Nicaragua: Hommage an Scarlet Cuadra Waters

Montag, 31. Dezember 2018


(zas, 31.12.18) Gestern gab Radio La Primerísima den Tod von Scarlet Cuadra Waters bekannt. Jung hatte sich die aus Bluefields an der Atlantikküste stammende Frau der Guerilla des Frente Sur gegen die Somoza-Diktatur angeschlossen. In den 80-er Jahren arbeitete sie u. a. in der FSLN-Kommission für politische Schulung und im Parteiorgan Barricada. 2008 war sie Mitbegründerin der Zeitschrift Correo de Nicaragua. Bis zuletzt setzte sie sich trotz langer Krankheit für einen revolutionären Sandinismus ein. Der Tod dieser kritischen, eigenwilligen Compañera ist für FreundInnen von uns in Nicaragua ein enormer Verlust. Im Zeichen des Mittrauerns veröffentlichen wir einen Ausschnitt aus einer Aufnahme von 2011[1], in der sie voller Hoffnung über die konkrete Emanzipation der Frauen in Nicaragua spricht. In einem in Correos 191 veröffentlichtem Text, dem Brief an eine Freundin der Opposition, ist hingegen ihre Klarheit gegen die reaktionären Umtriebe seit letztem April mit leiser Trauer über den Zustand des Sandinimus gemischt.  
Zeugnisse auf Radio La Primerísima:

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16. September 2011
Bezug zur ersten Phase der sandinistischen Revolution
Ich bin eine Tochter der Revolution der 80-er Jahre. Als Frau gehöre ich zu der Generation, die die Revolution erlebt hat. Ich war 20 Jahre alt und die Revolution der 1980er Jahre öffnete uns Räume, gab uns unsere Rechte zurück, ermöglichte uns aber vor allem einen neuen Blick darauf, was es heisst, eine Frau zu sein.
Bis 1979, erinnere ich mich, dass meine Familie von mir erwartete, dass ich die Uni abschliessen, heiraten und eine so normale Familie wie möglich haben würde. Aber mit der Revolution 1979 bin ich insofern gewachsen, als ich bestimmte, was ich tun wollte, welchen Rhythmus ich annehmen, wie weit ich gehen würde. Und das war damals bei Tausenden von Mädchen der Fall.
Für mich ist es so, dass [mit dem Wahlsieg von 2007] ein Projekt einer revolutionären Regierung fortgesetzt wird, das unterbrochen war. Es wurde nicht durch den Machtverlust [Wahlniederlage 1990] abgewürgt, nein, sondern vorher, vom Krieg. Denn Krieg verändert das Leben im Guten wie im Schlechten. Für die Gesellschaft als Ganzes sind wir in einigen Bereichen gewachsen, aber wir haben auch die Möglichkeiten verloren, uns als Individuum, als Gesellschaft, als Kollektiv zu entwickeln.
Also, mit dieser Regierung machen wir einen Anlauf auf dem abgebrochenen Weg. Das ist zutiefst wertvoll und ich diskutiere es zum Beispiel mit den Compañeros und Compañeras in dem Projekt, in dem ich arbeite, ein Projekt zur Umwandlung der Müllkippe von La Chureca in eine Deponie, ein Projekt der spanischen Zusammenarbeit mit namhaften Investitionen seitens der nationalen Regierung und des Bürgermeisteramtes von Managua.

