Imperium/Petrobras: Korruption und ihr Nutzen

Freitag, 3. Februar 2017



 (zas, 3.2.17) Comperj – der Begriff dürfte ausserhalb Brasiliens wenig bekannt sein, und doch liefert er da und dort ein Motiv für eine nicht mehr so stille mediale Freude über den „Aufschwung“ in Brasilien. Comperj steht für Complexo Petroquímico do Rio de Janeiro. Eine der weltweit relevantesten Grossinvestitionen, ein gigantisches, 2006 vom damaligen Präsident Lula lanciertes Projekt der staatlich kontrollierten brasilianischen Ölgesellschaft Petrobras. Brasilien lag damals im Bereich von Grossingenieurbauten global mit an der Spitze. Bei den Megaprojekten im Land und oft in Lateinamerika spielten nicht-brasilianische Unternehmen keine oder bloss eine untergeordnete Rolle.
Tempi passati.
Bei neuen Megaprojekten sind brasilianische Multis nicht mehr dabei. Comperj ist zwischenzeitlich sistiert worden. Vor gut zwei Wochen hatte Petrobras die Liste der an einem neuen Grossprojekt von Naturgas im Comperj veröffentlicht. Das Projekt ist zentral für die Verarbeitung des bei der Förderung der enormen Ölreserven des pré-sal vor der Küste Brasiliens anfallenden Naturgases. An 30 Unternehmen gingen die Aufträge, nicht eines ist brasilianisch.
Der Grund: die neue, putschistische Petrobras-Leitung hatte sämtliche für das Projekt in Frage kommenden einheimischen Unternehmen als „ungeeignet“ von der Ausschreibung ausgeschlossen. Begründung: Die Justiz ermittle gegen sie in der sog. Petrobras-Korruptionsaffaire (s. Efeito da Lava Jato: grande obra no Brasil só para estrangeiros).
Comperj.
Sergio Gabrielli war von 2005 bis 2012 Präsident von Petrobras. Am letzten 31. Januar veröffentlichte Brasil de Fato ein Interview mit ihm (Engenharia brasileira está desmontada). Er geht darin auf die sog. Antikorruptionskampagne ein, die den Putsch gegen die gewählte Regierung von Dilma Rousseff vorbereitete und ölte. Gabrielli sagt:

Fundamental versuchte die Rechte die Idee im Land zu etablieren, dass wir in einem Riesensumpf lebten, in einem Land der allgemeinen Korruption, und dass Petrobras ein völlig korruptes Unternehmen sei. Aber wenn sich die Leute von der Schaumschlägerei abwenden und sich an den schon zu Tage geförderten Tatsachen orientieren,  sehen sie, dass die Zahl betroffener Personen in Petrobras relativ klein ist. Es sind wenige Direktoren involviert, drei, um genau zu sein, und sehr wenige Filialleiter. Petrobras hatte damals 80‘000 Angestellte, es ist also nicht statthaft, das Unternehmen insgesamt als korrupt zu taxieren.
Petrobras hat alle Verträge, die Paulo Roberto Costa, Pedro Barusco, Renato Duque und Nestor Cerveró abschlossen, einbeziehend, errechnet, dass die Korruption bei diesen Verträgen 3 Prozent ausmachte. Das macht einen absolut gigantischen Betrag von 6 Mrd. Reais aus (etwa CHF 1.8. Mrd.). Nun, Petrobras fakturiert jährlich 380 Mrd. Reais (ca. CHF 119 Mrd.). Die 6 Mrd. Reais eigneten sich diese Individuen im Laufe von 15 Jahren an, einen im Vergleich zum Geschäftsvolumen von Petrobras relativ geringen Betrag. 
Aber in der von den grossen Medien erzeugten Wahrnehmung scheint alles in Petrobras korrupt. Dies bezweckte, die Korruption zu einem nationalen politischen Programm zu machen.
Sergio Gabrielli


Auf die Frage nach der o. e. Auftragsvergabe in Comperj meinte Gabrielli:

Petrobras war das Zentrum einer Industriepolitik, die sich um die Achse der Nutzung eines grossen entdeckten Reichtums drehte, des pré-sal.  Tatsächlich versuchte Petrobras das Problem der Investitionen in die Ölausbeutung so zu gestalten, dass die in verschiedenen Ländern auftretende sog. Holländische Krankheit vermieden werde. Sie tritt auf, wenn die Ölbewirtschaftung rasant wächst, aber nichts darum herum. Wie wurde das angestellt?  Die national ausgerichtete Grundidee war, dass alles, was in Brasilien produziert werden könnte, auch in Brasilien produziert wird. Dies bedeutete, die Produktionskapazität der Werften, der Schifffahrts-, mechanischen, Rohrleitungs-, Kompressoren- oder Unterwasserindustrien auszubauen. Die würde eine Auswirkung auf die brasilianische Industrie zeitigen und Arbeitsplätze und Einkommen erhöhen. Mit Lava Jato [Petrobras-Strafuntersuchung], der kurzfristigen Krise von Petrobras und dem, was vom Ölpreis bleibt, ist das passé.

