(zas,
12.9.17) Gestern jährte sich der Militärputsch in Chile vom 11. September 1973
zum 44. Mal. Wir lesen in der NZZ keine Kommentare mehr, die unterstreichen, wie
Pinochet bei allen Fehlern wirtschaftlich viel Gutes für das Land getan und so
das verheerende Erbe der Volksfront von Salvador Allende abgebaut hat. Das wurde
in dem Masse inopportun, wie sich in den späten 1980er Jahren der Widerstand
gegen sein Regime intensivierte und der Neoliberale 1990 ein Referendum verlor.
Zur
Erinnerung Auszüge aus dem Artikel
in Swissinfo „El embajador suizo descorchó el champán“ vom 18. April 2009.
__________
von Antonio
Suárez Varela
11. September 1973: Ein Militärputsch stürzt
die Regierung von Salvador Allende und macht Schluss mit dem „chilenischen Weg
zum Sozialismus“. Tausende flüchten und suchen Asyl in Europa.
In der
Schweiz beginnt eine Auseinandersetzung zwischen Bundesbehörden und Gruppen der
Zivilgesellschaft über den Empfang dieser Flüchtlinge. 35 Jahre später enthüllt
ein Buch des Historikers Maurizio Rossi die Hintergründe dieses Zusammenpralls
von ziviler Solidarität und Staatsraison.
„Kaum angekommen, rief ich den Schweizer
Botschafter an, der mir gleich sagte: ‚Am Nachmittag des Putschs haben wir in
der Botschaft den Champagner entkorkt‘. Diese in meinem Artikel zitierte Erklärung
weckte in weiten Kreisen Protest und brachte das Eidgenössische Politische Departement,
wie das Aussenministerium EDA damals hiess, in Bedrängnis.“
Mit diesen
Worten erinnert sich Jacques Pilet an seine Ankunft in Santiago de Chile vier
Tage nach dem Militärputsch. Der damalige Journalist der Tageszeitung „24
Heures“ zeichnet die historischen Ereignisse, die er zusammen mit anderen
Sondergesandten nach der Ankunft im Andenland in einem Vorwort eines Buches nach,
das das Handeln der helvetischen Regierung und der Initiativen der
Zivilgesellschaft zwischen 1973 und 1976 umfassend analysiert.
Das Buch
„Solidarité d’en bas et raison d‘État - Le Conseil fédéral et les réfugiés du
Chili (septembre 1973-mai 1976)“, letzten Herbst vom Verlag Alphil
herausgegeben, ist das Resultat einer genauen Auswertung von Dokumenten im Bundesarchiv,
die kürzlich deklassifiziert wurden, nachdem die im Bundesarchivgesetz
enthaltene Geheimhaltungsfrist von 30 Jahren abgelaufen war. Autor ist der
Tessiner Historiker Maurizio Rossi, der seit einigen Jahren am Projekt zur
Herausgabe der Diplomatischen Dokumente der Schweiz (dodis.ch) mitarbeitet.
Die
Untersuchung des Historikers wirft Licht auf ein wenig beachtetes Thema. Und
seine Schlussfolgerungen sind für die in jener Zeit in den Entscheidungsprozess
involvierten Kader nicht sehr schmeichelhaft.
Ideologische Affinität mit den Putschisten
In den ersten Tagen nach dem Putsch versuchten
Sympathisanten der Regierung Allende, sowohl Basisaktivisten wie auch
Gewerkschafter, Arbeiter, Studenten und kommune Bürger vor der militärischen
Repression zu fliehen. 1000 Bürger fanden in einigen Botschaften Schutz. Die
Schweizer Vertretung schloss jedoch ihre Toren und liess nicht einmal Schweizer
herein.