Beispiel La Chureca
Bei den Angehörigen der etwa 225 Familien aus La Chureca handelt es sich meist um Frauen, erwachsene und jugendliche, ohne jede Möglichkeit, ihr Potenzial weiter zu entwickeln als Müll zu durchsuchen und Abfälle für die Wiederverwertung auszuwählen. Daher liegt in diesem Projekt ein besonderer Schwerpunkt darauf, dass Frauen die aktivsten Teilnehmerinnen sind, auf familiärer Ebene ebenso im Beruflichen und in der Ausbildung. Wir haben eine Werkstattschule, damit die Kids die Müllsortierung nicht mehr als einzige Überlebensalternative sehen. Eine Ausbildung von Fähigkeiten, die natürlich mit dem Bau, mit Schweissen, mit Handwerk zu tun haben.
La Chureca früher.
Unser Schwerpunkt liegt darauf, Räume, die nur für Jungs gedacht sind, aufzubrechen und sie für Frauen zu öffnen. Das ist wichtig, weil wir nicht nur sagen: „Komm, Mädchen, lern Schreinern, lern Schweissen“, sondern es geht darum, dass die junge Frau irgendwann selbst erkennt, dass sie fähig ist, Funktionen zu übernehmen, die bisher als ausschliesslich männliche Domäne galten.
Ich sage das, weil wir weit davon entfernt sind, den Mädchen nur beibringen, Sekretärinnen zu werden, Dinge über Schönheiten oder Modeschmuck zu lernen. Wir helfen ihnen, neue Fähigkeiten zu entwickeln und ihre eigenen Talente zu entdecken. Tatsächlich haben neun Kids die Ausbildung schon abgeschlossen, von insgesamt fünfzehn TeilnehmerInnen. Am besten schloss eine Frau ab, sie ist Elektrikerin.
In dieser Comunidad stellen wir die Fähigkeiten von Frauen auf die gleiche Stufe wie die der Männer. Dies hat einen Dominoeffekt und wir hoffen, bald mehr Frauen in dieser Gemeinschaft zu sehen, die sich zuvor nur der Müllsortierung widmeten oder dachten, dass sie nur dazu imstande seien. Wir sehen, wie sie jetzt andere Rollen und aktivere Rollen einnehmen und mehr von ihren Fähigkeiten und ihrem Potential für den Aufbau eines neuen Lebens nutzen.

Bildung macht Revolution
Ich gebe dir als Beispiel, was ich täglich in der Ausübung meiner Tätigkeit als Kommunikatorin erlebe. Aber ich glaube auch, dass sich dieses Beispiel, diese Erfahrung landauf, landab wiederholt. Wenn wir die Türen der Ausbildung, der Kenntnisse für Männer und Frauen öffnen, machen wir eine Revolution. Wenn wir darauf insistieren, dass Frauen teilnehmen, dass sie Fachkräfte werden, Gemeindeleiterinnen, Gesundheitsleiterinnen, verändern sich nicht nur die einzelne Frau und ihr Leben, sondern auch die Gesellschaft – wenn wir Fähigkeiten bei Frauen anerkennen, die bisher unsichtbar geblieben sind.
Ohne die Revolution gab es zwar Räume für Frauen, die aber nach sechzehn Jahren [unter neoliberalem Regime] negiert, geschlossen wurden, weil die Wirtschaftskrise, die insbesondere die Armen drückte, die Frauen dazu zwang, sich in ihren vier Wänden einzusperren oder lediglich Rollen in der Haushaltsführung einzunehmen. Die haben ihren Wert, aber der Raum für die Teilnahme an der Comunidad wurde dicht gemacht. Der Zugang zur Bildung wurde schrittweise geschlossen. Der Raum für eine bessere Bezahlung wurde geschlossen. Und in der eigenen Familie übernahmen die Frauen diese Rolle, nur innerhalb der vier Wände des Hauses zu sein.

Öffnung und Widerstand
Diese Türen wieder zu öffnen, ist also der erste grosse Schritt für Frauen, um wieder Protagonistinnen dieses Prozesses zu werden. Auf politischer Ebene kommt das schlecht an. Viele Genossen widersetzen sich dem. Wir haben die stellvertretenden politischen Sekretärinnen durchgedrückt! Sie sind obligatorisch. Viele Männer sagen: "Die sollen sich diesen Rang verdienen!" Bei der Wahl der Leitung sagen viele Compañeros: "Aber ich weiss nicht, warum dieser Posten verschenkt werden soll...." In diesem Moment kommt es zu einer Diskussion. Die Meisten akzeptieren die Sache, aber eigentlich passt sie ihnen nicht. Aber wenn sie sehen, dass das tatsächlich funktioniert, sagen sie: "Ich hatte wirklich Recht, diese Vize zu wählen, denn der XY funktioniert nicht so gut wie die Compañera.“ So bringst du das Kollektiv zum Nachzudenken.
Aber dann hast du auch die Möglichkeit, dass diese Gruppe von GenossInnen die Fähigkeiten dieser Frau, die Führung des Kollektivs zu übernehmen, zu schätzen beginnt. Ich denke, dies ist ein wichtiger Schritt nach vorne, den man positive Diskriminierung nennt, du gibst sie per Gesetz vor, aber wichtiger ist, du schaffst die Möglichkeit, diese Räume für Frauen zu öffnen.

