Die UNO-Hochkommissarin und die Legitimierung des Staatsterrorismus in Kolumbien

Sonntag, 27. Dezember 2020

 

Renán Vega Cantor*

« Wie informiert sich Frau Bachelet vor ihren sehr auf medialen Auftritten?» (Maurice Lemoine: Michelle Bachelet, la chilena que olvidó de dónde viene).

Am 15. Dezember gab Michelle Bachelet, UNO-Hochkommissarin für Menschenrechte, eine Erklärung über Kolumbien ohne irgendeinen Hinweis auf die Verantwortung des kolumbianischen Staates als Dauerverletzer der Menschenrechte ab. Dafür wälzte sie die Sache auf den schwammigen Begriff der «bewaffneten nicht-staatlichen Gruppen» ab.

Dieses Detail zieht die Aufmerksamkeit auf sich. Es geht nicht um Nuancen, sondern um den Kern der Sache. Es zeigt, dass Bachelet versucht, das (von Tod und Terror gezeichnete) Gesicht des kolumbianischen Staats weiss zu waschen. Widmen wir diesem kleinen Detail, das unbemerkt geblieben ist, als ob es zweitrangig wäre, unsere Aufmerksamkeit, denn der Teufel steckt ja im Detail. In der offiziellen Erklärung heisst es: «Die UNO-Hochkommissarin für Menschenrechte, Michelle Bachelet, verurteilte diesen Dienstag die von bewaffneten nicht-staatlichen Gruppen, kriminellen Gruppen und anderen bewaffneten Elementen in Kolumbien gegen Bauern, Indígenas und Afrokolumbianer ausgeübte Gewalt und bat die Behörden des Landes, konkrete Schritte zu ergreifen, um die Bevölkerung wirksam zu schützen.»

Zentral ist der Begriff «bewaffnete nicht-staatliche Gruppen». Jetzt wissen wir aus dem weisen Mund von Michelle Bachelet, dass die Gewalt eine ätherische Angelegenheit von nicht-staatlichen Gruppen ist, so als ob der Staat eine zahme Taube inmitten von Gruppen, die sich gegenseitig bekriegen, wäre! Eine alte These, gehätschelt von der härtesten Rechten und dem, was sich lange Zeit «demokratische Linke» nannte, den «Gewaltexperten» und Akademikern im Sold des Establishments und prosperierender NGOs, welche die Gewalt gegen Arme und Menschenrechte zu einer lukrativen Ware gemacht haben.

Oder vielleicht interessiert Bachelet die Gewalt von «staatlichen Gruppen» nicht, was wiederum bemerkenswert wäre, da wir ihre «tiefe Sorge» wegen staatlicher Gewalt kennen, wenn es um Venezuela geht. Da verliert sie zu den Gewalteskalationen von Kriminellen wie Leopoldo López oder den Beziehungen der kolumbianischen Paramilitärs der Rastrojos mit dem Operettenpräsidenten namens Juan Guaidó nie ein Wort.

Bachelet, immer dabei, wenn es darum geht, Venezuela oder jene «Regimes», die nicht die Sympathie der USA und der EU (die sich selbst «internationale Gemeinschaft» nennen) geniessen, zu verurteilen, schweigt ominös zur brutalen staatlichen Unterdrückung des chilenischen Volks oder jetzt zum kriminellen Verhalten des kolumbianischen Staats.

Es ist angebracht, ihr kurz einige Aktionen der «bewaffneten staatlichen Gruppen» im Verlauf dieses Jahres 2020 in Erinnerung zu rufen. Sie stellen alle eine schwere Verletzung der Menschenrechte dar, doch die Hochkommissarin erwähnt sie nicht einmal.

 

Massaker im Gefängnis Modelo (Bogotá, 21. Mai): 24 Insassen wurden ermordet und über 100 verletzt. Zuerst hiess es, typisch für Kolumbien, die Toten seien das Ergebnis eines gescheiterten, von den aufständischen Gruppen organisierten Fluchtversuchs. Justizministerin Margarita Cabello sagte, sie sei «stolz» und richtete den Gefängniswärtern ihren «grossen Dank» für die Vereitelung der Flucht aus. Aber Sache war, dass die Wärter der Gefängnisbehörde Inpec, ein von US-Militärs beratenes repressives Staatscorps, das Massaker begingen. Dies ergibt eine Untersuchung von Human Rights Watch, die bekanntlich alles andere als unabhängig von den Interessen der «freien Welt» agiert. HRW schrieb: «Ein von Forensikexperten auf Bitte von Human Rights Watch verfasster Bericht zeigt, dass ‘die Mehrzahl der in den Autopsieberichten geschilderten Schussverletzungen mit einem Vorgehen mit Tötungsabsicht konsistent sind’. Die Experten fügten an, dass «die Autopsieberichte nicht einen Hinweis auf Schussverletzungen beinhalten, die einzig mit der Absicht, die Personen zu verletzen, nicht zu töten, beigefügt worden wären.’»