„In den ersten zwei Putschwochen gab es seitens
der Schweizer Botschaft in Santiago eine Haltung quasi totaler
Abgeschlossenheit“,
erklärt Rossi. „Aus den Berichten des
Botschafters nach Bern ist klar ersichtlich, dass dieser grosse Vorurteile ideologischer
Art gegen die Regierung Allende hatte. Die von der Militärjunta verfolgten, gefangen
genommenen und gefolterten Personen waren für ihn Linksextremisten. Es gab
definitiv eine ideologische Affinität zwischen dem Botschafter und den
Putschisten. Der Fakt, dass er am Putschnachmittag eine Champagnerflasche
öffnet, zeigt das klar.“
Die
Schweizer Regierung, die jederzeit auf dem Laufenden über die Geschehnisse in
der chilenischen Hauptstadt war, zauderte zwei Wochen, bis sie dem damaligen
Botschafter Charles Masset bindende Anweisungen für die Aufnahme von
Flüchtlingen gab.
Passivität der Regierung
Die
Regierung verharrte lange Zeit in einer Haltung des Stillstands und der Passivität.
In einem Versuch, das Image nach aussen zu wahren, beschloss der Bundesrat
Mitte Oktober von 200 chilenischen und lateinamerikanischen Flüchtlingen im
Rahmen einer Sonderaktion. Wie Maurizio Rossi in seinem Buch enthüllt, gab es
in der Bundesverwaltung eine gewisse Befürchtung, dass „subversive“ Elemente in
die Schweiz kommen könnten, die die politische Lage destabilisieren könnten.
Eine der
grossen Überraschungen der Studie ist die Tatsache, dass Verwaltungsfunktionäre
eine wichtige Rolle einnahmen. „Sie waren
es, die die Beschlüsse des Bundesrats vorbereiteten“, versichert Rossi. „Alles, was die Bundesräte machten, war die
Entscheide der Funktionäre zu validieren.“
______
(zas) Der
Artikel geht weiter auf die zivilgesellschaftliche Freiplatzaktion ein, der es
gelang, rund 400 chilenische Menschen in die Schweiz zu holen. Rossi sagt: Dabei
„war die Hilfe eines alten italienischen
Partisanen aus dem 2. Weltkrieg entscheidend. Er leitete ein Reisebüro und dank
ihm konnte die Freiplatzaktion Blankoflugscheine kaufen, die kurz vor dem Start
mit den Namen der Passagiere ausgefüllt werden konnten. Ohne die Hilfe dieser
Person hätte die Freiplatzaktion niemals so viel Erfolg haben können.“
Die
Flüchtlinge landeten in Mailand und wurden schwarz über die Grenze in den
Tessin gebracht.
______
Jetzt, wo
die Schweizer Multis bei der Finanzblockade von Venezuela mitmachen, ist
übrigens ein kurzes Schreiben der Schweizer Botschaft in Chile vom 7. Juli 1973
hoch interessant, das in dodis.ch veröffentlicht
ist. In dieser Zeit hatten die USA den Wirtschaftskrieg gegen das Land als
Vorbereitung für den Militärputsch absolut hochgefahren; die Regierung Allende hatte
massive Probleme, an Devisen heranzukommen – und schon damals gab es eine im
Vergleich zu später noch milde, aber dennoch schon drückende Schuldenfalle. Das
erwähnte Schreiben der Schweizer Botschaft nun dreht sich um eine Gewerkschaftsbesetzung
einer Nestlé-Filiale Anfang Juli und empfiehlt den Kollegen in Bern, sich mit
Blick auf die unmittelbar bevorstehenden „Verhandlungen
betreffend Schuldenkonsolidierung“ in Paris „umgehend und nachdrücklich an euch geeignet erscheinender hoher Stelle
für die Interessen von Nestlé zu verwenden“.
Masset in
Santiago war kein Sonderfall. Marie-Claire Caloz-Tschopp schreibt in ihrem Buch
„Le tamis hélvétique – des réfugiés politiques aux ‘nouveau réfugiés’“ (1982, Editions
D‘ En Bas) : „Dieses Szenario [der Schweizer
Botschaft in Santiago] hat sich einige Jahre später, 1980, in mehr oder weniger
gleicher Weise in der Schweizer Botschaft in Bolivien wiederholt.“ 1980 gab es in Bolivien einen Militärputsch.