Therapeutische Abtreibung
Ein Thema, bei dem die Regierung hinterfragt wird, ist ihre Entscheidung, die therapeutische Abtreibung zu kriminalisieren. Hier gibt es auch eine wichtige Debatte, damit die Frauen, die Familie, die Gesellschaft anerkennen, dass das Recht einer Frau auf selbstbestimmte Sexualität nicht mit dem Recht auf Abtreibung beginnt oder endet.
Eine Compañera sagte mir, dass allein die Tatsache, dass einer Frau das Recht auf Abtreibung verweigert wird, schon eine Diskriminierung der Frauen ist. Mein Ansatz ist, dass, wenn die Frau darüber informiert wird, wie eine Schwangerschaft zu verhindern ist, aber schwanger wird und sich entscheidet, abzubrechen, dassa sie dann von ihrem Recht Gebrauch macht und ihre Gründe dafür haben wird. Aber wenn Abtreibung die einzige Alternative ist, die die Frau in einer Situation hat, in der sie keinen Zugang zu Informationen hat, dann macht eine Abtreibung sie weder freier noch unfreier.
Ich glaube also, dass die Frage der therapeutischen Abtreibung weiter diskutiert werden muss. Wir, Frauen und Männer, halten es für ein gesellschaftliches Recht, das Leben von Frauen zu retten. Die Debatte muss weiter gehen und sich nach dem Prinzip des Ideenaustauschs, nicht einfach nach geschaffenen Tatsachen richten. Ganz im Gegenteil.

Ausbildung und Begleitung
Ich rede nicht gerne über die Kostenlosigkeit von Ausbildung oder Gesundheit. Das sind Rechte. Diese Rechte sind wieder in Kraft und müssen für Frauen und Männer zugänglich sein. Das ist grundlegend. Das öffnet Türen, aber es ist interessant zu sehen, wie diese Regierung ihre Verantwortung wahrnimmt.
Die Klassenzimmer sind nicht geschlossen, sie sind voller Frauen und Männer. Du kannst kostenlose Programme öffnen und anbieten. Aber wenn du die Leute nicht so begleitest, dass sie die Wichtigkeit ihrer Ausbildung verstehen und assimilieren, dass sie ihr Wissen mit anderen teilen und das anderer kennen lernen – das ist für mich ebenso wichtig wie überhaupt der Zugang zur Bildung. Und ich glaube, diese Begleitung gibt es, und das schätze ich an dieser Regierung.
Es gibt in die Gemeinde eine permanente Kampagne für die Teilnahme an der Ausbildung. Im Falle von La Chureca gibt es beispielsweise diese Begleitung. Die Frau wird technisch ausgebildet, kostenlos. Und wir haben auch eine Kindertagesstätte für die unter fünfjährigen Kinder dieser Frauen. Weil wir die Tatsache nicht ignorieren können, dass die meisten Frauen ab 16 Jahren Kinder haben. Und für sie ist es ein Hindernis oder eine Einschränkung, ihre kleinen Kinder für 4 Stunden zu verlassen. Parallel zur Öffnung der Türen, zur gleichen Zeit, in der wir diese permanente Begleitung durchführen, hat die Regierung ein Zentrum eingerichtet, in das sie ihre Kinder unter 5 Jahren während der Unterrichtszeit bringen können. Und ich denke, dass es auf Gemeinschaftsebene ein Verantwortungsbewusstsein für die Ausbildung von Frauen gibt.
Weil du siehst, dass Männer natürlich sagen: "Nein, nein, wer wird sich um die Kinder kümmern?" Aber es liegt an ihr zu entscheiden. Sie ist diejenige, die sich auskennt. Sie ist diejenige, die lernen wird. In der Comunidad verändern wir schon die Bilder von Frauenrollen.
Zusammenfassend lässt sich sagen: Bildung ist ein Recht und die Regierung tut mehr, als die Zollbarrieren abzuschaffen, die sie einschränken.

