %, was ein Jahr
zuvor undenkbar gewesen wäre. Die Bedingungen waren jetzt reif, dass der IWF
und die Weltbank zum Bankett geladen wurden. Und tatsächlich ist Joaquim Levy
seit Ende 2015 auch Generaldirektor und Finanzdirektor der Weltbankgruppe.
Aber noch fehlte die
Komplottingredienz der internationalen Kapitalien. Dafür reduzierte der IWF fort
zu die Wachstumsprognosen für Brasilien, bis dessen Wirtschaft in einer grossen
Rezession landete, von der sie sich nicht erholen konnte. Zum Beginn des
Impeachment-Verfahrens kündigte der IWF eine starke Rezession des
brasilianischen BIPs von 3.8 % an. Letzten April hatte die CEPAL einen BIP-Rückgang
von 0.9 % prognostiziert. Der Schock muss, falls nicht existent, induziert
werden. Doch nach der provisorischen Regierungsübernahme von Temer letzen April
und einer Revision der brasilianischen Wirtschaft letzten Juli korrigierte der
Fonds den Fall des BIP auf 3.3 %, „da die Entwicklung der brasilianischen
Wirtschaft im ersten Semester besser als erwartet war; dies lässt eine
Jahresschrumpfung annehmen, die weniger dramatisch ist als gedacht“. Zudem
schätzte der Fonds auch die Wachstumsperspektiven
für 2017 besser ein, zwischen null und einem halben Prozent. Damit sollte
gezeigt werden, dass das erste Massnahmenbündel Temers schnell positive
Auswirkungen auf das Wachstum zeitigte. Klar, ein Resultat, das die
Lebensbedingungen der grossen Mehrheiten und die Frage der demokratischen
Qualität ausblendet und sich aus dem Vergleich mit früheren Prognosen ergibt,
die der IWF zwecks Diskreditierung der wirtschaftlichen Leistung der Regierung
Rousseff gemacht hat. Wenn schliesslich die brasilianische Wirtschaft „bloss“ um 2 % zurückgeht, mehr sogar als von der
CEPAL früher im Jahr prognostiziert, wird
dies vor dem früheren Katastrophenszenario
des Fonds als angeblicher Erfolg der kühnen Politik der neuen Regierung gelten.
Aber worin bestehen diese
Wirtschaftsmassnahmen der Regierung Temer? In einem ersten Schritt in der
Förderung der Privatisierung von allem, was für den Staat und damit die brasilianische
Gesellschaft rentabel war. Im Stromsektor werden mehr als 200 kleine
Unternehmen privatisiert, die rentabel sind und die soziale Funktion hatten, grosse
Teile des Landes mit Strom zu beliefern. Auch Unternehmen im Transportsektor
und in der Verwaltung der Häfen und Flughäfen werden privatisiert. Andere
staatliche Institutionen wie die Versicherung der Caixa Economica Federal oder
das Rückversicherungsinstitut Brasiliens (IRB) werden für eine verstärkte Beteiligung
von Privatkapital geöffnet. Selbstverständlich durfte im Plünderungsrennen das
Kronjuwel der grossen Erdölreserven des presal nicht fehlen.
Es geht nicht nur um den Verkauf
der Aktiven des Lands. Auch die ganze Sozialinvestition wird beschnitten. Seit
Temer provisorisch sein Amt antrat, machte er seine Absicht klar, jenen Fonds
zu eliminieren, der Öleinkünfte in das Erziehungswesen leitete. Im Juli schloss
er zehn Millionen Haushalte von der bolsa familia aus. All das sind nur einige
der während der Interimszeit umgesetzten Massnahmen. Mit der Konsolidierung des
Putsches jetzt hat Temer neue Beschränkungen für Arbeitsrechte und Renten lanciert. Kürzungen
in der Gesundheit werden sich nächstes Jahr auf schätzungsweise 40 % belaufen.
Und doch wird das Budgetdefizit 2016 nach Berechnungen der Temer-Equipe selbst
mit $ 48 Milliarden weit höher als das von 2015 ausfallen, das mit $ 27.286
Milliarden angeblich nicht tolerierbar und der sogenannten Verschwendung öffentlicher
Mittel im Bereich des sozialen Schutzes geschuldet war.
Es ist
klar, wer mit dem Putsch gewinnt und wer verliert. Und welches die Interessen
der Gewinner sind. Wie Dilma sagte: „Die Geschichte wird mit denen, die sich
als Sieger wähnen, unnachsichtig sein.“ Dilma Rousseff überlebte Folter und
Verfolgung eines Militärregimes. Sie wird bestimmt nicht vor korrupten Eliten
in die Knie gehen, die über keine Unterstützung im Volk verfügen. Der Putsch
gegen die Demokratie in Brasilien ist ein Kapitalputsch, gegen alle Regierungen,
die zuerst an die Mehrheiten denken, nicht an die Eliten. Der Neoliberalismus ist als Putsch
zurückgekehrt