„Wieder marschiert Venezuela. Hunderttausende
von Demonstranten sind am Mittwoch dem Aufruf der Opposition gefolgt und haben die Strassen
etlicher Städte im ganzen Land eingenommen.
Die Kundgebungen sind eine Reaktion auf den Beschluss des
Nationalen Wahlrats, das angestossene Referendum über
den Amtsverbleib von Präsident Maduro auf unbestimmte Zeit zu suspendieren. Am
Mittwoch hätte die dafür notwendige Unterschriftensammlung beginnen sollen.
Doch der Wahlrat setzte diese aus mit der Begründung, dass es bei der
vorgängigen Unterschriftensammlung, die den Prozess des Referendums ausgelöst
hatte, zu Unregelmässigkeiten gekommen sei.“
Ein Zitat
aus dem heutigen NZZ-Artikel „Die Demokratie am seidenen Faden“, der weiter
meint, die Demonstrationen habe die Rechte massiv gestärkt, der chavistischen
Regierung das Wasser zum Hals stehe und sie, nicht die Rechte, um einen Dialog
betteln müsse. Nun, in der elektronischen Version ist die Quelle für diese
Einschätzung verlinkt: #TomaDeVenezuela, ein Twitteraccount der militanten
Rechten mit Tweets auch von aus US-Ultras wie dem Senator Bob Menéndez.
Militaristischer Slang – wofür?
Kein Zweifel,
die rechten Demos gestern waren gross. Allerdings offenbar nicht so gross wie
auch schon. Wir werden sehen, wie das am Samstag und am nächsten Donnerstag
weitergeht. Für diesen Tag hat Oppositionsleader Henrique Capriles schlicht die
„Einnahme von Miraflores“ angekündigt, also die Besetzung des Präsidentenpalasts.
Der Militärslang kennzeichnet zurzeit die Statements der rechten Chefs, und
NZZ-Brühwiller lässt sich animieren. Die DemonstrantInnen haben, so der
Schreiber, die Strassen „eingenommen“. Nun, Gewalt hat es gegeben. Im
Gliedstaat Zulia ist der Chef einer Gemeindepolizei verhaftet worden, weil er
offenbar auf eine Demo der Opposition schiessen liess. In mehreren Städten sind
staatliche Gebäude mit Molotov-Cocktails angegriffen worden. Im Gliedstaat
Miranda ist ein Polizist von rechten Gruppen erschossen worden und zwei weitere
Polizisten wurden angeschossen. In Mérida kam es zu 37 Verletzten auf beiden
Seiten einschliesslich von fünf angeschossenen Polizisten und zu Verhaftungen
von Bewaffneten. Episoden, die das vom Mainstream bhochgehaltene
nDemokratieverständnis verdeutlichen?
Bestimmt,
es ist schwer, von aussen, ob aus der Schweiz oder aus Brasilien, das
Kräfteverhältnis genau einzuschätzen. Aber die vortriumphalen Töne der
Medientransnationalen und der venezolanischen Rechten lassen aufhorchen. Denn so eindeutig, wie suggeriert
wird, ist die Lage bei weitem nicht. Eine dpa-Meldung dieser Tage berichtete
etwa von einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Datanalisis, wonach 80 %
der Bevölkerung eine Absetzung von Präsident Nicolás Maduro wolle. Nun ist
dieses Institut bekannt für seine rechte Dienstfertigkeit, doch selbst es
musste in der letzten Zeit eine gewisse Erholung des Chavismus zugeben.
Hinterlaces, ein anderes Meinungsforschungsinstitut, veröffentlichte vor
wenigen Tagen, dass die Mehrheit der Bevölkerung die Rechte nicht an der
Regierung sehen wolle. Nicht, dass für unsere Seite positive Umfragen per se „wahrer“
wären als andere, aber es ist tendenziös, sie auszublenden. Mediales Aufheizen –
die Frage stellt sich, für was genau?
Das Referndum als Tarnung
Das
historische Gedächtnis der transnationalen Medien reicht zuweilen kaum ein paar
Tage zurück. Soeben noch publizierten sie gegen die Anmassung des Wahlrats CNE,
dass für die nächste geplante Phase im Abberufungsreferendum nicht einfach nur
national mindestens 20 % der Stimmen der Wahlberechtigten gesammelt werden
müssen, sondern diese Quote in jedem Gliedstaat erzielt werden müsse. (Eine Verfassungsvorgabe,
aber das braucht nicht zu kümmern.) Die rechte Führung um Parlamentspräsident Ramos
Allup erklärte, damit sei es aus für den Weg des Abberufungsreferendums, das
Volk müsse jetzt den „Diktator“ absetzen. Die transnationalen Medien
berichteten, wie der Chavismus stets neue Hindernisse aufbaue.
