(zas, 30.12.18) Ende letzten November nahm das US-Repräsentantenhaus
opppositionslos den von CIA-kubanischen Mitgliedern eingebrachten Nica Act an,
das Gesetz, das im Kern darauf abzielt, Nicaragua den Zugang zu Krediten
insbesondere der Interamerikanischen und der Weltbank sowie des IWF zu versperren.
In der für Nicaragua wichtigen Zentralamerikanischen Integrationsbank BCIE machen
die USA zwar nicht mit, dafür geben hier ihre lateinamerikanischen und
europäischen Alliierten (darunter die Schweiz) den Ton an. Es ist nicht zu
erwarten, dass diese die Washingtoner Leitlinie gross missachten. Am 11. Dezember
beeilte sich der US-Senat mit seinem Ja-Votum zum Wirtschaftskrieg, am 20.
Dezember unterschrieb Trump das Gesetz. Formell sieht der Nica Act eine
3-monatige «Prüfphase» vor, bevor das Erwürgen beginnen soll. Real ist er wohl
schon in Kraft – und zunehmend werden US- und andere internationale Finanzinstitute
des Westens ihre Geschäftsbeziehungen mit Nicaragua einfrieren.
Insofern ist die US-Politik wieder dort, wo sie in den 80-er
Jahren war, als sie die sandinistische «Bedrohung» ihrer national security auch mit solchen Wirtschaftsdiktaten bekämpfte. Wieweit
heute andere Finanzquellen offenstehen – die Rede ist natürlich von Russland
und China, aber auch von Staaten wie Indien oder Südkorea – wird sich zeigen. Was
die multilateralen Kredite betrifft, die für 2019 schon gesprochen wurden und
damit eigentlich ausbezahlt werden müssen, bleibt abzuwarten, ob und falls ja wie
sie doch verweigert werden können, etwa unter Berufung auf den Kampf gegen die
Korruption.
Vieles also wie in den 80-er Jahren, einiges aber auch anders.
Und wie der folgende Text einer sandinistischen Compañera zeigt, hat sich auch
im Sandinismus etwas verändert, nicht zum Guten. Ihr Text und der einer US-Solidaritätsaktivistin
machen auch deutlich, wie verhärtet die Lage ist. Wir hören z. B. von beiden
Seiten von verbreitet markierten Häusern von Mitgliedern der jeweils anderen
Strömung, was für Angst sorgt: vor der Polizei bei den einen, vor Faschos bei
den andern. Und last but not least: Kein Zufall, dass die Autorinnen beider Texte
ihren Namen nicht veröffentlicht sehen wollen.
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Nicaragua: Schlechte Stimmung an der Frentebasis
(zas, 28.12.18)
Luisa Flores ist Lehrerin und kritische Aktivistin des Frente Sandinista. Um
ihren Job nicht zu gefährden, haben wir ihren Namen geändert und Aussagen, die
Aufschluss über ihre Identität ermöglichen können, weggelassen.
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Luisa
Flores
"Die Zerstörerin Nicaraguas ist Rosario Murillo, die
Vizepräsidentin. Die Demos wegen der Rentenänderung waren okay, Daniel hat das
sofort zurückgezogen, als er aus dem Ausland nach Hause kam. Aber da hatte
seine Frau schon die Demonstranten aufs Übelste beschimpft, so dass sich nun
viele solidarisierten; auch Sandinistas gingen auf die Strasse, nicht nur wegen
den Renten, sondern weil sie genug hatten von Vetternwirtschaft, Korruption und
entlohntem parteipolitischen Wohlverhalten.
Und dann kamen andere: Barrikadenbauer - die waren nicht von hier, wir
kannten sie nicht; woher hatten sie Waffen? Manchmal verschwanden sie plötzlich
und hatten bald andernorts eine neue Barrikade errichtet, sie waren organisiert
- von wem? Sie griffen Sandinistas an, später kam die Polizei. Auf beiden
Seiten gab es gleich viele Opfer.
