Die UNO-Hochkommissarin und die Legitimierung des Staatsterrorismus in Kolumbien

Sonntag, 27. Dezember 2020

 

Renán Vega Cantor*

« Wie informiert sich Frau Bachelet vor ihren sehr auf medialen Auftritten?» (Maurice Lemoine: Michelle Bachelet, la chilena que olvidó de dónde viene).

Am 15. Dezember gab Michelle Bachelet, UNO-Hochkommissarin für Menschenrechte, eine Erklärung über Kolumbien ohne irgendeinen Hinweis auf die Verantwortung des kolumbianischen Staates als Dauerverletzer der Menschenrechte ab. Dafür wälzte sie die Sache auf den schwammigen Begriff der «bewaffneten nicht-staatlichen Gruppen» ab.

Dieses Detail zieht die Aufmerksamkeit auf sich. Es geht nicht um Nuancen, sondern um den Kern der Sache. Es zeigt, dass Bachelet versucht, das (von Tod und Terror gezeichnete) Gesicht des kolumbianischen Staats weiss zu waschen. Widmen wir diesem kleinen Detail, das unbemerkt geblieben ist, als ob es zweitrangig wäre, unsere Aufmerksamkeit, denn der Teufel steckt ja im Detail. In der offiziellen Erklärung heisst es: «Die UNO-Hochkommissarin für Menschenrechte, Michelle Bachelet, verurteilte diesen Dienstag die von bewaffneten nicht-staatlichen Gruppen, kriminellen Gruppen und anderen bewaffneten Elementen in Kolumbien gegen Bauern, Indígenas und Afrokolumbianer ausgeübte Gewalt und bat die Behörden des Landes, konkrete Schritte zu ergreifen, um die Bevölkerung wirksam zu schützen.»

Zentral ist der Begriff «bewaffnete nicht-staatliche Gruppen». Jetzt wissen wir aus dem weisen Mund von Michelle Bachelet, dass die Gewalt eine ätherische Angelegenheit von nicht-staatlichen Gruppen ist, so als ob der Staat eine zahme Taube inmitten von Gruppen, die sich gegenseitig bekriegen, wäre! Eine alte These, gehätschelt von der härtesten Rechten und dem, was sich lange Zeit «demokratische Linke» nannte, den «Gewaltexperten» und Akademikern im Sold des Establishments und prosperierender NGOs, welche die Gewalt gegen Arme und Menschenrechte zu einer lukrativen Ware gemacht haben.

Oder vielleicht interessiert Bachelet die Gewalt von «staatlichen Gruppen» nicht, was wiederum bemerkenswert wäre, da wir ihre «tiefe Sorge» wegen staatlicher Gewalt kennen, wenn es um Venezuela geht. Da verliert sie zu den Gewalteskalationen von Kriminellen wie Leopoldo López oder den Beziehungen der kolumbianischen Paramilitärs der Rastrojos mit dem Operettenpräsidenten namens Juan Guaidó nie ein Wort.

Bachelet, immer dabei, wenn es darum geht, Venezuela oder jene «Regimes», die nicht die Sympathie der USA und der EU (die sich selbst «internationale Gemeinschaft» nennen) geniessen, zu verurteilen, schweigt ominös zur brutalen staatlichen Unterdrückung des chilenischen Volks oder jetzt zum kriminellen Verhalten des kolumbianischen Staats.

Es ist angebracht, ihr kurz einige Aktionen der «bewaffneten staatlichen Gruppen» im Verlauf dieses Jahres 2020 in Erinnerung zu rufen. Sie stellen alle eine schwere Verletzung der Menschenrechte dar, doch die Hochkommissarin erwähnt sie nicht einmal.

 

Massaker im Gefängnis Modelo (Bogotá, 21. Mai): 24 Insassen wurden ermordet und über 100 verletzt. Zuerst hiess es, typisch für Kolumbien, die Toten seien das Ergebnis eines gescheiterten, von den aufständischen Gruppen organisierten Fluchtversuchs. Justizministerin Margarita Cabello sagte, sie sei «stolz» und richtete den Gefängniswärtern ihren «grossen Dank» für die Vereitelung der Flucht aus. Aber Sache war, dass die Wärter der Gefängnisbehörde Inpec, ein von US-Militärs beratenes repressives Staatscorps, das Massaker begingen. Dies ergibt eine Untersuchung von Human Rights Watch, die bekanntlich alles andere als unabhängig von den Interessen der «freien Welt» agiert. HRW schrieb: «Ein von Forensikexperten auf Bitte von Human Rights Watch verfasster Bericht zeigt, dass ‘die Mehrzahl der in den Autopsieberichten geschilderten Schussverletzungen mit einem Vorgehen mit Tötungsabsicht konsistent sind’. Die Experten fügten an, dass «die Autopsieberichte nicht einen Hinweis auf Schussverletzungen beinhalten, die einzig mit der Absicht, die Personen zu verletzen, nicht zu töten, beigefügt worden wären.’»