Vorher bewegte
die Frage nach der Dauer bis zur Abberufungsabstimmung, also ob das Referendum
vor oder nach dem 10. Januar 2017 stattfände. Falls die nötige Mehrheit gegen
Maduro zustande käme, würde bei einem späteren Termin sein Vize Aristóbulo Istúriz
nachrücken, vor dem 10. Januar wären Neuwahlen die Folge. Der Nationale Wahlrat
CNE hatte den Termin auf nach dem 10. Januar angesetzt. Das war völlig legal.
Die verschiedenen Schritte bis zur effektiven Abstimmung können (müssen aber
nicht) laut dem massgeblichen Statut ohne weiteres eine solche Zeitspanne
benötigen. Das Abberufungsreferendum gegen Chávez 2004 hatte 262 Tage bis zum
Abstimmungstag gebraucht, mehr noch, als vom CNE für das aktuelle vorgesehen.
Doch vom ersten Tag tönten die venezolanischen Rechte und das transnationale
Medienimperium, der Chavismus blockiere das Referendum.
Real waren
es die Widersprüche und Betrugsmanöver der Rechten, die das Referendum
hinauszögerten. Im Dezember 2015 gewann sie die Parlamentswahlen, doch sie
liess sich Zeit bis April 2016, bis sie das Referendum einleitete. Dies, obwohl
sie natürlich genau wusste, dass damit rein zeitlich höchstwahrscheinlich keine
Neuwahlen durchzusetzen wären. Denn die Rechte musste sich erst auf ein
gemeinsames Vorgehen einigen, wie die Regierung Maduro zu stürzen sei. In jenen
Monaten diskutierte sie öffentlich folgende Varianten:
a) Von Maduro einfach den Rücktritt
verlangen.
b) Ihn vor Gericht bringen.
c) Ihn als geistig krank taxieren.
d) Seine Wahl 2013 wegen angeblicher
kolumbianischer Staatsbürgerschaft aberkennen.
e) Seine Amtszeit nachträglich per
Verfassungszusatz kürzen.
f) Eine Verfassungsgebende Versammlung
einberufen.
g) Strassenmobilisierungen.
h) Abberufungsreferendum.
Real
benutzte die Rechte das Abberufungsreferendum vom ersten Tag an als Argument
für eine „Radikallösung“: den Sturz der Regierung Maduro über „Strassengewalt“,
wie sie 2014 mit der sogenannten „salida“ versucht hatte, welche mindestens 44
Todesopfer, in ihrer Mehrheit Unbeteiligte und Chavistas, gefordert hatte. Die
transnationalen Medien begleiteten diese Strategie mit ihrer Dauerlüge von den antidemokratischen
Zuständen im Land.
In diesen
Rahmen passt auch Folgendes: Letzten Juli hatte die Parlamentsmehrheit entgegen
einer klaren Order des Bundesgerichts die drei KandidatInnen aus dem Gliedstaat
Amazonas als Abgeordnete vereidigt, wo die Wahlen ziemlich eindeutig
manipuliert worden waren. Am parlamentarischen Kräfteverhältnis hatte die
Suspendierung nicht geändert, da unter den Suspendierten auch eine Chavista war.
Der Wahlrat CNE als höchste Wahlautorität bekräftigte darauf hin, dass die drei
nicht als ParlamentarierInnen fungieren können. Die Parlamentsmehrheit setzte
sich provokativ darüber hinweg und agierte seither im rechtsfreien Raum. Wie
immer das Untersuchungsresultat punkto Wahlbetrug ausfallen wird, es ist klar,
dass das Parlament sich im rechtsfreien Raum bewegte. Die Annullierung durch
das Oberste Gericht war damit eine logische Folge, nicht eine Marotte Maduros.