Sandinistas wie ich haben sich zu tausenden zurückgezogen, weil wir die
Prügler unserer Seite nicht ausstehen können, und auch die Lügen nicht: Unsere
Bürgermeisterin hat erklärt, es gebe gar keine Probleme, alles sei normal, die
Wirtschaft brumme wie anfangs Jahr, der Tourismus blühe usw., es habe nur ein
paar Kriminelle, die sich Opposition nennen. Ungefähr so spricht die Murillo
täglich im Radio zu den „queridos hijos nicaragüenses, queridas hijas
nicaragüenses“ (also zu ihren „Kindern“).
Die Murillo hat uns mit ihrem Zentralismus schon genug geärgert.
Sandinista zu sein, heisst für sie, Danielista/Murillista zu sein. Der Frente
hatte hier eine gute Person für die Gemeindewahl bestimmt; die Murillo strich
das und hat uns eine gehorsame Frau als Bürgermeisterin aufgezwungen. Auch die
vorherigen korrupten Amtsinhaber hatte sie durchgesetzt.
Die Barrikaden sind weg, aber viele haben den Job verloren, die
Studenten haben ein Semester verloren, die Exporte nahmen Schaden, die ganze
Wirtschaft. Jetzt ist alles „normal“: Die Repression wird konsequenter. Mein
junger Nachbar, ein Mann aus dem Barrio, hat
bei der Polizei einen Handy-Diebstahl gemeldet; der Postenchef guckt auf eine
Liste von (friedlichen!) Demonstranten und buchtet ihn ein. Nach 10 Tagen wird
er vom neuen Postenchef freigelassen, weil nichts gegen ihn vorliegt. Der Neue
wird darauf strafversetzt und degradiert.
Von oben herab werden die jungen Sandinistas und die gewöhnlichen
Polizisten aufgehetzt. Canal 10 wird angegriffen, ein Journalist schwer
verletzt. Ein Mann wird verhaftet, weil er am Totensonntag das Familiengrab
blauweiss anstreicht (die Nationalfarben), alles sollte rotschwarz sein. Der
Druck von oben: Die lokale Delegierte des Erziehungsministeriums soll
nicht-linientreue Lehrer entlassen (so wie anderswo ein Gynäkologe, ein
Kardiologe oder ein anderer Spezialist ihre Spitaljobs verliert). Sie weigert
sich und wird ersetzt. Die verwitwete Schwiegertochter eines ortsbekannten Sandinistas
verliert ihre Stelle als Lehrerin, weil sie an einer Demo gesehen wurde.
Es wird für uns auch immer schwieriger mit dem Geld. Die Regierung hat
jetzt mitgeteilt, dass allen Staatsangestellten[1] 2% vom Lohn abgezogen werden (falls du
über 10 000 Cordobas verdienst: 4%), weil der Staat in „crisis“ ist. Ich habe
8500 Cordobas (270 Fr.). Schlimm, besonders weil sie meinen
Sohn meine Tochter nicht gratis
Ingenieurin studieren lassen wollen, sondern
300$ Immatrikulationsgebühr und dann monatlich weitere 80$ von ihm ihr verlangen.
Leute, die fordern, dass die EU oder die USA eingreifen sollen, sind
bescheuert. Das kommt nicht in Frage. Auch die UNO wollen wir sicher nicht.
Neue Wahlen gibt es erst 2021. Vorgezogen auf März 2019, wie die „Opposition“
(aber wer ist das wirklich?) verlangt, würde
wahrscheinlich heissen, dass der Murillismo/Danielismo und damit der
FSLN verliert. Das wäre das Schlimmste.
Ich weiss nicht, wie es weiter geht. Klar, ich möchte, dass die
wirklichen, intelligenten Sandinistas obenauf schwingen, nicht die
Kriecher, Karrieristen, Piñateros, Convergentes...