BürgerInnenmacht und Frauen
Ich wage zu behaupten, dass es die BürgerInnenmacht der Frauen ist, die aufgebaut wird. In Meetings in Comunidades, in denen es Bedürfnisse und Forderungen gibt, sind die Frauen die ersten, die Forderungen stellen. Die ersten, die Lösungen vorschlagen. Die überwiegende Mehrheit der Menschen, die zusammenkommen, um sich einem bestimmten Problem in ihrer Gemeinschaft zu stellen, sind Frauen.
Wenn du also ein Bewusstsein in Geschlechterfragen hast, zu diesen Treffen gehst und dieses Modell mitaufbaust, wird in meinen Augen die Macht der Frauen aufgebaut, zum Wohl der Gesellschaft, zum Wohl von Männern und Frauen. Die Kraft der Ausübung der Demokratie geht jetzt in die Hände der Frauen über, ohne Angst zu haben, dass sie zu einem Matriarchat wird, denn wir haben einen ausgeprägten Sinn für soziale Gerechtigkeit, für Gleichheit auch in der Familie, in der Gemeinschaft.
Es ist wichtig, weil hier Frauen Entscheidungen treffen. Ich komme auf das Thema La Chureca zurück, wo ich bin. Dort treffen Frauen Entscheidungen in Gesundheitsfragen, nehmen an Impfkampagnen teil, identifizieren mögliche Epidemien in dieser Gemeinde. Sie kommunizieren bereits miteinander, haben ein gemeinsames Leben. Sie wissen, ob es Fälle von Fieber oder Malaria gegeben hat, und dieser Druck, Lösungen für die täglichen Probleme zu finden, führt dazu, dass sie sich an die GesundheitspromotorInnen wenden, ins Gesundheitszentrum gehen, ein Problem schildern und sich beteiligen. Das ist im Bereich der Gesundheit täglich zu sehen und zu erfahren.
Und bei Gewalt gegen Frauen, bei häuslicher Gewalt, bekommen die Frauen die Fälle von misshandelten Frauen in der Gemeinschaft mit und wissen auch, an wen sich wenden, damit Massnahmen ergriffen werden können. Wenn du also in dieser Frauenrealität davon sprichst, eine BürgerInnenmacht aufzubauen, ein pueblo presidente[2], geht es um ein Modell direkter Demokratie mit direktem Bezug auf die Problematik, aber auch auf die Lösungssuche in der Comunidad.
Ich sehe die Beteiligung von Frauen als ein aktives und wichtiges Element bei der Entwicklung dieses Modells der Bürgermacht. Ich sehe das keineswegs als etwas von der Realität der Frauen Abgehobenes. Ich sehe, das als etwas, das von Frauen mit Sinn für Gleichheit, für soziale Gerechtigkeit, mit Logik und einer fast natürlichen Fähigkeit, Probleme und auch Lösungen zu erkennen, aufgebaut wurde.
Vielleicht aufgrund der Geschichte, die wir haben, sehe ich Männer, die über grosse Probleme sprechen und dafür nach Lösungen suchen. Derweil geht es, wenn Demokratie und Macht in den Händen von Frauen liegen, eher darum, alltägliche Probleme zu identifizieren, kleine Probleme und nicht grosse Lösungen zu suchen, sondern Lösungen, die unmittelbarer sind, die nicht die Präsenz anderer Akteure oder anderer Institutionen erfordern, um eine bestimmte Situation zu klären.

