(zas, 1.3.17) Vorgestern veröffentlichte die salvadorianische
Linkspartei FMLN ein Communiqué
mit dramatischem Unterton. Die jetzt regierende ehemalige Guerilla sagt darin: «Das Volk muss und kann die Vollendung des
Abbaus des Rechtsstaates verhindern und die Zerstörung der Grundlagen der
Republik umkehren und die durch die Urteile der Verfassungskammer geschaffene juristische
Unsicherheit verurteilen. Urteile im Rahmen einer politischen Agenda, die den
oligarchischen Gruppen gehorcht und Destabilisierungsziele verfolgt.»
Auslöser für das FMLN-Statement war der Beschluss der Verfassungskammer vom 24. Februar,
Ulises Rivas als Magistrat des Obersten Wahlgerichts TSE «provisorisch»
abzusetzen. Rivas unterstütze den FMLN, weshalb er «den unparteiischen Charakter» der Parlaments- und Gemeindewahlen
im März 2018 «gefährden könnte». Laut
der Verfassungskammer dürfen MagistratInnen etwa des B. des TSE, des Obersten
Gerichts oder des Rechnungshofs auf keinen Fall Mitglieder von Parteien sein.
Rivas ist und war nach eigenen Aussagen und dem offiziellen Mitgliederregister
des FMLN nie in dieser Partei organisiert. Er war vom 2014 vom Parlament auf
der Basis eines vom Obersten Gericht unter Mitwirkung mehrerer Richter der
Verfassungskammer erarbeiteten Vorschlags zum TSE-Magistraten gewählt worden.
Als Hinweis auf eine FMLN-Mitgliedschaft Rivas’ verwies die
Verfassungskammer bei der Aufnahme des Verfahrens auf ein Video, das Rivas an
einer Wahlveranstaltung des FMLN zeigt. Der Ex-Magistrat hat als Antwort wiederholt
auf sein Recht gepocht, politische Sympathien haben und zeigen zu dürfen. Für
die Kammer ist genau dies jedoch eine «wiederholte
öffentliche Unterstützungsäusserung», die unvereinbar sei mit dem Amt.
Die Magistraten der Verfassungskammer. Quelle: Verdad Digital. |
Tatsächlich geht es um anderes. Rivas, früher in der staatlichen,
aber regierungsunabhängigen Menschenrechtsprokuratur PDDH aktiv, hatte vor dem
Obersten Gericht ein Verfahren für die Absetzung der vier Magistraten der
Verfassungskammer angestrengt. Zwei von ihnen sind 2009 faktisch illegal auf
die Wahlliste für die Kammer gelangt, da sie weder von vom Nationalen
Judikaturrat noch von den vereinigten Anwaltskammern überhaupt vorgeschlagen
worden waren. Die beiden kamen auf Drängen Alfredo Cristianis, des früheren Staatspräsidenten
und Chefs der wichtigsten Rechtspartei, ARENA, auf die Parlamentsliste. Einer
der beiden, Belarmino Jaime, war früher Geschäftsbevollmächtigter Cristianis
gewesen. Zum andern hatte die Anfang 2009 noch amtierende frühere Verfassungskammer
dem demnächst abtretenden Parlament untersagt, Erneuerungswahlen ins Oberste
Gericht und die Verfassungskammer zu tätigen. Denn es habe schon zu Beginn
seiner Legislatur ein Drittel des Obersten Gerichts gewählt. Die vier
Magistraten der Kammer (der fünfte, nominell sein Präsident, wird wegen seiner
Bedeutungslosigkeit nur selten erwähnt) wurden dennoch vom alten Parlament
gewählt. Insofern mag Rivas durchaus Recht haben, wenn er seine Absetzung auch
als Rache taxiert. Auch sein Begehren, die vier Magistraten mögen im Verfahren
gegen ihn zugunsten von StellvertreterInnen in den Ausstand treten, wischten
diese mit dem Hinweis vom Tisch, solange das Begehren nicht beurteilt sei, sei
es wirkungslos.
Im Kern geht es aber um die kommenden Wahlen. Im TV-Kanal 12
meinte
FMLN-Chef Medardo González: «Was macht
die Kammer? Sie ebnet ARENA, den rechten Parteien, den Weg zu einem Wahlbetrug.
[…Sie tritt] die Friedensabkommen, die dieses Land so viel gekostet haben, mit
Füssen.»
FMLN-Chef Medardo González. |
Doch warum Wahlbetrug? Die Verfassungskammer hat eine lange
Tradition der Manipulation von Wahlgängen, z. B. mit neun Eingriffen in Wahl-
und Auszählungsmodi allein vor den letzten Wahlen 2015. Eine auch seither
aufrecht gehaltene Tradition (s. El
Salvador – Perversion des Menschenrechtsdiskurses), die mittlerweilen etwa Bestimmungen
gebracht hat wie jene, dass die «ParteienvertreterInnen» an den Wahltischen künftig
nicht in Parteien organisiert sein dürfen oder eine andere für eine massive
nochmalige Verkomplizierung des Auszählverfahrens. Dies ist einer der springenden
Punkte. Schon bei den Parlamentswahlen 2015 kam es aufgrund einer von der
Kammer gegen die Absicht des Gesetzgebers aufgezwungenen Auszählweise der
Stimmen für die ParlamentskandidatInnen zu «unmöglichen» Zuständen – völlig erschöpfte
Wahltischdelegierte zählten bis in die frühen Morgenstunden hinein Stimmen. Das
gleiche Verfahren hat die Kammer jetzt auch für die StellvertreterInnen der Abgeordneten
angeordnet. Damit wird eine computerisierte Stimmauszählung praktisch
unvermeidlich.