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Der Alptraum, die endlosen
Lügen der Opposition zu widerlegen
Diesen Artikel hat
eine US-Solidaritätsaktivistin verfasst, die seit über 20 Jahren in Nicaragua
Community-Arbeit macht. Um ihre Familien vor sehr realen Risiken von
Belästigungen und Einschüchterungen durch aggressive Oppositionelle in ihrem
Quartier zu schützen, schreibt sie anonym.
Miguel ist ein sehr kontaktfreudiger junger Mann, der
ziemlich gut Englisch spricht und auf jene, die ihn auf einer kürzlichen
Solidaritätsrundreise in den USA trafen, sympathisch gewirkt hat. Ebenso wie
auf jene, die ihn anlässlich von Delegationen trafen, die von der
Community-Organisation organisiert waren, in der wir damals beide gearbeitet
hatten. Jetzt kontaktiert er Schulen, Kirchen und Leute, die er auf jener
Solidaritätsrundreise getroffen hat. Er will offenbar in den USA in Schulen
über Nicaragua reden. Wer immer seinen Artikel liest oder ihn seit seiner
Ankunft in den USA getroffen hat, bekommt nur die Version der PutschpromotorInnen
zu hören.
Für uns ehemalige Freunde und Kolleginnen von Miguel, die
die nicaraguanische Regierung unterstützen, wird die Sache noch komplizierter,
weil niemand von uns mit Miguel seit unserer Rückkehr von der
Solidaritätsrundreise vor drei Jahren gesprochen hat. Miguel und andere von der
damaligen Gruppe waren auf Videoaufnahmen zu sehen, wie sie in einem Laden, in
dem mein Stiefvater arbeitet, gestohlen haben. Die Videos wurden meinem
Stiefvater vorgelegt, worauf er mich kontaktierte. Die meisten meiner
Angehörigen lebten schon nicht mehr im Quartier, aber es war dennoch bedrückend.
Wir sprachen mit den Betroffenen und verlangten von ihnen, dass sie alles
zurückgeben. Miguel jedenfalls muss seiner Mutter eine andere Geschichte
erzählt haben, denn sie beschuldigt uns jetzt, ihm Sachen weggenommen zu haben.
Miguel spricht nicht mehr mit uns.
Die Familie von Miguel – sie lebt vis à vis von Margarita,
einer unserer Pro-RegierungskollegInnen im Quartier, ist bekannt als pro
Partido Liberal. Besonders so seine Tante und ihr Mann, die im gleichen Haus
wohnen und dort ziemlich offen Marihuana dealen. Die Tante wurde dabei
beobachtet, wie sie allen 200 Córdobas offerierte, wenn sie ein T-Shirt der
sandinistischen Jugend anziehen und sich an der Plünderung eines lokalen
Supermarkts beteiligen würden[2].
Am Tag der Plünderung standen Miguel und sein Freund Juan an der Strassenecke
bei Miguels Haus. Margarita und andere standen auf der Strasse gegenüber, als
sie Leute mit einer Menge gestohlener Waren vorbeirennen oder in Motorradtaxis
vorbeifahren sahen. Margarita und die anderen, aber auch Miguel und Juan,
begangen auszurufen: «Diebe», «unverschämt» etc. Aber wenig später hielt ein
Motorradtaxi mit Tante und Onkel, vollgestopft mit geplünderter Ware, vor
Miguels Haus. Die Leute riefen auch gegen sie aus, aber Miguel und Juan gingen
natürlich weg.
Ein anderes Mal erhielten Margarita und andere eine nach Zufallsprinzip
verschickte Whatsapp-Nachricht betreffs einer angeblichen Demo der
sandinistischen Jugend. Am Tag und zum Zeitpunkt der angeblichen Demo der
Juventud Sandinista verliessen der Onkel und zwei weitere Männer in
Juventud-T-Shirts Miguels Haus und fuhren auf Motorrädern davon.
Miguel und Juan nahmen teil an Demos und beide verbreiteten
über Facebook Hate-Botschaften und Gewaltaufrufe. Sie veröffentlichten
andauernd Posts, offenbar ohne jede Angst vor der «repressiven» Regierung.