 

Mord an Anderson Arboleda im Valle del Cauca (25. Mai): Ein Polizist ermordete den 22-jährigen, dunkelhäutigen Anderson Arboleda brutal mit einem Schlagstock. Es war keine Aktion «bewaffneter nicht-staatlicher Gruppen», sondern die eines repressiven staatlichen Korps der Aufstandsbekämpfungssorte, das sich Policía Nacional nennt (Quelle).

 

Soldaten vergewaltigen ein indigenes Mädchen (21. Juni): Sieben Soldaten des Bataillons San Mateo des Departements Risaralda vergewaltigten ein 12-jähriges indigenes Mädchen von der Comunidad Emberá-Chami. Dieses sexuelle Verbrechen verübte eine bewaffnete staatliche, direkt vom Vergewaltigungsweltmeister US-Armee beratene, Gruppe. Diese widerliche Sache beinhaltete eine zusätzliche Dosis an Sadismus. El Tiempo schreibt: «Die Minderjährige soll lange in der Macht der Soldaten gewesen sein, und die sollen weitere Mitglieder ihrer Einheit zur Beteiligung an der Aggression herbeigerufen haben.»  Nach dieser Vergewaltigung durch Truppen einer «staatlichen bewaffneten Gruppe» gab der Armeekommandant bekannt, dass es seit 2016 118 Fälle von Vergewaltigungen indigener oder bäuerischer Mädchen mit direkter Beteiligung von Soldaten gegeben hat. Man sieht: Vergewaltigungen entsprechen einer langen und konstanten Tradition der «bewaffneten staatliche Gruppen». Im Bürokratenslang: Es geht nicht um einen faulen Apfel, sondern um die ganze, vom Virus der sexuellen Gewalt kontaminierte Kiste.

Aber was anderes wäre von der «patriotischen Armee» (eine bewaffnete staatliche Gruppe) zu erwarten? Sie wiederholen in ihrer täglichen Ausbildung diese Lobgesänge voller Liebe und Achtung für die Frauen: «Ich hatte nie eine Mutter und werde nie eine haben / falls ich je eine hatte, habe ich sie mit meinen Händen erwürgt. Ich hatte nie eine Freundin und werde nie eine haben/ fall ich je eine hatte, habe ich es ihr gezeigt» (Quelle).

 

Massaker von acht Jungen im CAI von Soacha (4. September): An diesem Tag führte die Polizei eine ihrer üblichen  Razzien gegen Armutsjugendliche durch und sammelte sie im CAI von Soacha[1]. Es gab einen grossen Brandausbruch, den die Polizei nicht bekämpfte. Laut Aussagen der Mütter der verbrannten Jugendlichen hatte vielmehr dieses bewaffnete staatliche Korps das Feuer gelegt. Das tragische Resultat: Acht Jugendliche starben in den folgenden Tagen an den Brandfolgen. Die Polizei gb sich unwissend und verheimlichte die Vorgänge, bis sie Diego Cancino, Gemeinderat von Bogotá, mit diesen Worten denunzierte: «Am 4. September erlitten wir ein Massaker. Tage zuvor hatten sie die Jugendlichen gefoltert, misshandelt. Sie gaben ihnen nichts zu essen und bedrohten sie.» Der Gemeinderat teilte mit, einer der Verhafteten habe seine Decke angezündet und anscheinend warf ein Polizist einen Brandbeschleuniger in die Zelle: «Die Polizisten gingen raus und liessen die Jungs eingesperrt. Sie liessen niemanden hinein, verhinderten den Einsatz der Feuerlöscher, die Jungs verbrannten.»

 

Massaker von Jugendlichen in Bogotá (9. und 10. September): Nach der Polizeiermordung des Bürgers Javier Ordoñez kam es am 9. und 10. September zu einem Massenprotest vor den CAI. Die Antwort der Polizei bestand in offener und allgemeiner Repression mit dem Resultat, dass 13 Jugendliche in Bogotá und Soacha hinterlistig und absichtlich ermordet wurden.

 

Ermordung von Juliana Giraldo Díaz im Valle del Cauca (25. September): Ein Armeemitglied schoss auf den Wagen, den die Frau fuhr. Die Sache war so eindeutig, dass die Armee sie zugeben musste, obwohl sie anfangs von Schüssen auf die Räder sprach, wobei ein Projektil vom Boden abgeprallt sei und Juliana Giraldo getötet habe (Quelle).

 

Ermordung eines Jugendlichen in Bogotá (18. Dezember): Im Norden von Bogotá, kollidierte ein nicht zugelassener ÖV-Bus mit einem Streifenwagen. Die Polizei erschoss einen Jugendlichen und verletzte einen anderen schwer. Gemeinderat Diego Cancino informierte vom Ort des Geschehens: «Was in El Codito geschah, ist ein klarer Fall von Polizeibrutalität: Die Polizei schoss ohne Grund, der Junge, der als Toter gemeldet wurde, hat einen Kopfschuss und ist im künstlichen Koma.» Später informierte er: «’Lasst ihn nicht sterben, lasst ihn nicht sterben…’, hörte man heute Nachmittag in El Codito. Die Comunidad denunziert, dass die Polizei einen Jungen erschoss, der mit seinem Bus mit ihr zusammenstiess» (Quelle).

