Venezuela: Bemerkungen zur Blockade

Freitag, 11. Januar 2019


Pedro Santander*
Die internationale Presse widmet den Mühsalen des venezolanischen Volks jeden Tag viel Raum, für die sie stets die Regierung von Präsident Nicolás Maduro beschuldigt. Journalistinnen, Kolumnisten, Sängerinnen, Schauspieler, Akademikerinnen und Politiker breiten in den grossen Medien ihre Meinung über Venezuela aus. Aber diese mediale Obsession mit dem karibischen Land blendet durchgehend eine für eine minimal rigorose Analyse entscheidende Variabel: die Blockade.
Wie während Jahrzehnten im Fall von Kuba wird die venezolanische Realität so betrachtet, als ob es diese Variabel nicht gäbe. Es ist nicht neu, dass eine Regierung mit einer möglichst unabhängigen Innen- und Aussenpolitik, die zudem eine Kritik am kapitalistischen System formuliert, brutal blockiert wird. Das erlebt Kuba seit mehr als 50 Jahren. Das erlebte die Regierung Allende. Von Beginn ihres Mandats weg musste sie gegen eine internationale Wirtschaftsblockade antreten, die den Kupferverkauf ins Ausland einfrieren sollte. In seiner Rede 1972 vor der UNO denunzierte Allende "die von den USA ausgeübte Finanz- und Wirtschaftsblockade". Das tat auch Präsident Maduro an der 73. UN-Vollversammlung dieses Jahr.
Die Strategie bleibt sich gleich: dissidente (also souveräne) Länder politisch und wirtschaftlich blockieren und die Blockade und ihre Auswirkungen vor der Weltöffentlichkeit medial verheimlichen. Kuba, Chile- heute Venezuela. Aber die Blockade nimmt in jedem Fall spezifische Modalitäten an. Für Venezuela können wir folgende unterscheiden: 1. Blockade über extraterritoriale Dekrete, 2. Blockade über Finanzintermediäre, 3. Blockade über Ratingagenturen, und 4. von den Medienunternehmen betriebene Informationsblockade.
I.
Barack Obama formalisierte am 9. März 2015 die erste Modalität, als er in einem Präsidialdekret erklärte: "Ich informiere, dass ich eine executive order erlassen habe und aufgrund der Lage in Venezuela einen nationalen Notstand wegen der unüblichen und ausserordentlichen Bedrohung für die nationale Sicherheit und die Aussenpolitik der Vereinigten Staaten ausrufe". Dieses Dekret wurde verlängert und zeitigt zunehmende Auswirkungen. Als Antwort auf die chavistische Unverschämtheit, (wieder) Wahlen einzuberufen, hatte Donald Trump im Mai 2018 Sanktionen des Finanzministeriums verhängt, die es US-BürgerInnen verbieten, Schuldentitel der venezolanischen Regierung zu erwerben oder auch nur die Bezahlung einer offenen Rechnung anzunehmen. Dies betrifft die Zentralbank und die Ölgesellschaft Pdvsa. Seither kann Venezuela den Dollar nicht mehr für internationale Transaktionen benutzen. Das verunmöglicht eine Schuldenneuverhandlung, da die meisten Schulden unter die US-Rechtsprechungfallen.
In dieser Logik hat ein Grossteil des internationalen Finanzsystems in den letzten Jahren ein Blockadeschema gegen venezolanische Finanzoperationen eingesetzt. Citibank, Commerzbank, Deutsche Bank usw. haben einseitig Verträge als Korrespondenzbanken aufgekündigt[1]. Im Juli 2017 informierte Delaware, Zahlungsagent für die Pdvsa-Anleihen, dass sich ihre US-Korrespondenzbank (PNC Bank) weigere, Zahlungen der Ölgesellschaft abzuwickeln.
II
Die zweite Modalität - die Blockade über Finanzintermediäre - steht für die heutige Zeit. Das Ziel ist zu verhindern, dass Intermediäre Transaktionen mit Venezuela abwickeln, um so jede Beziehung Venezuelas mit Unternehmen in den USA zu vereiteln. Aber auch über die Vereinigten Staaten hinaus: Der Novo Banco (Portugal) gab im August 2017 bekannt, wegen der Blockade durch Intermediäre keine Dollaroperationen mehr mit staatlichen venezolanischen Institutionen realisieren zu können. Die Zahlungsaktivität von Intermediären wird verhindert. Dies hat humanitäre Auswirkungen, da zum Beispiel der Kauf von Medikamenten und Nahrungsmitteln beeinträchtigt wird.
