Brasilien: Pensionskassen und Landraub

Mittwoch, 15. Februar 2017




(zas, 15.2.17) Am 6. und 7. Februar veröffentlichte das Linksportal Brasil de Fato zwei Artikel von Lilian Campelo zu einer massiven Form von spekulativem Landraub in Brasilien durch grosse transnationale Pensionskassen (Terras na região do Cerrado viram alvo de especuladores, im Folgenden BdF 1, und Fundos de pensão estrangeiros grilam terras na região do Cerrado, BdF 2). Die Artikel stützen sich auf den Bericht A Empresa Radar S/A e a Especulaçãocom Terras no Brasil der Rede Social Justiça e Direitos Humanos (ein auf Landrechtsfragen spezialisiertes brasilianisches Netzwerk), auf den sich Grain (Genetic Resources Action International) in Foreign pension funds and land grabbing in Brazil bezieht.
Ort des gigantischen Verbrechens sind grosse Agrarzonen in den Bundesstaaten Maranhão, Tocantins, Piauí und Bahía im Cerrado, einem immensen Savannengebiet. 73 Millionen Ha Landwirtschaftsböden, eine Fläche grösser als Deutschland, sind dort schon in den Fängen des Agrobusiness. Die Biodiversität im Cerrado ist von enormer Vielfalt, vergleichbar jener der Amazonía – noch! „Studien der Bundesuniversität von Goiás zeigen, dass jährlich 22‘000 Quadratkilometer des Cerrado abgeholzt werden, vorallem wegen für die agroindustriellen Plantagen von Soja, Baumwolle und anderen Exportprodukten. Mehr als die Hälfte ist schon zerstört; bei diesem Rhythmus wird der Cerrado bis 2030 komplett der Vergangenheit angehören“ (Grain, Box 3). 
Im Cerrado.