 

Mord an Anderson Arboleda im Valle del Cauca (25. Mai): Ein Polizist ermordete den 22-jährigen, dunkelhäutigen Anderson Arboleda brutal mit einem Schlagstock. Es war keine Aktion «bewaffneter nicht-staatlicher Gruppen», sondern die eines repressiven staatlichen Korps der Aufstandsbekämpfungssorte, das sich Policía Nacional nennt (Quelle).

 

Soldaten vergewaltigen ein indigenes Mädchen (21. Juni): Sieben Soldaten des Bataillons San Mateo des Departements Risaralda vergewaltigten ein 12-jähriges indigenes Mädchen von der Comunidad Emberá-Chami. Dieses sexuelle Verbrechen verübte eine bewaffnete staatliche, direkt vom Vergewaltigungsweltmeister US-Armee beratene, Gruppe. Diese widerliche Sache beinhaltete eine zusätzliche Dosis an Sadismus. El Tiempo schreibt: «Die Minderjährige soll lange in der Macht der Soldaten gewesen sein, und die sollen weitere Mitglieder ihrer Einheit zur Beteiligung an der Aggression herbeigerufen haben.»  Nach dieser Vergewaltigung durch Truppen einer «staatlichen bewaffneten Gruppe» gab der Armeekommandant bekannt, dass es seit 2016 118 Fälle von Vergewaltigungen indigener oder bäuerischer Mädchen mit direkter Beteiligung von Soldaten gegeben hat. Man sieht: Vergewaltigungen entsprechen einer langen und konstanten Tradition der «bewaffneten staatliche Gruppen». Im Bürokratenslang: Es geht nicht um einen faulen Apfel, sondern um die ganze, vom Virus der sexuellen Gewalt kontaminierte Kiste.

Aber was anderes wäre von der «patriotischen Armee» (eine bewaffnete staatliche Gruppe) zu erwarten? Sie wiederholen in ihrer täglichen Ausbildung diese Lobgesänge voller Liebe und Achtung für die Frauen: «Ich hatte nie eine Mutter und werde nie eine haben / falls ich je eine hatte, habe ich sie mit meinen Händen erwürgt. Ich hatte nie eine Freundin und werde nie eine haben/ fall ich je eine hatte, habe ich es ihr gezeigt» (Quelle).

 

Massaker von acht Jungen im CAI von Soacha (4. September): An diesem Tag führte die Polizei eine ihrer üblichen  Razzien gegen Armutsjugendliche durch und sammelte sie im CAI von Soacha[1]. Es gab einen grossen Brandausbruch, den die Polizei nicht bekämpfte. Laut Aussagen der Mütter der verbrannten Jugendlichen hatte vielmehr dieses bewaffnete staatliche Korps das Feuer gelegt. Das tragische Resultat: Acht Jugendliche starben in den folgenden Tagen an den Brandfolgen. Die Polizei gb sich unwissend und verheimlichte die Vorgänge, bis sie Diego Cancino, Gemeinderat von Bogotá, mit diesen Worten denunzierte: «Am 4. September erlitten wir ein Massaker. Tage zuvor hatten sie die Jugendlichen gefoltert, misshandelt. Sie gaben ihnen nichts zu essen und bedrohten sie.» Der Gemeinderat teilte mit, einer der Verhafteten habe seine Decke angezündet und anscheinend warf ein Polizist einen Brandbeschleuniger in die Zelle: «Die Polizisten gingen raus und liessen die Jungs eingesperrt. Sie liessen niemanden hinein, verhinderten den Einsatz der Feuerlöscher, die Jungs verbrannten.»

 

Massaker von Jugendlichen in Bogotá (9. und 10. September): Nach der Polizeiermordung des Bürgers Javier Ordoñez kam es am 9. und 10. September zu einem Massenprotest vor den CAI. Die Antwort der Polizei bestand in offener und allgemeiner Repression mit dem Resultat, dass 13 Jugendliche in Bogotá und Soacha hinterlistig und absichtlich ermordet wurden.

