«Wir an der Basis sagen: mehr Solidarität, mehr Einheit, mehr Organisation … mal sehen, was die Leitung sagt.»
(zas, 25.7.18) Wir erhielten
dieses Interview eines Solidaritätsaktivisten mit einer Compañera (vom 19. - 20.
Juli), welche die Lage in der nördlichen Stadt Matagalpa beleuchtet. Aus
Sicherheitsgründen musste die Compa anonymisiert werden.
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Heute, am 19. Juli, schicken wir Grüsse und Umarmungen. Ist es so, dass
die Anlässe zur Feier des Sieges von 1979 dieses Jahr auf der Ebene der
Departemente oder gar Gemeinden stattfinden?
Ja. Im Fall unseres Departements,
Matagalpa, beteiligten sich alle Gemeinden an der Feier in der
Departementshauptstadt, mit Ausnahme von Esquipulas. Ich nehme an, wegen der
schlechten Strasse. Aber sie sagen, sie hätten eine Karawane gemacht, dann einen
kleinen Anlass, um anschliessend im TV das Treffen in Managua anzusehen und
danach ein kleines Fest zu machen.
In Matagalpa zuerst eine Karawane
(Motos, PWs, Lastwagen, Pick-ups, alles) und dann eine Veranstaltung. Die
Veranstaltungen in allen Departementshauptstädten waren massenhaft, viele Leute,
die kamen, wie sie konnten, denn zur Unterstützung gab es nur wenig Geld. Dasselbe
bei den T-Shirts [mit FSLN-Logos]; alle kauften eines. Sie wurden nicht [vom
FSLN] verschenkt; viele Leute stellten selber welche her, sehr schöne, und
verkauften sie. Und wer ein wenig Geld hatte, kaufte eines für den, der keines
hatte, und so. Und es gab viele Aufrufe zur Einheit und zur Solidarität. Bis
jetzt habe ich nichts von Problemen gehört, alle konnten sich ruhig bewegen und
mit Zuversicht und Freude feiern.
Wir warten stets auf konkrete Infos, wie ihr Sandinistas die Krise im
Quartier erlebt?
Also ich wohne im Zentrum von
Matagalpa, und Anfang Mai kam es schon zu den ersten Bewegungen, den ersten tranques (Barrikaden), aber noch nicht
auf den wichtigen Strassen, auch nicht in der Stadt selber, so dass wir uns
relativ ruhig bewegen konnten. Es gab auch schon die ersten Demos. Zum Beispiel
kamen an eine Totenfeier in meinem Quartier Leute von einer sandinistischen
Demo, aber auch Leute der sog. autoconvocados
[selbstständig Mobilisierte, Antiregierungskräfte], In so einem Moment nimmt
man nicht auf, wer gerade kommt, aber die beiden, die in der Messe die Schrift vorlasen,
gehörten zu den PutschistInnen, die eine ist Lehrerin und die andere Kreditdealerin,
die schon ein paar Leute auf die Strasse gestellt hat und in der Nähe von
Manuel wohnt.
In jener Woche bat mich meine
Tochter, die in Managua wohnt, für eine Woche zu sich, wegen der Situation und
weil sie nicht auf die Frau zurückgreifen konnte, die ihr mit dem Kind hilft.
Eben wegen dieser Situation konnte diese Frau nicht reisen. Ich konnte auch
nicht mehr normal hinfahren, auch nicht in meinem Wagen, aus Sicherheitsgründen
wegen der tranques, denn die
Drohungen über Facebook und WhatsApp hatten schon begonnen. Meine Tochter
organisierte einen anderen Wagen, und ich fuhr über León und Feldwege, um nach
Managua zu kommen. Danach konnte ich nicht mehr fort, nicht wegen der Frau, die
meiner Tochter hilft – sie konnte dann doch noch kommen – aber ich konnte nicht
in einen Bus ein- und danach umsteigen, wegen der tranques. Wenn sie mich erkannt hätten, hätte das Risiko bestanden,
dass sie mich entblössten, folterten oder auch umlegten.