Doch wie
kam es zur vorläufigen Sistierung des Abberufungsreferendums? In einem ersten Schritt
musste das Referendumskomitee (der Parteienzusammenschluss Tisch der
Demokratischen Einheit, MUD) die Unterschriften von einem Prozent der Wahlberechtigten
beibringen, um das Prozedere zu starten. Statt der rund 200‘000 Stimmen legte
die MUD fast 2 Millionen vor, als Beweis ihrer Stärke. Das Problem: Über 600‘000
der Unterschriften wiesen Fehler auf, darunter jene von 10‘995 Verstorbenen, 53‘658
nicht im Wahlregister eingetragenen Menschen, 3003 Minderjährigen und andere. Dies
wurde so von den Organen des Wahlrats zur Kontrolle der Unterschriften einstimmig
festgehalten, inklusive aller ihrer MUD-Mitglieder. Das ist etwas anderes als wie
Brühwiller zu sagen, laut Wahlrat „sei es
zu Unregelmässigkeiten gekommen“. In den Gliedstaaten reichten über 9000
Menschen zudem eine Klage auf, da sie ohne ihr Zutun, so ihre Aussage, auf der
Unterschriftenliste auftauchten. Sieben Gerichte in mehreren Gliedstaaten haben
daraufhin am 20. Oktober den Wahlrat angewiesen, das Referendum vorläufig zu
stoppen.
Spielt die Zeit für den Chavismus?
Hat der
Wahlrat rechtlich eine andere Möglichkeit gehabt? Scheinbar nicht. Natürlich
kommt diese Entwicklung dem Chavismus insofern entgegen, als es ziemlich klar
scheint, dass er auf Zeit spielt. Er geht offenbar davon aus, dass es ihm
gelingt, mit der Zeit die weitgehend „künstlich“ erzeugte Versorgungskrise in
den Griff zu kriegen und so die Gunst jener WählerInnen zurückzugewinnen, die
bei den Parlamentswahlen 2015 zuhause geblieben sind, und nicht noch weitere
Stimmen einzubüssen. Im unmittelbaren
Zentrum dieser Anstrengungen steht sicher die Direktversorgung in
Unterklassenzonen durch die Basisstrukturen der CLAP (Lokale Versorgungskomitees),
welche einem wichtigen Mechanismus der Versorgungskrise den Boden entziehen. In
dessen Zentrum stand und steht noch der bachaqueo,
also die kapillar organisierte Praxis, in den Ladenketten, die vom Staat massiv
subventionierte Artikel des Alltagsbedarfs anbieten, diese dort einzukaufen und
anschliessend auf den Schwarzmarkt mit seinen orbitanten Preisen zu schleusen.
Dabei geht es nicht um individuelle Überlebensstrategien, sondern um
organisierte Wirtschaftskriminalität, die sich auf ein Heer von Willigen
abstützt – die während Jahren von kolumbianischen Paramilitärs betriebene
Übernahme traditioneller krimineller Strukturen macht sich jetzt bezahlt. So
genannte Hungerrevolten der letzten Zeit bestanden im organisierten,
gewalttätigen Vorgehen mafiöser Strukturen der Rechten gegen Verteilaktionen
der CLAP. Deren Schutz durch Sicherheitsorgane wird medial zum Repressionsbeleg.
Im weiteren
gehören zu den Massnahmen, von denen sich das chavistische Lager einen Erfolg
verspricht, etwa der Übergang von der Produktesubvention zur Subvention an arme
Bevölkerungsschichten, was in der Konsequenz das wohl zentrale Moment des
Wirtschaftskriegs beenden könnte: die Erschleichung billigster staatlicher
Dollars durch Grossimporteure, darunter zentral die Filialen westlicher Multis,
die teils direkt in Steuerparadiesen landen, teils von absurd überhöhten
Importpreisen aufgefressen werden. Im Verlauf des an sich absolut richtigen Devisenkontrollregimes
sind hier viele Milliarden Dollars „verschwunden“, was ohne Geschäftsbeteiligung
sogenannter „chavistischer Bourgeois“ mit besten Beziehungen in den
Staatsapparat nicht möglich gewesen wäre. Auch eine Verteuerung von Preisen von
Alltagsgütern könnte mit den Direktsubventionen an Arme gut aufgefangen werden,
Güter, die heute fast nur im absurd überteuerten Schwarzmarkt erhältlich sind.
Es gibt
weitere, teilweise kritisch zu rezipierende Instrumente, mit denen der
Chavismus nicht nur die Versorgungskrise beheben, sondern auch von der
Ölabhängigkeit wegkommen will. Hier ist nicht der Ort, darauf einzugehen, also
halbwegs interessante Fragen dazu zu stellen. Jedenfalls geht der Bolivarianismus
in Venezuela davon aus, dass er morgen besser dastehen wird als heute und sowieso
als gestern. Ob dem so ist, kann ich nicht beurteilen. Die Rechte jedenfalls
scheint das ernst zu nehmen und drängt deshalb auf eine rasche „Lösung“,
notfalls mithilfe ausländischer Intervention.
