(zas,
31.12.18) Gestern gab Radio La Primerísima den Tod von Scarlet Cuadra Waters
bekannt. Jung hatte sich die aus Bluefields an der Atlantikküste stammende Frau
der Guerilla des Frente Sur gegen die Somoza-Diktatur angeschlossen. In den
80-er Jahren arbeitete sie u. a. in der FSLN-Kommission für politische Schulung
und im Parteiorgan Barricada. 2008 war sie Mitbegründerin der Zeitschrift
Correo de Nicaragua. Bis zuletzt setzte sie sich trotz langer Krankheit für
einen revolutionären Sandinismus ein. Der Tod dieser kritischen, eigenwilligen
Compañera ist für FreundInnen von uns in Nicaragua ein enormer Verlust. Im
Zeichen des Mittrauerns veröffentlichen wir einen Ausschnitt aus einer Aufnahme
von 2011[1], in der sie voller Hoffnung über die
konkrete Emanzipation der Frauen in Nicaragua spricht. In einem in Correos 191
veröffentlichtem Text, dem Brief
an eine Freundin der Opposition, ist hingegen ihre Klarheit gegen die
reaktionären Umtriebe seit letztem April mit leiser Trauer über den Zustand des
Sandinimus gemischt.
Zeugnisse
auf Radio La Primerísima:
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16.
September 2011
Bezug zur ersten Phase der sandinistischen
Revolution
Ich
bin eine Tochter der Revolution der 80-er Jahre. Als Frau gehöre ich zu der
Generation, die die Revolution erlebt hat. Ich war 20 Jahre alt und die
Revolution der 1980er Jahre öffnete uns Räume, gab uns unsere Rechte zurück, ermöglichte
uns aber vor allem einen neuen Blick darauf, was es heisst, eine Frau zu sein.
Bis
1979, erinnere ich mich, dass meine Familie von mir erwartete, dass ich die Uni
abschliessen, heiraten und eine so normale Familie wie möglich haben würde.
Aber mit der Revolution 1979 bin ich insofern gewachsen, als ich bestimmte, was
ich tun wollte, welchen Rhythmus ich annehmen, wie weit ich gehen würde. Und
das war damals bei Tausenden von Mädchen der Fall.
Für
mich ist es so, dass [mit dem Wahlsieg von 2007] ein Projekt einer revolutionären
Regierung fortgesetzt wird, das unterbrochen war. Es wurde nicht durch den
Machtverlust [Wahlniederlage 1990] abgewürgt, nein, sondern vorher, vom Krieg. Denn
Krieg verändert das Leben im Guten wie im Schlechten. Für die Gesellschaft als
Ganzes sind wir in einigen Bereichen gewachsen, aber wir haben auch die
Möglichkeiten verloren, uns als Individuum, als Gesellschaft, als Kollektiv zu
entwickeln.
Also,
mit dieser Regierung machen wir einen Anlauf auf dem abgebrochenen Weg. Das ist
zutiefst wertvoll und ich diskutiere es zum Beispiel mit den Compañeros und
Compañeras in dem Projekt, in dem ich arbeite, ein Projekt zur Umwandlung der
Müllkippe von La Chureca in eine Deponie, ein Projekt der spanischen
Zusammenarbeit mit namhaften Investitionen seitens der nationalen Regierung und
des Bürgermeisteramtes von Managua.
Beispiel La Chureca
Bei den
Angehörigen der etwa 225 Familien aus La Chureca handelt es sich meist um
Frauen, erwachsene und jugendliche, ohne jede Möglichkeit, ihr Potenzial weiter
zu entwickeln als Müll zu durchsuchen und Abfälle für die Wiederverwertung
auszuwählen. Daher liegt in diesem Projekt ein besonderer Schwerpunkt darauf,
dass Frauen die aktivsten Teilnehmerinnen sind, auf familiärer Ebene ebenso im
Beruflichen und in der Ausbildung. Wir haben eine Werkstattschule, damit die Kids
die Müllsortierung nicht mehr als einzige Überlebensalternative sehen. Eine Ausbildung
von Fähigkeiten, die natürlich mit dem Bau, mit Schweissen, mit Handwerk zu tun
haben.
La Chureca früher. |
Unser
Schwerpunkt liegt darauf, Räume, die nur für Jungs gedacht sind, aufzubrechen
und sie für Frauen zu öffnen. Das ist wichtig, weil wir nicht nur sagen: „Komm,
Mädchen, lern Schreinern, lern Schweissen“, sondern es geht darum, dass die
junge Frau irgendwann selbst erkennt, dass sie fähig ist, Funktionen zu
übernehmen, die bisher als ausschliesslich männliche Domäne galten.