So gelangten letztes Jahr 300'000 vom Staat bezahlte Insulindosen nicht ins Land, da die Citibank ihren Kauf verhinderte. Die US-Bank weigerte sich, die Gelder anzunehmen, die Venezuela für diesen Grosseinkauf zugunsten von Menschen mit Diabetes einbezahlt hatte. Das Insulin blieb in einem Hafen blockiert, obwohl das nötige Geld vorhanden war. Das kolumbianische Labor BSN Medical verhinderte die Auslieferung des Antimalariamittels Primaquin. Insgesamt kam es zum Abbruch von 23 Operationen im internationalen Finanzsektor (darunter $ 39 Millionen für Nahrungsmittel, andere Grundbedarfsartikel und Medikamente). Und schliesslich werden seit November 2017 $ 1.65 Milliarden für den Kauf von Nahrungsmitteln und Medikamenten vom Finanzdienstleister Euroclear in Befolgung der US-Sanktionen "zurückbehalten".
Die Intermediärenblockade zielt nicht nur auf Finanzoperationen ab. Sie betrifft auch die Mobilität der VenezolanerInnen in verschiedenen Bereichen. Seit 2014 fliegen Air Canada, Tiara Air, Alitalia, Gol, Lufthansa, Latam Airlines, Aéreo México, United Airlines, Avianca, Delta Airlines, Aerolíneas Argentinas u. a. Venezuela nicht mehr an. Es wird immer schwieriger, per Flugzeug nach Venezuela zu gelangen. Auch die Reiseagenturen beteiligen sich an der Einzingelung. 15 venezolanische Boxer konnten an der Klassifizierung für die Zentralamerika- und Karibikspiele 2018 (CAC) nicht teilnehmen. Ein Vertragsabschluss mit den Reisebüros war unmöglich; diese hatten verschiedene Hindernisse in den Weg gestellt. So forderten sie, als sie merkten, dass es um die Venezolanische Boxorganisation ging, einen Passagierpreis von $ 2'100 statt $ 300. Als von privater Seite ein Charterflug bereitgestellt wurde, verweigerten Kolumbien und Panama die Überflugerlaubnis, worauf Mexiko es ihnen gleich tat.Zuvor hatte es ähnlich das Frauen-Volleyballteam getroffen. Dieses Jahr verweigerte Guatemala der Rugbymannschaft die Visa für die Teilnahme im Sudamericano 4 Naciones B und dem Kampfsportteam für die Panamerikanische Meisterschaft.
Auch kulturelle Aktivitäten sind betroffen. Anfang dieses Jahres blockierte die italienische Bank Intesa Sanpaolo die Mittel für den venezolanischen Pavillon an der 16. Architekturbiennale von Venedig. Ein "kulturelles Verbrechen" in den Worten von Minister Ernesto Villegas, dem es nach zähen Verhandlungen und harter Kritik gelungen war, schlussendlich die Sperre zu durchbrechen.
Aber der Boykott funktioniert auch in umgekehrter Richtung: Künstler und Sportlerinnen anderer Länder lassen sich dummdreist über die venezolanische Regierung und den Chavismus aus und boykottieren das Land. Miguel Bosé und Jaime Baily sind vielleicht die unsinnigsten Beispiele. Dieser Kultur- und Sportboykott beeinflusst die internationale öffentliche Meinung äusserst effizient und ist ein wichtiges Instrument zur Herstellung einer wie selbstverständlichen negativen Haltung gegen das Land. Dies dank der Bekanntheit von Leuten wie Bosé, Alejandro Sanz, Kevin Spacey, Gloria Stefan oder Francesco Cervelli, die im Kontext einer multidimensionalen Blockade negative Propaganda verbreiten.