In jener Zeit schliefen schon
alle wichtigeren Kader in der Gemeinde- oder in der Departementszentrale des
FSLN. Das Bürgermeisteramt war von Soldaten geschützt, aber für den Schutz der Frente-Einrichtungen
sorgten die Sandinistas selber, ohne Waffen, mit Steinschleudern,
Schlagstöcken, Steinen, und manchmal auch einer Waffe von jemandem, der eine
besass. Es kamen mehr Leute zum Schutz herbei, einige mit ihren eigenen Revolvern
oder Pistolen, einige Bauern kamen mit den Gewehren, die sie auf ihren Höfen
haben. Sie kamen und auch ziemlich viel Leute aus den Comunidades aus einigen
Quartieren wie La Chispa, wo sie nie Barrikaden zuliessen. Dank den Leuten von
La Chispa blieb die Strasse nach Jinotega frei von tranques. Tagsüber gingen dort alle ihrer Arbeit nach, denn dies
war die Losung: weiterarbeiten! Nur einige schoben Wache.
Tagsüber alles normal, ausser in
der Gegend, wo meine Mutter wohnt, in der Nähe von Manuel. Er verbrachte diese
ganze Zeit in Angst und wie eingesperrt. Nachts war die Polizei kaserniert, auf
Verlangen der Bischofskonferenz, und so liessen sie nachts die Sau raus – Motos
ohne Auspuffrohre auf den beiden grossen Strassen, versuchte Angriffe auf das Departementshaus
des Frente, auf das Geburtshaus von Carlos Fonseca, auf Radio Yes etc. Das Departementshaus
griffen sie mehrmals an, aber es erging ihnen dabei nicht gut, die Leute waren unterdessen
gut bewaffnet, Privatpersonen stellten ihnen ihre Waffen zur Verfügung, in den
Quartieren begannen die Leute, sich zu verteidigen und liessen sie nicht durch –
so ging das zweieinhalb Monate. Ich denke, was in Matagalpa vermutlich auch half,
war, dass der Handel einen privaten Sicherheitsdienst bezahlte, als ihnen klar wurde,
dass da Kriminelle unterwegs waren. Sie heuerten einen privaten Wachdienst an,
El Águila, und in diesen Unternehmen arbeiten meistens Ex-Soldaten - nun, das
half.
Aber sie nahmen das Logistiklager
der Gemeinde ein, sie verbrannten und raubten alles, nach Lust und Laune. Zwar
war das meiste Inventar schon in EDISMAT in Sicherheit gebracht worden, für die
Gemeinde entstanden da dennoch beträchtliche Kosten. Danach kam es zum Angriff
auf die Familie Sosa, auch in jener Gegend beim Stadion. Sie kamen sogar mit
einem Bulldozer aus dem Logistiklager, sie versuchten, sie zu verbrennen. Aber
die Familie Sosa war vorbereitet, sie hatte Waffen und Feuerlöscher, sie
verteidigte sich von 6 h nachts bis 5 h früh. Ein Compañero, der mit anderen zu
Hilfe geeilt war, starb dabei. Er war aus Mulukukú, schon älter. Er war gekommen,
um zu seinem Sohn zu sehen, der dabei war, erhielt auf der Strasse einen
Beinschuss und wurde dann von einem Scharfschützen erschossen. Und wie du dir
vorstellen kannst, ist der Besitzer von diesem hohen Haus, aus dem der
Scharfschütze schoss, nicht mehr in Matagalpa, wie ein paar andere Leute auch.
Mit Bulldozer gegen die Familie Sosa. |
Beerdigung in Mulukukú von Arán Molina, der in Matagalpa ermordet wurde. |
Die Leute verlangten Waffen zur
Selbstverteidigung und dass die Polizei wieder ausrücke. Als sie dann wieder
ausrückte, freuten sich die Leute, aber sie war nicht allein, sondern begleitet
vom Volk, von Ex-Militärs, historischen Kombattanten, von Ex-Soldaten aus dem
Krieg gegen die Contra, von Studenten, von der Juventud Sandinista (Jugendorganisation des FSLN). Eine Menge
Leute, die den anderen Angst einjagte. Leider starben viele PolizistInnen, was
nicht heisst, dass ich nicht auch die anderen Toten bedaure, von beiden Seiten;
aber es gibt nicht einen Toten des [Unternehmerverbands] COSEP, der
Jugendpastorale, nein alles waren Arme.