Nächste Regierungsperiode
Ich hoffe auf eine Vertiefung, dass der Weg, den wir eingeschlagen haben, dass dieser Kampf weitergeht. Dass es keine Politik gebe, die der besonderen Situation der Frauen nicht Rechnung trüge. Ich hoffe, dass mehr Frauen an der Spitze stehen, nationale Politik machen und sich an der Politikgestaltung beteiligen. Und ich spreche nicht von Frauen, weil die Compañeros nicht gut wären, sondern damit dieser Ansatz, diese Politik auf ein Land angewendet werden, das eine Identität hat, das einen vielfältigen kulturellen Reichtum hat, das ein Geschlecht hat.
Nehmen wir das Beispiel der sozialen Sicherheit. Man muss Frauen haben, wenn man diese öffentlichen Richtlinien aufbaut. Man muss auf alles hören, was die Leute sagen, denn dann wirst du mitschneiden, dass diese öffentlichen Politiken einen geschlechtsspezifischen Fokus haben müssen. Neulich erzählte mir eine Freundin, die 65 Jahre alt ist, Rentnerin, dass sie zwecks einer gynäkologischen Untersuchung in ein Spital des Sozialversicherungsinstituts INSS gegangen war. Doch man sagte ihr, dass 65-jährige Frauen in der medizinischen Versorgung durch das INSS keinen Anspruch auf gynäkologische Betreuung haben. Bei ihr handelt es sich um eine selbstbewusste Frau und sie bestand darauf. So ist das im INSS.
Und nur, wenn so eine Erfahrung vermittelt wird, wird sie reflektiert, kommt es zu Veränderungen. Aber welche Regierung kann dir garantieren, dass es Sensibilität für diese Art von Themen und Willen und Verpflichtung zur Veränderung gibt? Ich denke, nur eine Regierung wie diese, die wir derzeit haben.
Es gibt so viele Dinge zu lösen, und es wird nicht möglich sein, alles in den nächsten vier Jahren zu lösen. Aber ich glaube, dass Männer und Frauen sich weiter ihrer Rechte bewusst werden. Sie werden sie einfordern, sie werden Lösungen vorschlagen, sie werden sogar das System herausfordern, und diese Offenheit, diese Sensibilität, diese Verpflichtung, diesen Willen hat diese Regierung.


[1] Tortillla con Sal, 30.12.18: Homenaje a Scarlet Cuadra Waters.
[2] Ein offizeller Slogan.

Nicaragua: Ein Alltag von Misstrauen, Angst und Ungewissheit

Samstag, 29. Dezember 2018


(zas, 30.12.18) Ende letzten November nahm das US-Repräsentantenhaus opppositionslos den von CIA-kubanischen Mitgliedern eingebrachten Nica Act an, das Gesetz, das im Kern darauf abzielt, Nicaragua den Zugang zu Krediten insbesondere der Interamerikanischen und der Weltbank sowie des IWF zu versperren. In der für Nicaragua wichtigen Zentralamerikanischen Integrationsbank BCIE machen die USA zwar nicht mit, dafür geben hier ihre lateinamerikanischen und europäischen Alliierten (darunter die Schweiz) den Ton an. Es ist nicht zu erwarten, dass diese die Washingtoner Leitlinie gross missachten. Am 11. Dezember beeilte sich der US-Senat mit seinem Ja-Votum zum Wirtschaftskrieg, am 20. Dezember unterschrieb Trump das Gesetz. Formell sieht der Nica Act eine 3-monatige «Prüfphase» vor, bevor das Erwürgen beginnen soll. Real ist er wohl schon in Kraft – und zunehmend werden US- und andere internationale Finanzinstitute des Westens ihre Geschäftsbeziehungen mit Nicaragua einfrieren.
Insofern ist die US-Politik wieder dort, wo sie in den 80-er Jahren war, als sie die sandinistische «Bedrohung» ihrer national security auch mit solchen Wirtschaftsdiktaten bekämpfte. Wieweit heute andere Finanzquellen offenstehen – die Rede ist natürlich von Russland und China, aber auch von Staaten wie Indien oder Südkorea – wird sich zeigen. Was die multilateralen Kredite betrifft, die für 2019 schon gesprochen wurden und damit eigentlich ausbezahlt werden müssen, bleibt abzuwarten, ob und falls ja wie sie doch verweigert werden können, etwa unter Berufung auf den Kampf gegen die Korruption.
Vieles also wie in den 80-er Jahren, einiges aber auch anders. Und wie der folgende Text einer sandinistischen Compañera zeigt, hat sich auch im Sandinismus etwas verändert, nicht zum Guten. Ihr Text und der einer US-Solidaritätsaktivistin machen auch deutlich, wie verhärtet die Lage ist. Wir hören z. B. von beiden Seiten von verbreitet markierten Häusern von Mitgliedern der jeweils anderen Strömung, was für Angst sorgt: vor der Polizei bei den einen, vor Faschos bei den andern. Und last but not least: Kein Zufall, dass die Autorinnen beider Texte ihren Namen nicht veröffentlicht sehen wollen.
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Nicaragua: Schlechte Stimmung an der Frentebasis
                                                                                