Ich
sage das, weil wir weit davon entfernt sind, den Mädchen nur beibringen, Sekretärinnen
zu werden, Dinge über Schönheiten oder Modeschmuck zu lernen. Wir helfen ihnen,
neue Fähigkeiten zu entwickeln und ihre eigenen Talente zu entdecken.
Tatsächlich haben neun Kids die Ausbildung schon abgeschlossen, von insgesamt
fünfzehn TeilnehmerInnen. Am besten schloss eine Frau ab, sie ist Elektrikerin.
In
dieser Comunidad stellen wir die Fähigkeiten von Frauen auf die gleiche Stufe
wie die der Männer. Dies hat einen Dominoeffekt und wir hoffen, bald mehr
Frauen in dieser Gemeinschaft zu sehen, die sich zuvor nur der Müllsortierung
widmeten oder dachten, dass sie nur dazu imstande seien. Wir sehen, wie sie
jetzt andere Rollen und aktivere Rollen einnehmen und mehr von ihren
Fähigkeiten und ihrem Potential für den Aufbau eines neuen Lebens nutzen.
Bildung macht Revolution
Ich
gebe dir als Beispiel, was ich täglich in der Ausübung meiner Tätigkeit als
Kommunikatorin erlebe. Aber ich glaube auch, dass sich dieses Beispiel, diese
Erfahrung landauf, landab wiederholt. Wenn wir die Türen der Ausbildung, der Kenntnisse
für Männer und Frauen öffnen, machen wir eine Revolution. Wenn wir darauf insistieren,
dass Frauen teilnehmen, dass sie Fachkräfte werden, Gemeindeleiterinnen,
Gesundheitsleiterinnen, verändern sich nicht nur die einzelne Frau und ihr
Leben, sondern auch die Gesellschaft – wenn wir Fähigkeiten bei Frauen
anerkennen, die bisher unsichtbar geblieben sind.
Ohne
die Revolution gab es zwar Räume für Frauen, die aber nach sechzehn Jahren
[unter neoliberalem Regime] negiert, geschlossen wurden, weil die
Wirtschaftskrise, die insbesondere die Armen drückte, die Frauen dazu zwang,
sich in ihren vier Wänden einzusperren oder lediglich Rollen in der Haushaltsführung
einzunehmen. Die haben ihren Wert, aber der Raum für die Teilnahme an der Comunidad
wurde dicht gemacht. Der Zugang zur Bildung wurde schrittweise geschlossen. Der
Raum für eine bessere Bezahlung wurde geschlossen. Und in der eigenen Familie
übernahmen die Frauen diese Rolle, nur innerhalb der vier Wände des Hauses zu
sein.
Öffnung und Widerstand
Diese
Türen wieder zu öffnen, ist also der erste grosse Schritt für Frauen, um wieder
Protagonistinnen dieses Prozesses zu werden. Auf politischer Ebene kommt das
schlecht an. Viele Genossen widersetzen sich dem. Wir haben die stellvertretenden
politischen Sekretärinnen durchgedrückt! Sie sind obligatorisch. Viele Männer
sagen: "Die sollen sich diesen Rang verdienen!" Bei der Wahl der
Leitung sagen viele Compañeros: "Aber ich weiss nicht, warum dieser Posten
verschenkt werden soll...." In diesem Moment kommt es zu einer Diskussion.
Die Meisten akzeptieren die Sache, aber eigentlich passt sie ihnen nicht. Aber
wenn sie sehen, dass das tatsächlich funktioniert, sagen sie: "Ich hatte
wirklich Recht, diese Vize zu wählen, denn der XY funktioniert nicht so gut wie
die Compañera.“ So bringst du das Kollektiv zum Nachzudenken.
Aber
dann hast du auch die Möglichkeit, dass diese Gruppe von GenossInnen die
Fähigkeiten dieser Frau, die Führung des Kollektivs zu übernehmen, zu schätzen
beginnt. Ich denke, dies ist ein wichtiger Schritt nach vorne, den man positive
Diskriminierung nennt, du gibst sie per Gesetz vor, aber wichtiger ist, du
schaffst die Möglichkeit, diese Räume für Frauen zu öffnen.
Therapeutische Abtreibung
Ein
Thema, bei dem die Regierung hinterfragt wird, ist ihre Entscheidung, die
therapeutische Abtreibung zu kriminalisieren. Hier gibt es auch eine wichtige Debatte,
damit die Frauen, die Familie, die Gesellschaft anerkennen, dass das Recht
einer Frau auf selbstbestimmte Sexualität nicht mit dem Recht auf Abtreibung
beginnt oder endet.