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Das sind nur einige der Vorkommnisse mit unbestreitbarer Verantwortung des kolumbianischen Staats. Wäre die Sache nicht so dramatisch, könnte die Hochkommissarin Lachen auslösen, wenn sie sagt: «Es ist die Pflicht des Staates, im ganzen Land präsent zu sein und eine grosse Bandbreite integraler öffentlicher Massnahmen umzusetzen und «solidere Mittel» zu benutzen, um die Rechte aller seiner Bürger einschliesslich der indigenen Bevölkerung und der Menschenrechtsverteidiger zu garantieren, die mitten in einer Gesellschaft, die nach Jahrzehnten des Bürgerkriegs ‘die Gewalt normalisiert’, weiter einem Gemetzel zum Opfer fallen.» Dieser Aufruf an den kolumbianischen Staat, die Bevölkerung zu schützen, bedeutet, da bekannt ist, dass er der direkte Verantwortliche für Gewalt und Verbrechen im Land ist, den Fuchs aufzufordern, den Hühnerstall zu bewachen. Zwischen den Zeilen signalisiert der Aufruf dem Staat, weiter drauflos zu morden. Das ist seine Funktion: Macondo pur.

Tatsache ist, dass die Präsenz des Staates in Kolumbien einzig in militärischer Besetzung von Territorien und Aufstandsbekämpfung existiert, was Repression, Gewalt, Folter und Verbrechen garantiert. Dort, wo der Staat existiert, ist die Verletzung der elementarsten Menschenrechte gesichert.

So sind die Bedingungen. Und so muss man neben den oben erwähnten Fällen, bei denen es keine Zweifel am kriminellen Handeln von staatlichen Instanzen gibt, auch die Massaker nennen. Für die Ermordung von Ex-Guerillas der FARC, von UmweltsaktivistInnen, von MenschenrechtsverteidigerInnen übernimmt der Staat direkt oder indirekt die Schirmherrschaft. Seine Funktionäre hetzen mit ihrer Sprache des Hasses auf alle, die etwas kritisieren oder für ein alternatives Projekt stehen, zum Tod auf.

Man müsste auch die belegten, historischen und strukturellen Beziehungen zwischen Staat und Paramilitärs, die als «Proxies» (Strohmänner) des Staates für die Ermordung der von ihm als Feinde Eingestuften dienen, einbeziehen. Darunter Arbeiterinnen, Bauern, Indígenas, Umweltengagierte … Sie werden in diesem Land täglich umgebracht.

Schlussfolgerung: Wenn sich die UNO-Hochkommissarin für Menschenrechte zu Kolumbien äussert, zeigt sie ihre Sachignoranz und endet damit, das von Hass und Tod geprägte Gesicht des kolumbianischen Staats und seines Machtblocks gegen den Aufstand weiss zu waschen. Liegt dies vielleicht an dem den Staat begünstigenden Image, den ihr einige NGOs übermitteln? Diese haben die Menschenrechte zu einer lukrativen Marktnische gemacht, die die Taschen ihrer Akademiker/Unternehmen füllen.

Es macht keinen Sinn, wie Bachelet zu behaupten: «Am schlechtesten ist die Lage in den nur schwer zugänglichen Gebieten, wo es klar an Präsenz des Staates mangelt» (ebda.). Wo es doch so ist, dass die Präsenz des Staates von Repression und Tod begleitet ist, denn die sogenannten kriminellen und bewaffneten Gruppen sind sein Anhang. Michelle Bachelet schliesst ihren Bericht mit einer grossen Entdeckung: «Leider hat sich die Gewalt nach Jahrzehnten des Bürgerkriegs in Kolumbien normalisiert, was niemand akzeptieren darf.» Klar, nur dass Bachelet mit ihrer Haltung dabei endet, die systematische Verletzung der Menschenrechte durch den kolumbianischen Staat zu normalisieren.

·        Leicht gekürzt aus rebelión.org, 23.12.20: La Altas Comisionada de la ONU y la legitimación del terrorismo de estado en Colombia. Der Autor, ein Dozent an der Universidad Pedagógica Nacional in Kolumbien, war Mitglied der Comisión Histórica del Conflicto, die im Auftrag der Verhandlungsparteien FARC/Regierung die Ursachen und Merkmale des Bürgerkriegs erforscht hat.

 



[1] CAI, Centro de Atención Inmediata: Dezentralisierte Polizeiposten im Rahmen einer Nachbarschaftsstrategie. Soacha: Grosse Armutsgemeinde im Raum Bogotá.