Kolumbien: Gefährliche Lage

Donnerstag, 6. Oktober 2016



(zas, 6. 10.16) Die Lage in Kolumbien ist sehr verworren. Beim gegebenen Wissensstand wären Prognosen für die nächste Zeit reine Kaffeesatzleserei. Zum knappen „Nein“ zum Friedensabkommen zwischen der Regierung Santos und der bisherigen Guerilla der FARC von letztem Sonntag und der niedrigen Wahlbeteiligung zirkulieren sehr unterschiedliche, teils gegensätzliche, teils komplementäre Thesen. Ein gewisser Konsens scheint darüber zu bestehen, dass in Kolumbien viele Leute die Frage „Ja“ oder „Nein“ zum Friedensabkommen eher als eine Frage pro Juan Manuel Santos (Präsident) oder pro Álvaro Uribe (Ex-Präsident, unter dem Santos als Kriegsminister fungiert hat) zu betrachten. Und laut Einschätzung kolumbianischer Exilierter in der Schweiz hatte FARC-Chef Timochenko nicht unrecht mit der Vermutung, beim „Nein“ habe auch die Ablehnung der neoliberalen Politik der Regierung Santos eine Rolle gespielt.
Die niedrige Stimmbeteiligung dürfte viele Gründe haben. Ein Element wird tatsächlich der heftige Sturm in der Küstenregion gewesen sein, der Viele in ihren Häusern und Weilern einschloss, in einer Region, in der das „Ja“ ohne Sturm vermutlich noch deutlicher ausgefallen und vielleicht auch das nationale Ergebnis umgekehrt hätte. In den Tagen vor der Abstimmung häuften sich auch Berichte, dass in einigen Zonen die Paramilitärs die Bevölkerung zu einem „Nein“ zwingen wollten.
Viele andere Faktoren mögen eine Rolle gespielt haben. Zentral scheinen folgende Punkte:
Die vierjährigen Friedensverhandlungen der FARC litten an zwei Geburtsfehlern. Zum einen waren die FARC bereit (wie zuvor auch das ELN, die andere grössere Guerilla im Land), separat mit der Regierung zu verhandeln. Eine Schwäche nicht nur der Verhandlungsposition als Guerilla, sondern auch ein Hindernis für die Einheit der ganzen Linken. Durchgesetzt von der Regierung Santos. Die ebenfalls als Vorbedingung festlegte, dass die Verhandlungen in Kuba, abgeschirmt von jeder relevanten Beteiligung nicht-bewaffneter Kräfte der linken Bewegung stattfinden. Die FARC-Delegation hatte in all den Verhandlungsjahren enorme Schwierigkeiten, überhaupt nach aussen zu kommunizieren, während das Regime ein pausenloses Medienbombardement mit seinen Darstellungen veranstaltete. Das ELN beharrt bis jetzt für seine Verhandlungen auf einer möglichst breiten aktiven Beteiligung der sozialen Kräfte.
Tatsächlich blieben so die realen Inhalte der Abkommen für Viele in Kolumbien (und international) schwammig, unabhängig von ihrem realen Gehalt. Dies dürfte ein wichtiger Grund für die tiefe Stimmbeteiligung gewesen sein.
Die FARC traten die Verhandlungen als militärisch geschwächte Kraft an. Dies hat einen tieferen Hintergrund als nur militärische Stärke der US-Ausbildung und –ausrüstung der Streitkräfte des Regimes. Zur Zeit der FARC-Gründung als bäuerische Guerilla war die klare Mehrheit der Bevölkerung bäuerisch. Heute sind es noch ca. 30 %. Es ist kein Zufall, dass die FARC ihren Rückhalt nach wie vor bei Teilen der Landbevölkerung hat, aber in den Städten politisch isoliert ist. Ihre jahrzehntelange mediale Dämonisierung konnte die neue gesellschaftliche Zusammensetzung nutzen. Auch das spiegelt sich Im „Nein“ vom Sonntag.
Die FARC-Leitung sah ja auch nach Friedensschluss eine lange Phase der sozialen und politischen Kämpfe gegen die kapitalistische Verwüstung im Land voraus, bis die Linke die Regierungsmacht erringen könnte. (Eine Zerstörung, die mit einem Friedensschluss erst recht einsetzen würde – das transnationale Kapital steht in den Startlöchern für den Moment, ab dem seine Ausplünderungsprojekte nicht mehr durch Sabotage und anderes gefährdet werden. Anlässlich des auf die Nutzung der Friedensabkommen ausgerichteten Unternehmensforum Foro Futuro Colombia, in dem unter anderen die USAID, die Friedrich-Ebert-Stiftung, der Atlantic Council, die OIM und die UBS vertreten sind, verkündet eine strahlende Sprecherin dieser Bank, dass die Unternehmen jetzt die Kriegsgebiete unter ihre Fittiche nehmen und die Zivilgesellschaft zum Dialogieren führen werden.)
Ein beunruhigender Faktor scheint der religiöse Fundamentalismus zu sein. Seit Monaten gibt es in Kolumbien eine klerikalfaschistische Mobilisierung seitens der katholischen Kirchenleitung und der evangelikalen Sekten, anfänglich aus zwei Anlässen: der Legalisierung von Schwulenehen durch die Verfassungskammer und eines Zirkulars der (vorgestern zurückgetretenen) Erziehungsministerin, das an den Schulen zur Aufklärung über sexuelle Diversität hätte beitragen sollen. Die „Nein“-Kampagne von Uribe & Co. rekrutierte in diesem Lager mit der Propaganda, die Friedensabkommen würden genauso wie das Zirkular eine „Genderlinie“ promovieren. (Die putschistische Rechtsstärkung in Brasilien ist ohne die wütende Kraft des christlichen Fundamentalismus auch nicht zu erklären.)