Eine
Compañera sagte mir, dass allein die Tatsache, dass einer Frau das Recht auf
Abtreibung verweigert wird, schon eine Diskriminierung der Frauen ist. Mein
Ansatz ist, dass, wenn die Frau darüber informiert wird, wie eine
Schwangerschaft zu verhindern ist, aber schwanger wird und sich entscheidet,
abzubrechen, dassa sie dann von ihrem Recht Gebrauch macht und ihre Gründe
dafür haben wird. Aber wenn Abtreibung die einzige Alternative ist, die die
Frau in einer Situation hat, in der sie keinen Zugang zu Informationen hat,
dann macht eine Abtreibung sie weder freier noch unfreier.
Ich
glaube also, dass die Frage der therapeutischen Abtreibung weiter diskutiert
werden muss. Wir, Frauen und Männer, halten es für ein gesellschaftliches Recht,
das Leben von Frauen zu retten. Die Debatte muss weiter gehen und sich nach dem
Prinzip des Ideenaustauschs, nicht einfach nach geschaffenen Tatsachen richten.
Ganz im Gegenteil.
Ausbildung und Begleitung
Ich rede
nicht gerne über die Kostenlosigkeit von Ausbildung oder Gesundheit. Das sind Rechte.
Diese Rechte sind wieder in Kraft und müssen für Frauen und Männer zugänglich
sein. Das ist grundlegend. Das öffnet Türen, aber es ist interessant zu sehen, wie
diese Regierung ihre Verantwortung wahrnimmt.
Die
Klassenzimmer sind nicht geschlossen, sie sind voller Frauen und Männer. Du
kannst kostenlose Programme öffnen und anbieten. Aber wenn du die Leute nicht
so begleitest, dass sie die Wichtigkeit ihrer Ausbildung verstehen und assimilieren,
dass sie ihr Wissen mit anderen teilen und das anderer kennen lernen – das ist für
mich ebenso wichtig wie überhaupt der Zugang zur Bildung. Und ich glaube, diese
Begleitung gibt es, und das schätze ich an dieser Regierung.
Es
gibt in die Gemeinde eine permanente Kampagne für die Teilnahme an der
Ausbildung. Im Falle von La Chureca gibt es beispielsweise diese Begleitung. Die
Frau wird technisch ausgebildet, kostenlos. Und wir haben auch eine
Kindertagesstätte für die unter fünfjährigen Kinder dieser Frauen. Weil wir die
Tatsache nicht ignorieren können, dass die meisten Frauen ab 16 Jahren Kinder
haben. Und für sie ist es ein Hindernis oder eine Einschränkung, ihre kleinen
Kinder für 4 Stunden zu verlassen. Parallel zur Öffnung der Türen, zur gleichen
Zeit, in der wir diese permanente Begleitung durchführen, hat die Regierung ein
Zentrum eingerichtet, in das sie ihre Kinder unter 5 Jahren während der
Unterrichtszeit bringen können. Und ich denke, dass es auf Gemeinschaftsebene
ein Verantwortungsbewusstsein für die Ausbildung von Frauen gibt.
Weil
du siehst, dass Männer natürlich sagen: "Nein, nein, wer wird sich um die
Kinder kümmern?" Aber es liegt an ihr zu entscheiden. Sie ist diejenige,
die sich auskennt. Sie ist diejenige, die lernen wird. In der Comunidad
verändern wir schon die Bilder von Frauenrollen.
Zusammenfassend
lässt sich sagen: Bildung ist ein Recht und die Regierung tut mehr, als die Zollbarrieren
abzuschaffen, die sie einschränken.
BürgerInnenmacht und Frauen
Ich
wage zu behaupten, dass es die BürgerInnenmacht der Frauen ist, die aufgebaut
wird. In Meetings in Comunidades, in denen es Bedürfnisse und Forderungen gibt,
sind die Frauen die ersten, die Forderungen stellen. Die ersten, die Lösungen
vorschlagen. Die überwiegende Mehrheit der Menschen, die zusammenkommen, um
sich einem bestimmten Problem in ihrer Gemeinschaft zu stellen, sind Frauen.
Wenn
du also ein Bewusstsein in Geschlechterfragen hast, zu diesen Treffen gehst und
dieses Modell mitaufbaust, wird in meinen Augen die Macht der Frauen aufgebaut,
zum Wohl der Gesellschaft, zum Wohl von Männern und Frauen. Die Kraft der Ausübung
der Demokratie geht jetzt in die Hände der Frauen über, ohne Angst zu haben,
dass sie zu einem Matriarchat wird, denn wir haben einen ausgeprägten Sinn für
soziale Gerechtigkeit, für Gleichheit auch in der Familie, in der Gemeinschaft.