Obwohl Miguel in seinem Artikel berichtet, dass er sein Haus nicht verlassen könne
und die Sandinistas ihn töten wollten. Absoluter Stuss, natürlich.
Im Quartier (und, wie wir wissen, an vielen anderen Orten)
sind die Häuser von bekannten Sandinistas markiert worden. Auf das Haus einer
der aktivsten Sandinistas schossen Oppositionsmitglieder im Vorbeifahren.
Jemand wurde am Bein verletzt, glücklicherweise niemand sonst. Ein bekannter
liberaler Aktivist, Besitzer eines Internetcafés, der in den Social Media
äusserst umtriebig Antiregierungposts verbreitete, wurde von der Polizei in
Gewahrsam genommen. Er wurde danach unversehrt freigelassen.
Aber während er in Haft war, organisierte die katholische
Kirche im Quartier eine Kampagne für seine Freilassung unter dem Motto: «Vivo
lo llevaron – vivo lo queremos»[3].
Aber zur grossen Überraschung der mit einer AK-47 angegriffenen Aktivistin
sagte die Kirche kein Wort zum Überfall oder der Unterstützung für ihre
Familie. Sie und andere Sandinistas haben sich vergeblich darüber beschwert und
sind seither ausgetreten.
Margarita bestätigt auch, dass einige der wichtigsten
OrganisatorInnen an der Upoli[4]
sehr aktive Mitglieder in der Quartierkirche waren. Ich denke zwar, Juan und
Miguel waren nicht in die Upoli-Sache verwickelt, aber sie waren sehr aktiv in
der Kirche. Juan gab Kindern jede Woche Unterricht. Beide haben auch an der
privaten Universidad del Valle studiert. Und schon eine Weile vor April[5]
sah ich, dass beide Antipolizei-Posts verbreiteten – die Polizei knöpfe sich
grundlos Leute vor, wende Gewalt an etc. Und beide posteten Sätze wie: «Ich
weiss nicht, aber Bachi gefällt mir nicht» (despektierlicher Spitzname für
Präsident Ortega). Unnötig zu erwähnen, dass beide während des
Indio-Maiz-Brands in den Social Media sehr aktiv waren.[6]
Im Rückblick frage ich mich, ob beide zu den von der NED[7]
finanzierten Jugendworkshops nicaraguanischer NGOs gehörten.
Mit Miguel und Juan, Pro-Oppositionsbekanntschaften in den
USA und den Lügen der Mainstreampresse wird es zum Alptraum, auch nur schon über
Berichtigungen nachzudenken. Es ist unmöglich, rauszufinden, wo man beginnen
soll.
·
tortillaconsal.com, 21.12.18:
The nightmare of
rebutting endless opposition lies.
[1] Tatsächlich betrifft dies nur FSLN-Mitglieder. Doch das Missverständnis
verweist auf ein tieferes Misstrauen, wie es sich auch im Glauben
manifestierte, dass die Rentenreform von April tatsächlich eine neoliberale
gewesen sei.
[2] Ende April kam es zu organisierten Plünderungen von Supermärkten
zwecks Anheizen der Lage.
[3] „Lebend habt ihr ihn mitgenommen, lebend wollen wir ihn zurück»
–kontinentweites Motto gegen die staatsterroristische Praxis des
Verschwindenlassens.
[6] Grossfeuer im
Naturreservat Indio Maíz im Süden des Landes kurz vor den April-Unruhen.
DemonstrantInnen warfen damals Ortega auch mit Falschbehauptungen vor, die
Brandbekämpfung zu verschleppen. Eine zentrale Desinformationsquelle war offenbar
die US-finanzierte Fundación del Río, die kürzlich mit anderen NGOs zusammen verboten
wurde. Hauptbegründung im Parlament: Diese NGOs hätten als Kanäle für die
US-Finanzierung des Regime Change fungiert.
[7] National Endowment for
Democracy. Amtliche US-Finanzierungsagentur für Organisationen im Ausland.