(zas, 28.12.18) Luisa Flores ist Lehrerin und kritische Aktivistin des Frente Sandinista. Um ihren Job nicht zu gefährden, haben wir ihren Namen geändert und Aussagen, die Aufschluss über ihre Identität ermöglichen können, weggelassen.
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Luisa Flores
"Die Zerstörerin Nicaraguas ist Rosario Murillo, die Vizepräsidentin. Die Demos wegen der Rentenänderung waren okay, Daniel hat das sofort zurückgezogen, als er aus dem Ausland nach Hause kam. Aber da hatte seine Frau schon die Demonstranten aufs Übelste beschimpft, so dass sich nun viele solidarisierten; auch Sandinistas gingen auf die Strasse, nicht nur wegen den Renten, sondern weil sie genug hatten von Vetternwirtschaft, Korruption und entlohntem parteipolitischen Wohlverhalten.
Und dann kamen andere: Barrikadenbauer - die waren nicht von hier, wir kannten sie nicht; woher hatten sie Waffen? Manchmal verschwanden sie plötzlich und hatten bald andernorts eine neue Barrikade errichtet, sie waren organisiert - von wem? Sie griffen Sandinistas an, später kam die Polizei. Auf beiden Seiten gab es gleich viele Opfer.

Sandinistas wie ich haben sich zu tausenden zurückgezogen, weil wir die Prügler unserer Seite nicht ausstehen können, und auch die Lügen nicht: Unsere Bürgermeisterin hat erklärt, es gebe gar keine Probleme, alles sei normal, die Wirtschaft brumme wie anfangs Jahr, der Tourismus blühe usw., es habe nur ein paar Kriminelle, die sich Opposition nennen. Ungefähr so spricht die Murillo täglich im Radio zu den „queridos hijos nicaragüenses, queridas hijas nicaragüenses“ (also zu ihren „Kindern“).

Die Murillo hat uns mit ihrem Zentralismus schon genug geärgert. Sandinista zu sein, heisst für sie, Danielista/Murillista zu sein. Der Frente hatte hier eine gute Person für die Gemeindewahl bestimmt; die Murillo strich das und hat uns eine gehorsame Frau als Bürgermeisterin aufgezwungen. Auch die vorherigen korrupten Amtsinhaber hatte sie durchgesetzt.

Die Barrikaden sind weg, aber viele haben den Job verloren, die Studenten haben ein Semester verloren, die Exporte nahmen Schaden, die ganze Wirtschaft. Jetzt ist alles „normal“: Die Repression wird konsequenter. Mein junger Nachbar, ein Mann aus dem Barrio, hat bei der Polizei einen Handy-Diebstahl gemeldet; der Postenchef guckt auf eine Liste von (friedlichen!) Demonstranten und buchtet ihn ein. Nach 10 Tagen wird er vom neuen Postenchef freigelassen, weil nichts gegen ihn vorliegt. Der Neue wird darauf strafversetzt und degradiert.

Von oben herab werden die jungen Sandinistas und die gewöhnlichen Polizisten aufgehetzt. Canal 10 wird angegriffen, ein Journalist schwer verletzt. Ein Mann wird verhaftet, weil er am Totensonntag das Familiengrab blauweiss anstreicht (die Nationalfarben), alles sollte rotschwarz sein. Der Druck von oben: Die lokale Delegierte des Erziehungsministeriums soll nicht-linientreue Lehrer entlassen (so wie anderswo ein Gynäkologe, ein Kardiologe oder ein anderer Spezialist ihre Spitaljobs verliert). Sie weigert sich und wird ersetzt. Die verwitwete Schwiegertochter eines ortsbekannten Sandinistas verliert ihre Stelle als Lehrerin, weil sie an einer Demo gesehen wurde.

Es wird für uns auch immer schwieriger mit dem Geld. Die Regierung hat jetzt mitgeteilt, dass allen Staatsangestellten[1] 2% vom Lohn abgezogen werden (falls du über 10 000 Cordobas verdienst: 4%), weil der Staat in „crisis“ ist. Ich habe 8500 Cordobas (270 Fr.). Schlimm, besonders weil sie meinen Sohn meine Tochter nicht gratis Ingenieurin studieren lassen wollen, sondern 300$ Immatrikulationsgebühr und dann monatlich weitere 80$ von ihm ihr verlangen.