Es
ist wichtig, weil hier Frauen Entscheidungen treffen. Ich komme auf das Thema
La Chureca zurück, wo ich bin. Dort treffen Frauen Entscheidungen in
Gesundheitsfragen, nehmen an Impfkampagnen teil, identifizieren mögliche
Epidemien in dieser Gemeinde. Sie kommunizieren bereits miteinander, haben ein
gemeinsames Leben. Sie wissen, ob es Fälle von Fieber oder Malaria gegeben hat,
und dieser Druck, Lösungen für die täglichen Probleme zu finden, führt dazu,
dass sie sich an die GesundheitspromotorInnen wenden, ins Gesundheitszentrum
gehen, ein Problem schildern und sich beteiligen. Das ist im Bereich der
Gesundheit täglich zu sehen und zu erfahren.
Und bei
Gewalt gegen Frauen, bei häuslicher Gewalt, bekommen die Frauen die Fälle von misshandelten
Frauen in der Gemeinschaft mit und wissen auch, an wen sich wenden, damit Massnahmen
ergriffen werden können. Wenn du also in dieser Frauenrealität davon sprichst,
eine BürgerInnenmacht aufzubauen, ein pueblo
presidente[2], geht es um ein Modell direkter
Demokratie mit direktem Bezug auf die Problematik, aber auch auf die Lösungssuche
in der Comunidad.
Ich
sehe die Beteiligung von Frauen als ein aktives und wichtiges Element bei der
Entwicklung dieses Modells der Bürgermacht. Ich sehe das keineswegs als etwas
von der Realität der Frauen Abgehobenes. Ich sehe, das als etwas, das von
Frauen mit Sinn für Gleichheit, für soziale Gerechtigkeit, mit Logik und einer
fast natürlichen Fähigkeit, Probleme und auch Lösungen zu erkennen, aufgebaut
wurde.
Vielleicht
aufgrund der Geschichte, die wir haben, sehe ich Männer, die über grosse
Probleme sprechen und dafür nach Lösungen suchen. Derweil geht es, wenn Demokratie
und Macht in den Händen von Frauen liegen, eher darum, alltägliche Probleme zu
identifizieren, kleine Probleme und nicht grosse Lösungen zu suchen, sondern
Lösungen, die unmittelbarer sind, die nicht die Präsenz anderer Akteure oder
anderer Institutionen erfordern, um eine bestimmte Situation zu klären.
Nächste Regierungsperiode
Ich
hoffe auf eine Vertiefung, dass der Weg, den wir eingeschlagen haben, dass
dieser Kampf weitergeht. Dass es keine Politik gebe, die der besonderen
Situation der Frauen nicht Rechnung trüge. Ich hoffe, dass mehr Frauen an der
Spitze stehen, nationale Politik machen und sich an der Politikgestaltung
beteiligen. Und ich spreche nicht von Frauen, weil die Compañeros nicht gut wären,
sondern damit dieser Ansatz, diese Politik auf ein Land angewendet werden, das
eine Identität hat, das einen vielfältigen kulturellen Reichtum hat, das ein
Geschlecht hat.
Nehmen
wir das Beispiel der sozialen Sicherheit. Man muss Frauen haben, wenn man diese
öffentlichen Richtlinien aufbaut. Man muss auf alles hören, was die Leute
sagen, denn dann wirst du mitschneiden, dass diese öffentlichen Politiken einen
geschlechtsspezifischen Fokus haben müssen. Neulich erzählte mir eine Freundin,
die 65 Jahre alt ist, Rentnerin, dass sie zwecks einer gynäkologischen
Untersuchung in ein Spital des Sozialversicherungsinstituts INSS gegangen war. Doch
man sagte ihr, dass 65-jährige Frauen in der medizinischen Versorgung durch das
INSS keinen Anspruch auf gynäkologische Betreuung haben. Bei ihr handelt es
sich um eine selbstbewusste Frau und sie bestand darauf. So ist das im INSS.
Und
nur, wenn so eine Erfahrung vermittelt wird, wird sie reflektiert, kommt es zu
Veränderungen. Aber welche Regierung kann dir garantieren, dass es Sensibilität
für diese Art von Themen und Willen und Verpflichtung zur Veränderung gibt? Ich
denke, nur eine Regierung wie diese, die wir derzeit haben.
Es
gibt so viele Dinge zu lösen, und es wird nicht möglich sein, alles in den nächsten
vier Jahren zu lösen. Aber ich glaube, dass Männer und Frauen sich weiter ihrer
Rechte bewusst werden. Sie werden sie einfordern, sie werden Lösungen vorschlagen,
sie werden sogar das System herausfordern, und diese Offenheit, diese Sensibilität,
diese Verpflichtung, diesen Willen hat diese Regierung.