 

Ermordung von Juliana Giraldo Díaz im Valle del Cauca (25. September): Ein Armeemitglied schoss auf den Wagen, den die Frau fuhr. Die Sache war so eindeutig, dass die Armee sie zugeben musste, obwohl sie anfangs von Schüssen auf die Räder sprach, wobei ein Projektil vom Boden abgeprallt sei und Juliana Giraldo getötet habe (Quelle).

 

Ermordung eines Jugendlichen in Bogotá (18. Dezember): Im Norden von Bogotá, kollidierte ein nicht zugelassener ÖV-Bus mit einem Streifenwagen. Die Polizei erschoss einen Jugendlichen und verletzte einen anderen schwer. Gemeinderat Diego Cancino informierte vom Ort des Geschehens: «Was in El Codito geschah, ist ein klarer Fall von Polizeibrutalität: Die Polizei schoss ohne Grund, der Junge, der als Toter gemeldet wurde, hat einen Kopfschuss und ist im künstlichen Koma.» Später informierte er: «’Lasst ihn nicht sterben, lasst ihn nicht sterben…’, hörte man heute Nachmittag in El Codito. Die Comunidad denunziert, dass die Polizei einen Jungen erschoss, der mit seinem Bus mit ihr zusammenstiess» (Quelle).

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Das sind nur einige der Vorkommnisse mit unbestreitbarer Verantwortung des kolumbianischen Staats. Wäre die Sache nicht so dramatisch, könnte die Hochkommissarin Lachen auslösen, wenn sie sagt: «Es ist die Pflicht des Staates, im ganzen Land präsent zu sein und eine grosse Bandbreite integraler öffentlicher Massnahmen umzusetzen und «solidere Mittel» zu benutzen, um die Rechte aller seiner Bürger einschliesslich der indigenen Bevölkerung und der Menschenrechtsverteidiger zu garantieren, die mitten in einer Gesellschaft, die nach Jahrzehnten des Bürgerkriegs ‘die Gewalt normalisiert’, weiter einem Gemetzel zum Opfer fallen.» Dieser Aufruf an den kolumbianischen Staat, die Bevölkerung zu schützen, bedeutet, da bekannt ist, dass er der direkte Verantwortliche für Gewalt und Verbrechen im Land ist, den Fuchs aufzufordern, den Hühnerstall zu bewachen. Zwischen den Zeilen signalisiert der Aufruf dem Staat, weiter drauflos zu morden. Das ist seine Funktion: Macondo pur.

Tatsache ist, dass die Präsenz des Staates in Kolumbien einzig in militärischer Besetzung von Territorien und Aufstandsbekämpfung existiert, was Repression, Gewalt, Folter und Verbrechen garantiert. Dort, wo der Staat existiert, ist die Verletzung der elementarsten Menschenrechte gesichert.

So sind die Bedingungen. Und so muss man neben den oben erwähnten Fällen, bei denen es keine Zweifel am kriminellen Handeln von staatlichen Instanzen gibt, auch die Massaker nennen. Für die Ermordung von Ex-Guerillas der FARC, von UmweltsaktivistInnen, von MenschenrechtsverteidigerInnen übernimmt der Staat direkt oder indirekt die Schirmherrschaft. Seine Funktionäre hetzen mit ihrer Sprache des Hasses auf alle, die etwas kritisieren oder für ein alternatives Projekt stehen, zum Tod auf.

Man müsste auch die belegten, historischen und strukturellen Beziehungen zwischen Staat und Paramilitärs, die als «Proxies» (Strohmänner) des Staates für die Ermordung der von ihm als Feinde Eingestuften dienen, einbeziehen. Darunter Arbeiterinnen, Bauern, Indígenas, Umweltengagierte … Sie werden in diesem Land täglich umgebracht.

Schlussfolgerung: Wenn sich die UNO-Hochkommissarin für Menschenrechte zu Kolumbien äussert, zeigt sie ihre Sachignoranz und endet damit, das von Hass und Tod geprägte Gesicht des kolumbianischen Staats und seines Machtblocks gegen den Aufstand weiss zu waschen. Liegt dies vielleicht an dem den Staat begünstigenden Image, den ihr einige NGOs übermitteln? Diese haben die Menschenrechte zu einer lukrativen Marktnische gemacht, die die Taschen ihrer Akademiker/Unternehmen füllen.