Leute, die fordern, dass die EU oder die USA eingreifen sollen, sind bescheuert. Das kommt nicht in Frage. Auch die UNO wollen wir sicher nicht. Neue Wahlen gibt es erst 2021. Vorgezogen auf März 2019, wie die „Opposition“ (aber wer ist das wirklich?) verlangt, würde  wahrscheinlich heissen, dass der Murillismo/Danielismo und damit der FSLN verliert. Das wäre das Schlimmste.

Ich weiss nicht, wie es weiter geht. Klar, ich möchte, dass die wirklichen, intelligenten Sandinistas obenauf schwingen, nicht die Kriecher, Karrieristen, Piñateros, Convergentes...
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Der Alptraum, die endlosen Lügen der Opposition zu widerlegen
Diesen Artikel hat eine US-Solidaritätsaktivistin verfasst, die seit über 20 Jahren in Nicaragua Community-Arbeit macht. Um ihre Familien vor sehr realen Risiken von Belästigungen und Einschüchterungen durch aggressive Oppositionelle in ihrem Quartier zu schützen, schreibt sie anonym.
Miguel ist ein sehr kontaktfreudiger junger Mann, der ziemlich gut Englisch spricht und auf jene, die ihn auf einer kürzlichen Solidaritätsrundreise in den USA trafen, sympathisch gewirkt hat. Ebenso wie auf jene, die ihn anlässlich von Delegationen trafen, die von der Community-Organisation organisiert waren, in der wir damals beide gearbeitet hatten. Jetzt kontaktiert er Schulen, Kirchen und Leute, die er auf jener Solidaritätsrundreise getroffen hat. Er will offenbar in den USA in Schulen über Nicaragua reden. Wer immer seinen Artikel liest oder ihn seit seiner Ankunft in den USA getroffen hat, bekommt nur die Version der PutschpromotorInnen zu hören.
Für uns ehemalige Freunde und Kolleginnen von Miguel, die die nicaraguanische Regierung unterstützen, wird die Sache noch komplizierter, weil niemand von uns mit Miguel seit unserer Rückkehr von der Solidaritätsrundreise vor drei Jahren gesprochen hat. Miguel und andere von der damaligen Gruppe waren auf Videoaufnahmen zu sehen, wie sie in einem Laden, in dem mein Stiefvater arbeitet, gestohlen haben. Die Videos wurden meinem Stiefvater vorgelegt, worauf er mich kontaktierte. Die meisten meiner Angehörigen lebten schon nicht mehr im Quartier, aber es war dennoch bedrückend. Wir sprachen mit den Betroffenen und verlangten von ihnen, dass sie alles zurückgeben. Miguel jedenfalls muss seiner Mutter eine andere Geschichte erzählt haben, denn sie beschuldigt uns jetzt, ihm Sachen weggenommen zu haben. Miguel spricht nicht mehr mit uns.
Die Familie von Miguel – sie lebt vis à vis von Margarita, einer unserer Pro-RegierungskollegInnen im Quartier, ist bekannt als pro Partido Liberal. Besonders so seine Tante und ihr Mann, die im gleichen Haus wohnen und dort ziemlich offen Marihuana dealen. Die Tante wurde dabei beobachtet, wie sie allen 200 Córdobas offerierte, wenn sie ein T-Shirt der sandinistischen Jugend anziehen und sich an der Plünderung eines lokalen Supermarkts beteiligen würden[2]. Am Tag der Plünderung standen Miguel und sein Freund Juan an der Strassenecke bei Miguels Haus. Margarita und andere standen auf der Strasse gegenüber, als sie Leute mit einer Menge gestohlener Waren vorbeirennen oder in Motorradtaxis vorbeifahren sahen. Margarita und die anderen, aber auch Miguel und Juan, begangen auszurufen: «Diebe», «unverschämt» etc. Aber wenig später hielt ein Motorradtaxi mit Tante und Onkel, vollgestopft mit geplünderter Ware, vor Miguels Haus. Die Leute riefen auch gegen sie aus, aber Miguel und Juan gingen natürlich weg.
Ein anderes Mal erhielten Margarita und andere eine nach Zufallsprinzip verschickte Whatsapp-Nachricht betreffs einer angeblichen Demo der sandinistischen Jugend. Am Tag und zum Zeitpunkt der angeblichen Demo der Juventud Sandinista verliessen der Onkel und zwei weitere Männer in Juventud-T-Shirts Miguels Haus und fuhren auf Motorrädern davon.
Miguel und Juan nahmen teil an Demos und beide verbreiteten über Facebook Hate-Botschaften und Gewaltaufrufe. Sie veröffentlichten andauernd Posts, offenbar ohne jede Angst vor der «repressiven» Regierung. Obwohl Miguel in seinem Artikel berichtet, dass er sein Haus nicht verlassen könne und die Sandinistas ihn töten wollten. Absoluter Stuss, natürlich.
Im Quartier (und, wie wir wissen, an vielen anderen Orten) sind die Häuser von bekannten Sandinistas markiert worden. Auf das Haus einer der aktivsten Sandinistas schossen Oppositionsmitglieder im Vorbeifahren. Jemand wurde am Bein verletzt, glücklicherweise niemand sonst. Ein bekannter liberaler Aktivist, Besitzer eines Internetcafés, der in den Social Media äusserst umtriebig Antiregierungposts verbreitete, wurde von der Polizei in Gewahrsam genommen. Er wurde danach unversehrt freigelassen.
Aber während er in Haft war, organisierte die katholische Kirche im Quartier eine Kampagne für seine Freilassung unter dem Motto: «Vivo lo llevaron – vivo lo queremos»[3]. Aber zur grossen Überraschung der mit einer AK-47 angegriffenen Aktivistin sagte die Kirche kein Wort zum Überfall oder der Unterstützung für ihre Familie. Sie und andere Sandinistas haben sich vergeblich darüber beschwert und sind seither ausgetreten.
Margarita bestätigt auch, dass einige der wichtigsten OrganisatorInnen an der Upoli[4] sehr aktive Mitglieder in der Quartierkirche waren. Ich denke zwar, Juan und Miguel waren nicht in die Upoli-Sache verwickelt, aber sie waren sehr aktiv in der Kirche. Juan gab Kindern jede Woche Unterricht. Beide haben auch an der privaten Universidad del Valle studiert. Und schon eine Weile vor April[5] sah ich, dass beide Antipolizei-Posts verbreiteten – die Polizei knöpfe sich grundlos Leute vor, wende Gewalt an etc. Und beide posteten Sätze wie: «Ich weiss nicht, aber Bachi gefällt mir nicht» (despektierlicher Spitzname für Präsident Ortega). Unnötig zu erwähnen, dass beide während des Indio-Maiz-Brands in den Social Media sehr aktiv waren.[6] Im Rückblick frage ich mich, ob beide zu den von der NED[7] finanzierten Jugendworkshops nicaraguanischer NGOs gehörten.
Mit Miguel und Juan, Pro-Oppositionsbekanntschaften in den USA und den Lügen der Mainstreampresse wird es zum Alptraum, auch nur schon über Berichtigungen nachzudenken. Es ist unmöglich, rauszufinden, wo man beginnen soll.
·         tortillaconsal.com, 21.12.18: The nightmare of rebutting endless opposition lies.