Wer schaut in die
Black Box?
Und hier liegt ein Grund für die «provisorische» Amtsentfernung
von Rivas. Die sensiblen Departemente im TSE wie Register, Informatik oder
Logistik werden von ARENA-Mitgliedern geleitet. Der Registerchef hatte vor den
letzten Wahlen selbst dem Präsidenten des TSE einen Einblick in das Register
verwehrt. Bei den Wahlen von 2015 kam es zu einem gewissen Auszählungs-Chaos,
hauptsächlich wegen einer Reihe von «Pannen» bei der Resultateübermittlung. Seit
einiger Zeit tobt im TSE eine Auseinandersetzung über die künftig für
Auszählung und Übermittlung zu verwendende Software, wobei das 5-er Gremium bei
solchen Fragen nur mit einer 4-er-Mehrheit beschlussfähig ist. Bisher war das
Stimmenverhältnis meist 2:3 (TSE-Chef Julio Olivo und Rivas gegen die klaren
VertreterInnen der Rechtsparteien). In der Auseinandersetzung geht es um Fragen
wie Hackeranfälligkeit und Überprüfbarkeit des Quellcodes. Mit der Entfernung von Rivas und dem «provisorischen»
Auftritt seiner Stellvertreterin ändert sich das Kräfteverhältnis zu einem 1.4
für die Rechte. Die Frau, Sonia Liévano, ist die Schwester einer hochkarätigen früheren
ARENA-Ministerin und war jahrelang Geschäftsbevollmächtigte einer grossen Supermarktkette,
die im militant gegen den FMLN ausgerichteten Grossunternehmerverband ANEP
sitzt.
Ironischerweise wurde just am 25. Februar bekannt,
dass der Rechnungshof CCR ebenso wenig wie der Präsident des TSE vom
Informatikchef des TSE, René Torres, Hauptverantwortlicher für die «Übermittlungspannen»
von 2015, trotz mehrmaligem Insistieren je eine Bescheinigung seiner
professionellen Befähigung für sein Amt erhalten hat.
Vom Chaos zur
Immunisierung
Diese von der Kammer anvisierte Veränderung der internen
Gleichgewichte im TSE zugunsten der Rechten ist im Kontext ihrer erwähnten
Anordnung zu sehen, dass künftig Mitglieder der Wahltischkommissionen nachgewiesenermassen
keine Parteimitglieder sein dürfen. Es steht in den Sternen, wie dies für die
Wahlen in einem Jahr umgesetzt werden soll. Den Hintergrund dieses Beschlusses
beleuchten die Wahlen von 2015 bestens. Trotz des von ARENA und
Verfassungskammer provozierten «Chaos», trotz der dokumentierten Allianz
von ARENA mit den immer mehr paramilitärischen Strukturen gleichenden «Strassenbanden»
konnte der FMLN die Präsidentschaftswahlen gewinnen. Warum? Dank der
Wahltischakten, die die Parteidelegierten gemeinsam unterzeichneten, und die
jede Partei erhielt. Zweimal konnte der FMLN dank dieser Akten die Präsidentschaft
gewinnen, für die Rechte ein Beleg, dass das System nicht mehr funktioniert.
Mit der massiven Relativierung der Parteipräsenz an den Tischen,
propagandistisch vermittelt über den gewohnten Diskurs von der Parteienverdrossenheit
«der Bürger». ist der Wert dieser Akten von nun an in Frage gestellt. Denn für
eine halbwegs funktionierende Vertretung an den Wahltischen musste speziell der
FMLN, der nie auf Protektion seitens der Wahlbehörden zählen konnte, enorme
Anstrengungen in die Schulung und das Engagement seiner Delegierten stecken –
das erforderte weit mehr als einen kurzen Workshop. Die Kammer greift mit ihren
Entscheiden, so auch mit der Amtsentfernung Rivas, genau diese Dynamik an.
Deshalb spricht der FMLN von Wahlbetrug.
Kammerdrohung
Es gibt weitere Kammerraritäten im Vorwahlfeld. Kürzlich sandte
Kammermitglied Rodolfo González wieder entsprechende Signale aus. Der nicht nur
dank dem oben erwähnten Listenbetrug, sondern auch dem Verschweigen von
Vorfällen häuslicher Gewalt überhaupt in die Kammer geholte Magistrat drohte im
Januar erneut, die Kammer werde jenen Parteien, die über ihre Mittelzuflüsse
nicht eine dem neuen Parteiengesetz entsprechende volltransparente
Informationspolitik betreibe, möglicherweise die Teilnahme an den kommenden
Wahlen verbieten. Während der FMLN bis auf laut CCR nicht klar zuordnungsbare $
50'000 im letzten Prüfungsjahr seine gesamten Finanzen offengelegt hat, weist
ARENA Leerflächen in siebenstelliger Höhe auf. Die Drohung des rechten Ultras
González über die faktische Annullierung der Wahlen dürfte so nicht umgesetzt
werden. Aber die Kammer wird auch auf diesem Gebiet Massnahmen umsetzen, die
den FMLN, nicht etwa ARENA, treffen. Zum
besseren Verständnis: Die Kammer hat bisher eine Reihe hoher Amtskader,
inklusive eines eigenen Präsidenten, wegen Nichtbeweisführung ihrer
Nichtmitgliedschaft im FMLN, abgesetzt. Ab und an traf es auch Mitglieder
anderer Parteien, die die mit dem Frente eine gewisse Allianz eingegangen
waren. In keinem Fall traf es VertreterInnen von ARENA in den Instanzen.