Es macht keinen Sinn, wie Bachelet zu behaupten: «Am schlechtesten ist die Lage in den nur schwer zugänglichen Gebieten, wo es klar an Präsenz des Staates mangelt» (ebda.). Wo es doch so ist, dass die Präsenz des Staates von Repression und Tod begleitet ist, denn die sogenannten kriminellen und bewaffneten Gruppen sind sein Anhang. Michelle Bachelet schliesst ihren Bericht mit einer grossen Entdeckung: «Leider hat sich die Gewalt nach Jahrzehnten des Bürgerkriegs in Kolumbien normalisiert, was niemand akzeptieren darf.» Klar, nur dass Bachelet mit ihrer Haltung dabei endet, die systematische Verletzung der Menschenrechte durch den kolumbianischen Staat zu normalisieren.

·        Leicht gekürzt aus rebelión.org, 23.12.20: La Altas Comisionada de la ONU y la legitimación del terrorismo de estado en Colombia. Der Autor, ein Dozent an der Universidad Pedagógica Nacional in Kolumbien, war Mitglied der Comisión Histórica del Conflicto, die im Auftrag der Verhandlungsparteien FARC/Regierung die Ursachen und Merkmale des Bürgerkriegs erforscht hat.

 



[1] CAI, Centro de Atención Inmediata: Dezentralisierte Polizeiposten im Rahmen einer Nachbarschaftsstrategie. Soacha: Grosse Armutsgemeinde im Raum Bogotá.

Haiti: Die Installation eines autoritären, vom Verbrechen unterstützten Regimes

Donnerstag, 17. Dezember 2020

 Massaker, Entführungen, Morde an Oppositionellen: Haiti geht unter den Schlägen einer Allianz der Macht mit den kriminellen Banden unter. Washington hat soeben Sanktionen gegen zwei Personen aus dem Umkreis von Präsident Jovenel Moïse verhängt. Die Institutionen des Landes sind gelähmt und die Demonstrationen multiplizieren sich.

François Bonnet*

 

Washington, Königsmacher und wichtigster politischer Akteur in Haiti, hat sich endlich entschlossen, etwas zu tun. Seit 2016 haben die USA ungeachtet des Zusammenbruchs des Lands Präsident Jovenel Moïse und seinen Clan unterstützt. Aber jetzt kommt es zu einer strengen Warnung. Am 10. Dezember hat das US-Finanzministerium Sanktionen gegen drei Schlüsselpersonen, zwei Offizielle des Regimes und einen Bandenchef, bekanntgegeben. Da sie unter die Gültigkeit des Magnitzki Act fallen, werden ihre Guthaben in den USA eingefroren und erhalten sie keine Visa.

Ein wichtiger Entscheid, denn er zielt auf das Herz dessen, wozu die Präsidentschaft von Jovenel Moïse geworden ist: ein Bündnis der autoritären Macht mit kriminellen Banden, um die Bevölkerung zu terrorisieren, und die sozialen Mobilisierungen, die seit mehr als zwei Jahren anhalten, auszulöschen.

Diese Sanktionen beziehen sich auf eines der Grössten Massaker, jenes vom 13. November 2018 in La Saline, einem Slum in der Hauptstadt Port-au-Prince. An jenem Tag werden 71 Menschen mit Machteten, Äxten und Schusswaffen umgebracht. El Frauen werden Opfer von Massenvergewaltigungen, Dutzende von Personen werden verletzt. Kinder werden getötet. Ein Teil der Leichen wird in eine Abfallhalde entsorgt, andere verbrannt und zerstückelt. 400 Wohnungen sind zerstört.

Die Bevölkerung von La Saline stellte Bataillone für die Protestdemos. Sie musste bestraft und terrorisiert werden. Das US-Finanzministerium bestätigt heute zahlreiche Untersuchungen wie jene des UNO-Menschenrechtsbüros und haitischer Menschenrechtsorganisationen. Das US-Ministerium erklärt, «der Architekt» des Massakers sei «der Departementsvertreter von Präsident Jovenel Moïse», ein gewisser Joseph Pierre Richard Duplan. «Planung» und Organisation des Tötens obliegen dem Generaldirektor des Innenministeriums, Fednel Monchéry. Für die Durchführung sorgt mit kriminellen Banden Jimmy Cherizier, früher Offizier der haitischen Polizei und seither einer der wichtigsten Bandenchefs in Port-au-Prince.

Cherizier. Quelle: Haitian Times.

 Die Treasury-Mitteilung nimmt im Wesentlichen die Schlüsse jener früheren Berichte auf, welche die Macht als «Lügen und Manipulationen» denunziert hatte. Duplan und Monchéry haben die Bandenmitglieder mit Waffen, Wagen und Polizeiuniformen ausgestattet.