In einem weiteren Artikel von Brasil de Fato (26.1.17, Comperj: Petroleiros rebatem argumentos da Petrobras para escolha de estrangeiras) analysiert Victor Marchesini, Leiter von Senge-RJ, der Gewerkschaft der Ingenieure von Rio de Janeiro, die Auftragsvergabe an ausländische Unternehmen so:

„Auch wenn die Arbeiter im Land sind, bedeutet [die Vergabe] praktisch, dass das qualifizierteste Corps im Hauptsitz bleibt. Die innovativsten Projekte, die Forschungszentren und die Entwicklung neuer Technologien verbleiben im Mutterhaus. In Brasilien bleibt die Auftragsabwicklung, für uns gibt es die am wenigsten qualifizierten Dienstleistungen.

Der Artikel fährt so fort: „Zeitungen und Nachrichtenportale veröffentlichten Materialien, die darauf hinwiesen, dass mehr als 20 der 30 von Petrobras beauftragten Unternehmen in Korruptionsskandale verwickelt sind.“ Und zitiert dann weiter Marchesini: 

Die von Lava Jato nachgewiesene Korruption wurde zum politischen Vehikel, um die nationalen Unternehmen auszubooten und die ausländischen reinzuholen. Wir sehen also, dass das Grundlegende der Ereignisse der letzten Monate in Brasilien nicht die Korruption ist, es gibt Interessen, die nach oben verweisen.

 „Der Leiter von Senge“, so die Artikelautorin Mariana Pitasse, „bezieht sich [mit dieser letzten Aussage] auf die von der Bundesjustiz verhängte einstweilige Verfügung, dass die 23 in der Untersuchung genannten Unternehmen von Petrobras-Verträgen ausgeschlossen bleiben. Für Marcelo Nunes von der Gewerkschaft Sindipetro-NF, waren die Auswirkungen der Präferenz für ausländische Unternehmen schon vor der Wiederaufnahme der Arbeiten im Comperj spürbar:“

Ich arbeite seit 14 Jahren in Petrobras und kann sagen, dass es in den Jahren der Regierung Lula, als wir angefangen hatten, Plattformen im Land herzustellen, zu einem grossen Unterschied in der Produktionsweise des Unternehmens gekommen ist. Wir konnten Knowhow und Techniken entwickeln. Heute haben wir wieder Produkte made in China oder Korea. Wir bleiben aussen vor.

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Sie wussten von nichts
Am 1. Dezember 2014  veröffentlichte das Portal Correio de Cidania ein Interview mit dem Ingenieur Fernando Siqueiro, Exponent einer Gruppe kritischer Petrobras-AktionärInnen, aus dem wir Auszüge im Correos 180 (Februar 2015) brachten:

Was Besorgnis erregt, ist, dass obwohl die Korruption ein generalisierter, metastasierender Krebs ist, Petrobras im Kreuzfeuer der Kritik steht, nicht als das Opfer, das der Konzern ist, sondern als Herd der Korruption. Dies aus dem Interesse heraus, Petrobras so zu schwächen, dass sie nicht die einzige Operateurin des pré-sal sei, was die zwei Hauptbereiche der in der globalen Erdölproduktion grassierenden Korruption beeinträchtigen würde: die Überdimensionierung der Produktionskosten, entschädigt mit Öl, und die betrügerische Messung der Produktion. (…) Viele naive BrasilianerInnen (…) wissen nicht, dass die globalen Privatkonzerne, die einzigen, die Petrobras kaufen könnten, die korruptesten und die am meisten korrumpierenden Unternehmen der Welt sind.
(…)
Seit ca. 10 Jahren prüft die US-Revisionsgesellschaft PricewaterhouseCoopers die Bücher von Petrobras. Sie hat dafür Zugang zu allen Unterlagen des Unternehmens. Seit 5 Jahren ist PwC auch zuständig für die strategische Planung von Petrobras. Sie unterschrieb auch die Bilanz der ersten beiden Trimester dieses Jahres. Wie sollen wir da akzeptieren, dass PwC sich jetzt weigert, die neue Bilanz zu unterschreiben, um sich von aller Schuld frei zu waschen? … Das Unternehmen Boston Group ist verantwortlich für die Taktische Operative Planung von Petrobras und hat ebenfalls Zugang zu allen Daten. Wie soll es die Unregelmässigkeiten nicht entdeckt haben? Und was soll der Vorteil von Petrobras sein, diese Funktion an ein ausländisches Unternehmen ausgehändigt zu haben? Für die USA ist es optimal: Zugang zum Innersten von Petrobras. Im Integrierten Datenzentrum von Petrobras arbeiten US-Unternehmen (die Hälfte von allen) und drei weitere besorgen die Datenverschlüsselung. Die Software für die Verarbeitung der Explorations- und Förderungsdaten gehört Halliburton. US-Unternehmen sind in allen Schlüsselpositionen von Petrobras. So wird deren Verwaltung nicht nur privatisiert, sondern auch entnationalisiert. Das kann Absicht sein, um das Unternehmen zu demontieren.

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Gegen Megaprojekte laufen rund um den Globus Betroffene teilweise verzweifelt Sturm. Es geht nicht darum, diese im Namen der nationalen Wirtschaftssouveränität schön zu reden. Umgekehrt ist eine „puristische“ Haltung, wonach Hans sowieso was Heiri, eine der politischen Bestimmung im nationalen Rahmen unterworfene Entwicklung auf jeden Fall das Gleiche wie die Dominanz von Multis sei, bestenfalls Ausdruck von Dummheit. Dank der oben erwähnten industriellen Entwicklung haben die PT-Regierungen 40 Millionen Menschen aus der Armut befreit – das wird heute zurück gerollt. Die heute anklingende vorsichtig-freudige Erregung über die wirtschaftliche „Gesundung“ in Brasilien ist kein Zufall.