Grossnutzniesserin der Zerstörung ist die TIAA-CREF, die grösste US-Pensionskasse für Lehrpersonal und Angestellte der Unterhaltungsindustrie, „die global bedeutendste institutionelle Investorin in Landwirtschaftsböden“ (Grain). Die Kapitalgruppe hatte nach dem Ausbruch der Finanzkrise 2007 pp. Ackerland als sicheren Spekulationswert erkannt. So kauft sie zusammen mit angeschlossenen PKs aus Kanada und Schweden in Brasilien riesige Gebiete auf, um sie meist nach einigen Jahren an Agrobusinessgruppen zu verschachern  oder sie manchmal selber für Monokulturen (vorallem Soja und Zuckerrohr) zu vernutzen. Die Kassen „sehen langfristige Gewinne aus dem steigenden Preis von Ackerland und dem Cashflow, der in der Zwischenzeit über Landpachten, Verkauf von Exportartikeln, Viehherden oder Fleischproduktion hereinkommt (…) [Sie sehen die Landpreise] parallel zur Inflation (und wichtig, den Löhnen) steigen, aber nicht zu anderen commodities in ihrem Portfolio“ (Grain).  
Lilian Campero zitiert die Amazonasspezialistin Marcela Vecchione von der Universidade Federal do Pará, die auf weitere für die Transnationalen attraktive Eigenschaften des Cerrado hinweist, etwa die Wasservorkommen und die Perspektiven von Transportinfrastruktur für die export crops zu Wasser und auf der Schiene. Vecchione macht hier eine „Bedrohung der Wasserquellen“ (BdF 1) aus.
Den Cerrado bedroht ein Erschliessungsplan für die Intensivierung der Monokulturen. Matopiba, so heisst der Plan, hatte 2015 unter Präsidentin Dilma Rousseff an Schwung und Attraktivität für die Finanzgruppen gewonnen. Rousseff war zu Beginn ihrer zweiten Regierungsperiode nichts Besseres eingefallen, als Ende 2014 mit Kátia Abreu eine frühere Chefin des nationalen AgrounternehmerInnenverbands CNA zu ihrer Agrarministerin zu ernennen. Abreu trug in Anerkennung ihrer offensiven Abholzpraxis als führende Grossgrundbesitzerin im Land den Übernamen „Chefin der Motorsäge“.
Und welch Überraschung: Die Transnationalen operieren mit schmutzigen Tricks. Der US-Pensionsfonds TIAA-CREF und die verbündeten Pensionskassen aus Kanada und Schweden brechen locker das brasilianische Gesetz. So hatte der Generalstaatsanwalt 2010 ein schon bestehendes Gesetz zur Beschränkung von ausländischen Bodenbesitz im Grossausmass neu interpretiert. Jetzt galt es auch für von ausländischen Personen kontrollierte brasilianische Unternehmen. No problem. TIAA-CREF gründete das Joint Venture Tellus mit dem brasilianischen Zuckergiganten Cosan, an dem dieses 51 % der Anteile hält. Detail:  Tellus, nominal brasilianisch kontrolliert, operiert mit spezifischen Krediten des US-Fonds in Form von Schuldverschreibungen, die, so Grain, „die Filialen von TIAA-CREF zu praktisch allen Gewinne berechtigt und die jederzeit in Aktien umgewandelt werden können. Der einzige wichtige Unterschied besteht darin, dass diese Schuldverschreibungen es TIAA-CREF und ihren Geschäftspartnern ermöglichen, ihre Kontrolle der von Tellus gekauften Ländereien zu verheimlichen und die legalen Beschränkungen für ausländischen Landbesitz zu umgehen.“
Der „Fortschritt“ weiss sich auch anderswie zu helfen, zum Beispiel mit Grundbuchfälschungen. Meisterschaft auf diesem Gebiet legt etwa Euclides de Carli mit seinem Grupo de Carli an den Tag. Grain schreibt: „Manoel Ribeiro, ein Abgeordneter im Staat Maranhão, beschuldigt de Carli, illegal 1 Million Ha Land in Brasilien ergattert zu haben, darunter 13 Landbetriebe in Maranhão. Er beschuldigt de Carli weiter, Bewaffnete für die Räumung von Landgütern einzusetzen und die Ermordung eines verkaufsunwilligen Bauern angeordnet zu haben. Andere Untersuchungen zeigen, wie De Carli und andere LandaneignerInnen regelmässig Unterlagen fälschen, um Land in der Gegend in ihren Besitz zu bringen.“
Mauricio Correia von der AnwältInnenvereinigung der Landlosen in Bahía (AATR) hält fest: „Die Ausweitung der landwirtschaftlichen Anbaufläche erfolgt nicht auf legale Weise“ (BdF 2). Vor  lokalen Notaren werden, erfahren wir weiter, kleine Besitztümer von ein paar Ha registriert, etwa solche, die von an Landbesitz nicht mehr Interessierten ErbInnen verkauft werden. In einem zweiten Schritt werden mehrere dieser Landtitel, für beispielsweise insgesamt 100 Ha, zu einem einzigen Titel zusammengefasst, bloss dass der dann auf 10‘000 Ha lautet. Oder Land wird legalisiert und in der Praxis ein anderes, nicht erfasstes, für das Agrobusiness eingezäunt. Nach Correia verweist etwa der Dekan des Geographischen Instituts der Universität von São Paulo darauf, dass 80 % dieser Ländereien im Gebiet des Plans Matopiba unter „leerstehend“ (terra devoluta) figurieren, also ohne bisherigen privaten oder staatlichen Besitzer und ungenutzt.
De Carli, berüchtigter „grösster Grundbuchfälscher der Region“ (BdF 2), weiss den Begriff leerstehend zu schätzen. Die Rede Social Justiça e Direitos Humanos konnte nachweisen, dass de Carli Tellus, also den Pensionsfonds, zwei Grossländereien im Matopiba verkauft hat. Nota bene: Die Grundbuchämter weigerten sich, wie Grain beschreibt, selbst dem vom Putschregime aufgelösten Ministerium für Landreform (INCRA) Angaben zu Eigentumsverhältnissen zu machen. Den Rechercheteams der Rede verweigern die Fonds ebenfalls jegliche Angaben. In den Fällen der zwei erwähnten Ländereien gelang der Besitznachweis nur dank kniffliger Detailrecherchen der Rede. Doch ihre Teams vor Ort  erhielten von der Landpastorale und Landlosenorganisationen klare Aussagen zu weiteren De-Carli/Pensionsfonds-Landtransfers.
Selbstverständlich ist der Begriff von der „leerstehenden“ terra devoluta nur eine lokale Variante der alten Koloniallüge vom „jungfräulichen Land“. Es geht im vorliegenden Fall um die sogenannten Chapadas, Hochplateaus. Unten ackern die oft indigenen oder afrobrasilianischen Gemeinschaften, oben entspringen die Flüsse und finden die Gemeinschaften seit je Brennholz, Heilkräuter, Futter, Wasser… „ungenutztes“ Land also, leicht zu privatisieren, zu dem der Zugang versperrt wird. Grain schreibt: 
Chapada.