Ich glaube, du weißt schon, was
sie an den tranques gemacht haben,
auch mit einigen sandinistischen Compañeros wie dem Sohn von Amada Pineda
[legendäre Bäuerin aus den Kämpfen gegen Somoza]. Sie haben Häuser von Sandinistas
in Brand gesteckt, in Jinotepe zuerst den Sohn ermordet, dann auch den Vater,
weil er Gerechtigkeit verlangte. All das.
In meinem Fall gingen die
Drohungen weiter … «Wir wissen, wo du wohnst, wo deine Töchter wohnen», in in Blut
getränkten Botschaften. Ich hatte nie Angst. Wer mir schrieb: «Passen Sie auf!»,
denen antwortete ich: «Keine Sorge, hier bin ich, sollen sie kommen, um mich zu
verbrennen…». Ich rede von Leuten, die mir solidarische Botschaften schickten.
Die Nachbarn (nicht alle) boten mir ihre Wohnungen an, für den Fall von Problemen
… Einige andere Nachbarn unterstützen die tranques,
jetzt sagen sie, das stimme nicht.
Ich berichte dir vom Sektor, wo
meine arme Mutter wohnt, die im schwierigsten Moment allein blieb. In der Nacht
hörte man Gerenne, als flüchteten sie, als griffen sie jemanden an, aber das
stimmte nicht, es sollte Angst erzeugen, Mörser die ganze Nacht, sie schrien,
sie hätten Verletzte, auch das Lügen, Schnaps und Drogen im Überfluss, auch
Prostitution, sie bedrohten die Geschäfte, damit diese schlössen, wenn sie
einen Streik verordneten, die Sandinistas beleidigten sie, wenn sie bei den tranques vorbeigingen, andere taten das nicht und bleiben in ihren
Häusern eingeschlossen. Wie Manuel, dem sie mit Mord drohten. Andere entführten
sie tatsächlich und stellten mit ihnen Schweinereien an. Manuel sagt, er
verkaufe sein Haus, er mietete etwas an und baut woanders ein Haus. Er sagt, so
eine Situation wie die, die er durchmachte, soll es nicht mehr geben, Tag und
Nacht in einer Ecke seines Hauses zu sitzen.
Strassenszene in Matagalpa. |
Mein Bruder lebt in Managua, in
den sogenannten barrios orientales
(östliche Quartiere). Dort gab es massenweise tranques, man konnte nur zu Fuss unterwegs sein, sie kannten die
Leute an den tranques nicht, es waren
keine Leute vom barrio, bezahlte
Leute. Aber sie bekamen den Horror, als sie im Radioprogramm A los cuatro vientos sagten, dies wären tranques der Drogendealer. Dort brachten
sie einen Nica-Gringo um und auch Francisco Araúz [Sohn der o. e. Amada Pineda].
Dieser Francisco war aus Matagalpa gekommen, um nach seiner Familie zu sehen
und die tranques dort hat die Polizei
ohne jeden Widerstand geräumt. Aber das barrio
organisierte sich, sie organisierten Kommunikationsnetze, um sich zu unterstützen
und bei Angriffen oder Räubereien zu warnen. Diese Familien haben viel
durchgemacht.
Ich glaube, am schlimmsten war es
für die Familien in Masaya, Jinotepe, Diriamba. Sie wollten Masaya zu ihrer
Hauptstadt machen, und falls das schief ginge, dann Matagalpa. In diesen
Städten sahen die sandinistischen und die nicht-sandinistischen Familien die
Lügen der Zeitungen, der Social Media und der Auslandsmedien, denn sie haben
diesen ganzen Horror am eigenen Leib erlebt, sie sahen, was sie mit Familien
und Personen anstellten, nur weil sie sandinistisch waren.