Cherizier organisierte in der Folge weitere Gemetzel in verschiedenen Quartieren von Port-au-Prince. Er trägt den Spitznamen «Commandant Barbecue» und ist heute der Chef des sich «G9» nennenden Bündnis der neun wichtigsten Banden der Hauptstadt.  Im November 2020 beging Jimmy Cherizier während vier Tagen eine Reihe von Morden und Brandstiftungen in Bel Air, einem anderen Volksquartier.

Treasury schreibt: «Die generalisierte Gewalt und die wachsende Kriminalität bewaffneter Banden werden von einem Justizsystem verstärkt, das die Verantwortlichen für die Angriffe auf Zivilpersonen nicht verfolgt.» Washington sagt nun explizit, was es bisher geleugnet oder verschwiegen hat: «Diese Banden unterdrücken mithilfe einiger Politiker die politische Dissidenz in den für ihre Teilnahme an den Anti-Regierungsdemonstrationen bekannten Quartieren von Port-au-Prince. Sie erhalten Geld, politische Unterstützung und genügend Waffen, um sie besser als die Police Nationale Haïtienne zu bewaffnen.»

Seit mindestens zwei Jahren weiss ganz Port-au-Prince Bescheid. Die «Macoutisierung» der Macht ist im Gang, wie der Schriftsteller Lyonel Trouillot mit Bezug auf die «Tontons Macoutes»-Milizen des Diktators Duvalier, die während seines ganzen Regimes für Terror sorgten, seit langem beklagt.

Die Sanktionenverlautbarung der USA erfolgte am 10. Dezember, dem Tag der Menschenrechte, der in Haiti auf speziellen Widerhall traf. Tausende gingen in verschiedenen Städten gegen die allgemeine Unsicherheit und die kriminellen Banden auf die Strasse.

In Port-au-Prince gab es «die Demonstration für das Leben», organisiert von ziemlich allem, was die Hauptstadt an Vereinen aufweist. Zwei Tage zuvor wandelten Tausende auch die Prozession der Unbefleckten Empfängnis in eine «Demonstration gegen die Unsicherheit, die Entführungen, die Angst und für die Hoffnung» um.

"Diese Angst, die uns in Haiti quält". Quelle: Ayibo Post.

 Denn nach den Massakern entwickelt sich jetzt ein neues Gewerbe, das der Entführungen. Die Gangs entführen die Leute und verlangen für sie dann ein Lösegeld oder ermorden sie. Letzten Donnerstag wurden zwei Männer im Stadtzentrum von Léogâne nahe der Hauptstadt entführt. Die Entführer fordern ein Lösegeld von einer Million Dollar. Sie trugen Polizeiuniformen und waren schwer bewaffnet. Die beiden Opfer waren arbeitslos, ihre Familien sind arm …

Am 1. November erschütterte die Ermordung der 22-jährigen Studentin Évelyne Sincère das Land. Sie war am 29. Oktober entführt worden, ihre Leiche wurde in einem Abfallhaufen gefunden. Die Familie hatte versucht, das Lösegeld aufzutreiben, doch die drei Entführer entschieden, sie zu töten. Vermutlich wurde sie vergewaltigt und danach unter Drogen gesetzt und mit einem Kopfkissen erstickt.

Am Sonntag, dem 6. Dezember, waren der Orchesterdirigent Dickens Princivil und die junge Frau Magdala Louis an der Reihe, von einem halben Dutzend Bewaffneter entführt zu werden. Sie kamen nach einer Erschiessungssimulation frei.

«Die G9, die wichtigste kriminelle Organisation im Land seit 1986, ist unter Anstiftung der jetzigen Regierung entstanden. Die G9 paradiert in den Strassen, entführt, mordet, plündert, vergewaltigt, bedroht Oppositionelle und hält sich bereit, um die nächsten Wahlen zugunsten der Präsidentenpartei PHTK zu drehen», schreibt Widlore Mérancourt. Der Chefredakteur des unabhängigen Portals Ayibo Post berichtet, wie er entführt und schlussendlich befreit wurde. Er fragt: «Was soll Vorsicht bedeuten, wenn die Behörden mit der Unterwelt und den Todesschwadronen beste Beziehungen unterhalten und sogar mit ihnen fusionieren?»