Wie weiter?
Diese Frage taucht in unzähligen Medien und Kommentaren auf. Uribe und Santos haben sich mit ihren jeweiligen Supportteams gestern zur Lancierung eines „nationalen Dialogs“ getroffen, der nach uribistischer Vorlage drei Elemente im Vertrag „nachbessern“ soll: Gefängnis und Auslieferung an die USA der FARC-Führung für Verbrechen gegen die Menschheit; faktische Straffreiheit für die Sicherheitskräfte des Regimes; Verbot für alle bisherigen FARC-Kader, auch nur für einen Einsitz in einem Gemeinderat zu kandidieren. Mit anderen Worten: die Kapitulation der FARC. So wird das nicht durchgehen. Ob die FARC allerdings sich einer „Nachverhandlung“ wirklich, wie bisher angekündigt, verweigern werden, scheint nicht so sicher. Im vierjährigen Verhandlungsverlauf haben sie schon mehrere zuvor als unverzichtbare Positionen aufgeweicht. Nicht zuletzt die, dass die Friedensabkommen nicht per einem von Santos gepushten Referendum, sondern von einer politisch und sozial breit abgestützten Verfassungsgebenden Versammlung abgesegnet werden müssen.
Doch zurück zum Krieg ist auch keine Option. Ein Krieg, der schon über 50 Jahre dauert, keine Siegesperspektive hat und viel Leiden gebracht hat. Die einzige Hoffnung jetzt liegt darin, dass FARC, ELN und die unbewaffneten Linkskräfte zu einem gemeinsamen Handeln finden. Die Grossdemos gestern für den Frieden sind ermutigend, reichen aber nicht aus. Nachdem Santos den Waffenstillstand mit den FARC auf Ende Monat befristet hat (was jetzt von seinem Verteidigungsminister als Ungenauigkeit dargestellt wird, da der Präsident den Waffenstillstand beliebig oft verlängern könne), wies FARC-Comandante Pastor Alape die Truppen aus Kuba an, sich in „sichere Gebiete“ zurückzuziehen, um „Provokationen zu vermeiden“. Die gestrigen Grossdemos werden in den Twitter-Meldungen der FARC-Führung euphorisch begrüsst.

Die „nationale Dialog“
Santos und Uribe vertreten natürlich keine antagonistischen Positionen, sondern divergierende Interessen im Machtblock. Ihr „Dialog“ soll die FARC, das ELN und die Linke zu weiteren Zugeständnissen erpressen. Ganz im Sinn der Transnationalen. Deren Medienschaffenden bejubelten vor einigen Jahren die Dauermassaker Uribes unter dem US-Plan Kolumbien. Heute blenden sie faktisch aus, dass die im Vertrag ausgehandelte Transitionsjustiz real nicht nur die Guerilla betreffen würde, sondern primär die staatlichen und parastaatlichen Akteure des Verbrechen gegen die Menschheit, mit zuvorderst Uribe, Grossgrundbesitzer und Minenmultis etc. Und, nur von der Logik, nicht vom Kräfteverhältnis her, natürlich auch die US-Leitung des Plan Kolumbiens. Mit Uribe zusammen sehen sie mit kleinen Ausnahmen genau jene Kraft als allein verantwortlich an, die sich gegen den Staatsterrorismus gewehrt hat: die Guerilla. Die „ExpertInnen“ der Medien und der einschlägigen Think Tanks etc. geben wieder, was Linie von oben ist. Wir erahnen genau an dieser orwellschen Drehung die Gewaltbereitschaft der Transnationalen.