Punkte der Eskalation
Dies
erklärt die Parlamentssession vom 23. Oktober, in der sich die Parlamentsmehrheit
in „Rebellion“ befindlich erklärte
und folgende Punkte beschlossen:
a) Präsident Maduro hat einen
Staatsstreich durchgeführt.
b) Die internationale
Gemeinschaft soll „die Mechanismen
ergreifen, die nötig sind, um die Rechte des Volks zu garantieren“.
c) Wahlrat und Oberstes Gericht vor den
Internationalen Strafgerichtshof zu bringen.
d) Über die Doppelbürgerschaft Maduros
befinden, um ihn abzusetzen.
e) Über Maduros Verlassen seines Amts
zu entscheiden, um ihn abzusetzen.
Zum letzten
Punkt: Maduro hatte eine dreitägige Reise nach Aserbeidschan, Saudi-Arabien und
Iran angetreten, um die Ölpreispolitik zu diskutieren, die für Venezuela extrem
wichtig ist. Die rechte „interpretiert“ das als Verlassen des Amts. Zur
Doppelbürgerschaft: Längst liegt eine offizielle Erklärung Kolumbiens vor, dass
Maduro in keinem Geburtsregister des Landes aufzufinden sei.
Es scheint
ziemlich klar, dass die inneren Kräfte der Reaktion in Venezuela nicht
ausreichen, um den Chavismus von der Regierung zu jagen. Was Strassenmobilisierungen
betrifft, hat die Rechte meist das grosse Nachsehen. Der Chavismus ist mehr als
ein Regierungslager. Anscheinend etwa 300‘000 Menschen sind in Basisstrukturen
organisiert. Angesichts dessen ist der parlamentarische Interventionsappell an
die „internationale Gemeinschaft“ ernst zu nehmen. Heute treffen sich die
Regimes von Brasilien, Argentinien, Paraguay und Uruguay und werden Venezuela
wohl aus dem Mercosur hinauswerfen, da es dessen „Demokratieklausel“ nicht
genüge. Der Laufbursche Washingtons in der Organisation Amerikanischer Staaten,
Luis Almagro, rief am 24. Oktober die OAS-Regierungen zu Aktionen gegen
Venezuela auf (einmal mehr). Vermutlich wird sich in den kommenden Tagen ein einschlägiges
Trommelfeuer verdichten.
Humanitäre Krise?
Dabei
könnte die globale Rechte auch wieder ihr Herz für die Armen zeigen und die „humanitäre
Krise“ in Venezuela beweinen, der zu trotzen doch Menschengebot sei. Die Rede
von der humanitären Krise in Venezuela als Interventionsgebot für die
internationale Gemeinschaft als
Interventionsgrund hatte im Oktober 2015 der damalige Chef des US-Südkommandos,
General Kelly, aufgebracht.
Von der Washington Post bis zum Magazin des Tagesanzeigers etc. vergiessen
seither JournalistInnen Krokodilstränen und lügen in immer wieder neu beeindruckendem
Ausmass daher. Bei so viel Emotion haben Nachrichten keinen Platz, die etwas
anderes sagen. Die UNO-Wirtschaftskommission für Lateinamerika und die Karibik
CEPAL sieht keine humanitäre Krise in Venezuela. Sie ist keine linke
Institution. Gerade gestern berichteten venezolanische Medien über eine
Erklärung der CEPAL-Exekutivsekretärin Alicia Bárcena, die versicherte,:
„Im Land gibt es keine humanitäre Krise,
definitiv nicht, das muss man klar haben.“
In Caracas gibt
es seit gestern eine andauernde chavistische Mobilisierung vor dem
Präsidentenpalast Miraflores. Die heute auch von Parlamentspräsident Ramos
Allup geäusserte Absicht, am nächsten Donnerstag vor den Miraflorespalast zu
ziehen, erinnert zu sehr an den Putsch vom 11. April 2002. Eingeleitet hatten
ihn die Putschisten mit einer Demo gegen Miraflores, in der ihre
Gemeindepolizei von Caracas erst auf
eigene und dann auch auf chavistische GegendemonstrantInnen schossen. Die Toten
wurden in Fernsehauftritten, die noch vor der Demo aufgenommen wurden, als Rechtfertigung
für den Putsch genommen. Brav kolportiert, logo, und nie zurückgenommen,
einfach nicht mehr aufgewärmt, von den transnationalen Medien. Am 13. April
brach der Putsch zusammen.
Ein Slogan
heute lautet: „Denen, die nach einem 11. Rufen, antwortet das Volk wie am 13.“