An diesem 10. Dezember, Tag der Demonstrationen für das Leben und der US-Verlautbarung, besammelten sich Dutzende von Personen, darunter Minister und Offizielle, vor der Kirche Christ-Roi zur nationalen Beerdigungsfeier von Gérard Gourgue. Dieser Anwalt hatte 1978 unter Duvalier die Haitische Menschenrechtsliga gegründet. An der Feier richtet sich der Erzbischof von Port-au-Prince, Max Leroy Mésidor, an die Macht: «Wir sind mit einer Vergiftung des gesellschaftlichen Lebens durch eine Zunahme von Entführungen, Kriminalität und Terror konfrontiert. Der Gründer der Ligue haïtienne des droits de l’homme hätte sich den katholischen Bischöfen angeschlossen, um «Nein» zu Chaos, Gewalt, Unsicherheit und Elend zu sagen. Wir haben genug davon. Zuviel ist zu viel.» Seit Monaten will die Kirche zwischen der Macht und den Oppositionsparteien vermitteln.

Eine andere Stimme ist zu hören, die von Marie Suzy Legros, Präsidentin der Anwaltskammer von Port-au-Prince. Ihr Vorgänger, Monferrier Dorval, der sich mit der Aussage, «Haiti wird weder geführt noch verwaltet», gegen Jovenel Moïse gewandt hatte, war am 28. August bei seinem Wohnsitz erschossen worden. Die Ermittlungen haben noch nichts ergeben. Vor den Ministern legte sich Marie Suzy Legros direkt mit dem Präsidenten an, als sie «tyrannische und freiheitstötende Texte in Vorbereitung» und das Projekt einer neuen Verfassung, «ein Verbrechen des Hochverrats, eine schwere Verletzung der demokratischen Ordnung, eine illegitime Usurpierung der Macht» anprangerte. Denn mitten im allgemeinen, von der Macht begünstigten Chaos kann Jovenel Moïse jetzt als Alleinherrscher regieren.

Seit Januar 2020 gibt es kein Parlament mehr, Wahlen wurden nicht organisiert. Jovenel Moïse regiert per Dekret. Er hat das Embryo einer stark an eine Präsidentenmiliz erinnernde Söldnerarmee geschaffen. Er hat gerade die Schaffung eines Nationalen Geheimdienstes dekretiert, der alle Anzeichen eines präsidialen Geheimdienstes aufweist. Er hat ebenso eine handverlesene Wahlbehörde für die kommenden Wahlen geschaffen. Und er kündet eine neue Verfassung an, deren Ausarbeitung in den Händen eines von ihm ernannten Gremiums liegt. Und vor allem hat er dem Rechnungshof einen Maulkorb angelegt, indem er ihn zwingt, binnen fünf Tagen Bescheide zu veröffentlichen, die nur noch konsultativen Charakter haben werden …

·        mediapart.fr, 12.12.20 : Un régime autoritaire soutenu par le crime s’installe en Haïti

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(zas) « Washington, Königsmacher und wichtigster politischer Akteur in Haiti, hat sich endlich entschlossen, etwas zu tun.» Dieser Satz mutet angesichts der US-Praxis in Haiti sehr skurril an. Nur ein Beispiel: Die Clique der PHTK kam durch eine brachiale Verfälschung von Wahlresultaten durch Washingtons Kolonialbehörde, die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS), überhaupt an die Regierungspfründe. Dessen ungeachtet, beleuchtet der Artikel des französischen Onlineportals Mediapart wichtige und beklemmende Tendenzen. Sie erinnern stark an Geschehnisse in El Salvador, Honduras, Kolumbien oder Brasilien, um nur Phänomene in Lateinamerika zu nennen. Warum Washington zu Haiti jetzt einen Warnschuss abgibt, wird noch zu analysieren sein.

Corona-Impfstoff aus Kuba ‒ Ein Zeichen der Hoffnung für verarmte Länder

Montag, 14. Dezember 2020

 

Der Schweizer Arzt und Professor Franco Cavalli hat Kuba besucht und sich von der weit fortgeschrittenen Entwicklung des Impfstoffes Soberana überzeugt

 

Sergio Ferrari  

 

Wenige Tage bevor Mitte November die kommerziellen Flüge mit Kuba wieder aufgenommen wurden, reiste der Schweizer Arzt und Professor Franco Cavalli in das Karibikland. Er überzeugte sich von der weit fortgeschrittenen Entwicklung des kubanischen Covid-Impfstoffes Soberana, der sich bereits in der Testphase 2 befindet. Da der Impfstoff für hohe Temperaturen geeignet ist und deshalb im Gegensatz zu den andern Kandidaten ohne kostspielige Kühlketten gehandhabt werden kann, könnte er für Länder mit geringen Ressourcen eine echte Alternative sein.