III
Die dritte Modalität üben die Ratingagenturen mit ihrer willkürlichen und ungerechten Bewertung aus. Sie legen ein angesichts des zuverlässigen venezolanischen Schuldendienstes unzulässiges Länderrisiko fest. In den letzten 4 Jahren hat die Republik ihre Zahlungsverpflichtungen im Wert von $ 73.359 Milliarden honoriert. Trotzdem ist das Länderrisiko gestiegen. Der Ökonom Alfredo Serrano sagt: "In 32 Monaten in den letzten 14 Jahren ist das Länderrisiko gegen Venezuela gestiegen, trotz des Preisanstiegs des Erdöls. Zurzeit liegtdas von JP Morgan (EMBI+)[2] diktierte Länderrisiko bei 4820 Punkten bzw. dem 38 mal so hoch wie das von Chile, auch wenn dieses Land ein vergleichbares Verhältnis Verschuldung/Bruttoinlandprodukt aufweist. All dies verhindert praktisch jede Möglichkeit von Kreditaufnahme."
Diese drei Modalitäten sind von Zynismus und Paradoxa gekennzeichnet: Während die internationalen Medien "Hungersnot und humanitäre Krise" in Venezuela brandmarken, blockieren andererseits pro US-amerikanische Länder und Institutionen den Import von Medikamenten und Nahrungsmitteln. Während die Gruppe von Lima[3], die USA und die EU sich wegen der venezolanischen Emigration konsterniert zeigen, meiden die Luftfahrgesellschaften eben dieser Länder Venezuela. Und kommt Venezuela seinen Zahlungsverpflichtungen nach, steigt sein Länderrisiko.
IV

Eine absurde Umkehr der Realität. Aber wie absurd auch immer, hält sie sich ideologisch wegen der vierten Modalität der Blockade: der medialen. Auch diese Blockade ist paradox, da die internationalen Unternehmermedien von kaum einem Land so viel berichten wie von Venezuela. Es handelt sich also um eine "lärmige Blockade", im Gegensatz zur stillen Blockade bzgl. Guantánamo, den Massakern in Jemen oder Palästina oder den Dauermorden an mexikanischen Presseschaffenden. Zu Venezuela existiert im Gegenteil ein Übermass an Berichten in der Logik der Skandalagenda und des Banketts der Geschätzigkeit.
2017 wurden 3880 Negativberichte über Venezuela in 90 US-Medien gezählt, also im Schnitt 11 pro Tag, mit Bloomberg und Miami Herald an der Spitze. Reuters und AFP stellen 91 % der Negativberichte bei den Nachrichtenagenturen. Die spanische Zeitung El País erwähnte Venezuela in 249 (!) ihrer 365 Tagesausgaben, ausschliesslich negativ. Wenn das übertrieben erscheint, fehlt der Begriff zur Beschreibung der Deutschen Welle mit ihren 630 Nachrichten zu Präsident Maduro, also fast 2 pro Tag! In Sachen lateinamerikanische Presse sind es die Medien von Mexiko, Kolumbien und Chile (also den wichtigsten Mitgliedern der Pazifik-Allianz), die am meisten berichten: 2017 erschienen 4200 Negativberichte in Mexiko, 3188 in Kolumbien und 3133 in Chile.
Nicht einer dieser Berichte hat die Blockade erwähnt!
Die Medienblockade operiert mit enormer Lärmproduktion bei wgleichzeitigem Unsichtbarmachen sowohl der Blockade wie auch des chavistischen Volks. Diese beiden Faktoren existieren nicht für die Unternehmenmedien. So erhält die globale öffentliche Meinung, die ihre Informationen zu Venezuela mehrheitlich von der hegemonialen Informationsagenda bezieht, ein verzerrtes Bild der Realität.
Dies sind die vier Modalitäten der aktuellen, von den USA als Mittel der Aussenpolitik betriebenen Blockade gegen periphere Länder, die wie Venezuela versuchen, einen eigenen, souveränen Weg zu gehen. Wir erkennen darin eine Kontinuität der Fälle von Chile und Kuba im 20. Jahrhundert, aber auch neue, für das 21. Jahrhundert und diese Phase des Imperialismus charakteristische Züge.
* CELAG (Centro Estrátegico Latinoamericano de Geopolítica), 31.10.18: Notas sobre el bloqueo a Venezuela. Der Autor ist Linguistiker und leitet das Kommunikationsobservatorium der Pontificia Universidad Católica von Valparaíso, Chile.


[1] Ausländische Banken, über die der internationale Zahlungsverkehr abgewickelt wird.
[2] Anleihenindex für Schwellenländer.
[3] Zusammenschluss antichavistischer Länder in Lateinamerika plus Kanada.