Ein Compañera, die in San Ramón [rurale
Gemeinde im Departement] arbeitet und neben der Familie Soza wohnt, verbrachte
diese ganze Nacht von 6 h abends bis 5 h früh unter dem Bett, sie konnte nur
ihre kleinen Geschwister und Neffen und Nichten zu sich holen. Diese Kinder
sind traumatisiert.
Die Polizei erlangte viel Anerkennung,
für ihre Arbeit, denn wir haben gesehen, wie sehr sie fehlt, wenn sie kaserniert
ist. Das haben wir vorher nicht zu schätzen gewusst.
Mit der Zeit verloren die «autoconvocados»
Leute und Sympathisanten, die auch erschraken ob all der Zerstörung, der
Fiesheiten, der Entwürdigung der Menschen. Und auch wegen denen, mit denen sie
sich verbündeten, dem rechten Hardcore in den USA und mit der ARENA-Partei in
El Salvador.
Der FSLN dagegen stärkte sich,
Leute, die sich zurückgezogen hatten, kamen jetzt, um die Reihen zu schliessen.
Sie haben uns aus Trägheit und Gejammer wachgerüttelt, jetzt müssen wir auf der
Hut sein, organisiert bleiben, denn sie werden nicht nachgeben. Und es bleibt
auch abzuwarten, ob es jetzt zu den fälligen Veränderungen in der Partei kommt.
Wie geht die Arbeit mit den ländlichen Comunidades weiter, insbesondere
in La Dalia?
Wir arbeiten weiter, sogar mehr
als vorher. In den Comunidades soweit alles gut, keine tranques, allerdings ein wenig kommune Kriminalität.
In La Dalia [rurale Gemeinde im
Departement] blieb alles ruhig. Es gab nur einen tranque beim Durchgang nach El Diamante, mit mit den Behörden von
La Dalia ausgehandelten Zeiten für den Personenverkehr. An einem Tag kam es zu
einer Schiesserei. Die am tranque
gehörten zur reaktionärsten Szene von La Dalia, Liberale und Contras.
Wir warten stets auf Infos von euch in der sandinistischen Basis
darüber, wie ihr die Lösung seht, um aus dieser Krise herauszukommen.
Lösung? Gerade rappeln wir uns
hoch. Es herrscht Frieden, Ruhe, die Strassen sind sicher, die Polizei ist
wachsam, so ist das heute. Wer hier den Gegnern wirklich Stärke gibt sind die
Priester: Die führen ihren Kampf weiter. Und dann sind da die Gringos, die uns
nicht in Frieden lassen werden, plus die OAS und die CIDH
[Menschenrechtskommission der OAS].
Die Regierung schaut, wie sie den
Leuten helfen kann, die ihre Arbeit verloren haben. Unmengen von Entlassenen im
Privatsektor, nicht beim Staat. Sie ruft auch zu Frieden und Versöhnung auf,
aber mit Selbstverteidigung. Wie mit den Jungen arbeiten usw.
Wir an der Basis sagen: mehr
Solidarität, mehr Einheit, mehr Organisation … mal sehen, was die Leitung sagt.
Wir warten immer noch auf politische Initiativen der Parteileitung und
der Regierung, um die Krise mit in Frieden, und nicht mit Konfrontation, zu
lösen. Gibt es da Hoffnung?
Auch wir warten auf Nachrichten,
die wir dir dann weiterleiten. In der Rede von Daniel gestern [Jahrestag der
Revolution von 1979] gibt es allerdings schon einige Hinweise darauf, ich nehme
an, du kennst sie schon. Was ich dir versichern kann, ist, dass wir diesen Frieden
suchen, den wir bis vor einigen Monaten hatten. Und ich denke, die Polizei hat
sich, abgesehen vom Beginn, sehr professionell und vorsichtig verhalten. Auch
wenn es zu Missbräuchen und auf der anderen Seite zu Verbrechen kam und es
nötig ist, dass die Justiz funktioniert. Viele dieser Verbrechen flüchten jetzt
nach Costa Rica. Es gab Verbrechen und dafür braucht es eine Bestrafung.
Was passiert ist, dass wir so
unverhofft und abrupt aus Frieden und Ruhe gerissen wurden. Wir haben Hoffnung,
wenn wir sie verlieren, sind wir geliefert.