[1] Tatsächlich betrifft dies nur FSLN-Mitglieder. Doch das Missverständnis verweist auf ein tieferes Misstrauen, wie es sich auch im Glauben manifestierte, dass die Rentenreform von April tatsächlich eine neoliberale gewesen sei.
[2] Ende April kam es zu organisierten Plünderungen von Supermärkten zwecks Anheizen der Lage.
[3] „Lebend habt ihr ihn mitgenommen, lebend wollen wir ihn zurück» –kontinentweites Motto gegen die staatsterroristische Praxis des Verschwindenlassens.
[4] Polytechnikum. Während Wochen unter Kontrolle bewaffneter Regime-Change-Kräfte.
[5] Beginn der Unruhen.
[6] Grossfeuer im Naturreservat Indio Maíz im Süden des Landes kurz vor den April-Unruhen. DemonstrantInnen warfen damals Ortega auch mit Falschbehauptungen vor, die Brandbekämpfung zu verschleppen. Eine zentrale Desinformationsquelle war offenbar die US-finanzierte Fundación del Río, die kürzlich mit anderen NGOs zusammen verboten wurde. Hauptbegründung im Parlament: Diese NGOs hätten als Kanäle für die US-Finanzierung des Regime Change fungiert.
[7] National Endowment for Democracy. Amtliche US-Finanzierungsagentur für Organisationen im Ausland.