Ohne die Ressourcen der Chapadas (…) waren viele KleinbäuerInnen gezwungen, ihre Heime zu verlassen, um Arbeit in den Städten, in den gefährlichen lokalen Diamantenminen oder in den Zuckerrohrplantagen der zentral-südlichen Region zu suchen. Die neuen Sojafarmen schaffen nur gering bezahlte Arbeitsplätze während der ersten Vorbereitung des Lands. Aber danach gibt es angesichts der intensiv mechanisierten Produktionsweise nur sehr wenige Jobs.
Die Situation wird noch schlimmer, da sich das Phänomen des Landraubs jetzt in das Tiefland verlagert, wo die bäuerlichen, indigenen und afrobrasilianischen (Quilombola) Comunidades ihre Gärten und Äcker haben und ihre Tiere für den Eigenkonsum halten. Das Tiefland versorgt sie auch mit Wasser und Fischen.
Wir organisierten im Juli 2015 Feldbesuche bei den Comunidades im Tieflandumfeld der Tellus-Farm Ludmilla in Santa Filomena, Piauí. Die Ansässigen berichteten uns, dass die Landräuber Gewalt anwenden, um sie von ihrem Land zu vertreiben, das sie anschliessend dem Agrobusiness verkaufen.  Den BewohnerInnen der Comunidad Sete Lagoas etwa wurde ein Teil ihres Landes von einem Landräuber eingezäunt. Sie können die jetzt von privaten Sicherheitskräften bewachte Zone nicht mehr betreten. Mitglieder der  Cabeceira do Angelim, einer anderen Comunidad, die in der Chapada da Fortaleza an die Ludmilla-Farm angrenzt, erzählten uns, dass sie erst von Landräubern von ihrem Land auf der Chapada und anschliessend von einem Teil ihres Landes im Tiefland vertrieben worden waren.
Quelle: Der Bericht der Rede.

Wir besuchten auch Gemeinschaften im nahe gelegenen Alto Parnaíba, an der Grenze der Santa Filomena im Staat Maranhão, wo die Marimbondo-Farm von Tellus liegt. Gemeindemitglieder erläuterten, wie die Ausweitung des Agrobusiness ihnen den Zugang zu Wasser im Tiefland, wo sie leben und bauern, versperrt hat. Dieses Gebiet wird von Flüssen bewässert, die in der Savanne der Chapadas entspringen. Aber die durch die ausgeweitete Sojaproduktion verursachte Abholzung in der Chapada zerstörte die Wälder und Nassgebiete; in der Folge vertrockneten die Flüsse.
Die Gemeinschaften, die wir trafen, litten auch unter der Verschmutzung der im industriellen Anbau benutzten Agrogifte. Die in den Farmen versprühten Pestizide vergiften am Schluss ihr Trinkwasser und die Fische, die sie essen. (…) Die Industriefarmen pflegen ihre Agrochemikalien vom Flugzeug aus zu sprühen. Diese Chemikalien enden deshalb oft auf in den Wohngebieten und Ländereien der lokalen Bevölkerung, deren Gesundheit und Ernten sie in Mitleidenschaft ziehen. Mitglieder der Comunidades, mit denen wir sprachen, sehen einen direkten Zusammenhang zwischen der Zunahme von Krebserkrankungen in den Gemeinschaften und der Belastung durch Agrochemikalien der Industriefarmen in der Zone. Sie konstatieren auch eine Zunahme der Fälle von Atmungsproblemen und Hautkrankheiten.

Natürlich rühmen sich TIAA-CREF und die anderen Pensionskassen grössten Engagements für die corporate social responsability.