Franco Cavalli war einer der ersten europäischen Wissenschaftler, der Kuba nach der strengen Beschränkung besuchen konnte. "Ich habe ein vorbildliches Land im Kampf gegen Covid-19 kennen gelernt. Dieses steht jedoch aufgrund der Pandemie und der Blockade heute vor einer tiefen Wirtschaftskrise", erklärt der Vizepräsident von mediCuba Europe, einem wichtigen Netzwerk von Nichtregierungsorganisationen des Gesundheitssektors, das in 13 Ländern des Kontinents vertreten ist.

Zwischen März 2020 und dem 30. November spiegeln die offiziellen Zahlen, die von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) bestätigt wurden, eine aussergewöhnliche gesundheitliche Realität wider. "Kuba hat 50-mal weniger Todesfälle als die Schweiz und fast 120-mal weniger als Belgien", sagte der renommierte Onkologe, der von 2006 bis 2008 Präsident der Internationalen Union gegen Krebs (UICC) war.

In den vergangenen zehn Monaten verzeichnete der karibische Staat 8’233 Infektionen und nur 134 Todesfälle bei einer Bevölkerung von fast zwölf Millionen Menschen. Dies entspricht einer Auswirkung von 1’18 Todesfällen pro 100.000 Einwohner. Die benachbarte Dominikanische Republik hat eine Rate von 21.92; Deutschland – ein europäisches Beispiel für die Kontrolle der Pandemie – hat 19.68; die Schweiz hat 55.53 und Belgien hat 144.73, immer pro 100’000 Einwohner.

 

Erfolgreiche Gesundheitsbemühungen

Das öffentliche Gesundheitssystem Kubas, das völlig kostenlos ist, und das Konzept der gemeindebasierten Medizin "haben es ermöglicht, die Pandemie, die wie in vielen Ländern Lateinamerikas und der Karibik verheerende Folgen hätte haben können, erfolgreich unter Kontrolle zu bringen", sagte Cavalli.

Er betont "extreme Bürgerdisziplin. Ich habe nie jemanden ohne Maske gesehen. Gesundheitskontrollen sind systematisch. Beim Betreten einer Einrichtung oder eines öffentlichen Raums messen sie die Körpertemperatur und verlangen eine Händedesinfektion. Vielerorts werden die Schuhe sogar desinfiziert".

Eines der Ziele seiner Reise war es, sich über den Fortschritt des Impfstoffs zu informieren. Soberana 1 hat die erste Phase abgeschlossen. Es wurde an zwei Altersgruppen getestet, eine über 60 Jahre alt und eine jüngere. Phase 2, in der die Wirksamkeit, insbesondere auf der Ebene der Zellreaktion und der Antikörper gemessen wird, ist im Gange. Sie gehen davon aus, dass sie gegen Ende des Jahres mit Phase 3 beginnen werden, dass diese bis Ende März beendet sein wird, und planen, das Impfserum ab Mitte 2021 anzuwenden. Es gibt ein zweites Projekt, den Impfstoff Soberana 2, das ebenfalls im Gange ist.

"Kuba hat seit vielen Jahren in die biomedizinische Forschung investiert. Seine Forscher verfügen über enorme Erfahrung auf diesem Gebiet. Sie haben zum Beispiel den weltweit ersten Impfstoff gegen Meningokokken entwickelt", erklärt der Schweizer Professor. Das Finlay-Institut, mit dem er während seines jüngsten Aufenthalts enge Kontakte unterhielt, ist eines der 32 Zentren, die den Wissenschaftspool Havannas (BioCubaFarma) bilden, der insgesamt etwa 20’000 Menschen beschäftigt.

Eine der Besonderheiten Kubas ist es, dass Forschung und industrielle Produktion zusammengelegt wurde. Biotechnologie-Exporte seien eine wichtige Ressourcenquelle für das Land, sagte er. Ein Beispiel: Ein grosser Teil des lateinamerikanischen Marktes für Erythropoietin (EPO), das für die chronische Behandlung von Anämie, Nierenfunktionsstörungen und Behandlungen nach Chemotherapien unerlässlich ist, wird durch ein kubanisches Produkt gesichert.

"Ich bin mir in diesem speziellen Fall des SARS-CoV-2-Impfstoffs nicht sicher, ob die Produktionskapazität Kubas ausreichen würde, wenn es sich in einem Teil des Weltmarkts durchsetzen sollte. Da BioCubaFarma jedoch drei Niederlassungen in China hat, habe ich den Eindruck, dass ein Teil der Produktion von dort kommen könnte", reflektiert Cavalli.

Der Schweizer Arzt erinnert sich, in Havanna einen schlüssigen Satz gehört zu haben, der ihn stark geprägt hat: «Wir werden nicht die Ersten sein, die einen Impfstoff haben, aber wir streben an, das erste Land zu sein, das die Impfung seiner gesamten Bevölkerung sicherstellt." Dies ist eine Herausforderung, die angesichts der Fortschritte in der Forschung mittelfristig Realität werden könnte.

Der kubanische Impfstoff, fügt der Schweizer Wissenschaftler hinzu, könnte sogar Grenzen überwinden. Im Gespräch mit mehreren Beamten der WHO/PAHO (Panamerikanische Gesundheitsorganisation) in der kubanischen Hauptstadt "komme ich zu dem Schluss, dass die Hoffnung besteht, dass er in Ländern mit geringen Ressourcen zu erschwinglichen Preisen verteilt werden könnte. Für hohe Temperaturen geeignet – im Gegensatz zu anderen, die sich in klinischen Studien befinden –, ohne ausgeklügelte Kühlketten zu erfordern, könnte das eine echte Alternative zu den Produkten grosser Pharmakonzerne sein".

 

Komplexe Situation

Die wirtschaftlichen Folgen der Pandemie für Kuba dürfen nicht unterschätzt werden und haben fast dramatische Auswirkungen. "Wenn man zu den härter werdenden Auswirkungen der Blockade noch die jüngste Entscheidung von Donald Trump hinzufügt, die Überweisungen von Familien aus den USA auf die Insel zu verhindern, ist das Bild doppelt beunruhigend", betont er.


Es gibt alltägliche Eindrücke, die an die Krise erinnern, die die karibische Nation während der Sonderperiode Anfang der 1990er Jahre erlebte. Vielleicht liegt der Unterschied "darin, dass der Brennstoffmangel heute geringer ist als damals". Es ist sehr deutlich zu erkennen, welch grosse Sparanstrengungen in allen Aktivitäten umgesetzt werden.

Der Tourismus, einer der wesentlichen Wirtschaftszweige, da er zehn Prozent zum Bruttoinlandsprodukt beiträgt, ist in den letzten zehn Monaten erheblich eingebrochen. "Erst jetzt wird diese Aktivität wieder aufgenommen, aber mit vielen Vorsichtsmassnahmen", erklärt Franco Cavalli.

Havannas internationaler Flughafen wurde am 15. November für Linienflüge wiedereröffnet, und einige touristische Regionen, wie Varadero, wurden reaktiviert.

Diese komplexe Situation kann die internationale Solidarität nicht gleichgültig lassen, sagt der Präsident von mediCuba-Europe. Diesem Netzwerk gelang es, in den ersten Monaten der Pandemie 600’000 Euro aufzubringen und das notwendige Material zur Vorbereitung der Tests sowie 25 Lungenbeatmungsgeräte sicherzustellen.

Nun stellte ihm das Finlay-Institut ein Projekt von fast einer halben Million Euro vor, um Instrumente zu kaufen, die sie aufgrund der US-Blockade nicht auf dem Markt bekommen können. Dabei handelt es sich um Instrumente, mit denen nach der Impfung die Veränderung der weissen Blutkörperchen gemessen werden kann, die die Antikörper produzieren, die das Virus direkt bekämpfen.

Fast im Alter von 80 Jahren – und seit mehr als 40 Jahren – hat Franco Cavalli die internationale Solidarität zu einer seiner täglichen Verpflichtungen gemacht. Kuba und Mittelamerika sind seine vorrangigen, wenn auch nicht ausschliesslichen Horizonte. Und das, ohne seine kritische Reflexion aufzugeben.

Wie er in einem früheren Interview zum Ausdruck brachte, ist Solidarität weit mehr als das Konzept der "Entwicklungshilfe". Er sagte damals: "Das Konzept ist falsch. Ich stelle den Begriff der Hilfe nicht in Frage. Wir müssen weiterhin zusammenarbeiten und solidarisch sein. Ohne diesen kleinen Beitrag wären die Menschen in diesen Ländern sicherlich noch schlechter dran. Aber was wir nicht sagen können, ist, dass diese Hilfe zur Entwicklung führe. Die Philosophie hinter dem Konzept der 'Entwicklungshilfe' ist falsch. Wir müssen vor allem eine politische Änderung der internationalen Spielregeln fördern."

Und diese neuen Regeln erfordern die Horizontalität Nord-Süd-Nord. Daher die Hoffnung des Präsidenten von mediCuba Europe: Angesichts der verheerenden Auswirkungen der Pandemie könnte in Zukunft ein in der Karibik entwickelter und hergestellter Impfstoff einen Hoffnungsschimmer für die Vergessenen der grossen multinationalen Pharmaindustrie darstellen.