Haiti: Die Installation eines autoritären, vom Verbrechen unterstützten Regimes

Donnerstag, 17. Dezember 2020

 Massaker, Entführungen, Morde an Oppositionellen: Haiti geht unter den Schlägen einer Allianz der Macht mit den kriminellen Banden unter. Washington hat soeben Sanktionen gegen zwei Personen aus dem Umkreis von Präsident Jovenel Moïse verhängt. Die Institutionen des Landes sind gelähmt und die Demonstrationen multiplizieren sich.

François Bonnet*

 

Washington, Königsmacher und wichtigster politischer Akteur in Haiti, hat sich endlich entschlossen, etwas zu tun. Seit 2016 haben die USA ungeachtet des Zusammenbruchs des Lands Präsident Jovenel Moïse und seinen Clan unterstützt. Aber jetzt kommt es zu einer strengen Warnung. Am 10. Dezember hat das US-Finanzministerium Sanktionen gegen drei Schlüsselpersonen, zwei Offizielle des Regimes und einen Bandenchef, bekanntgegeben. Da sie unter die Gültigkeit des Magnitzki Act fallen, werden ihre Guthaben in den USA eingefroren und erhalten sie keine Visa.

Ein wichtiger Entscheid, denn er zielt auf das Herz dessen, wozu die Präsidentschaft von Jovenel Moïse geworden ist: ein Bündnis der autoritären Macht mit kriminellen Banden, um die Bevölkerung zu terrorisieren, und die sozialen Mobilisierungen, die seit mehr als zwei Jahren anhalten, auszulöschen.

Diese Sanktionen beziehen sich auf eines der Grössten Massaker, jenes vom 13. November 2018 in La Saline, einem Slum in der Hauptstadt Port-au-Prince. An jenem Tag werden 71 Menschen mit Machteten, Äxten und Schusswaffen umgebracht. El Frauen werden Opfer von Massenvergewaltigungen, Dutzende von Personen werden verletzt. Kinder werden getötet. Ein Teil der Leichen wird in eine Abfallhalde entsorgt, andere verbrannt und zerstückelt. 400 Wohnungen sind zerstört.

Die Bevölkerung von La Saline stellte Bataillone für die Protestdemos. Sie musste bestraft und terrorisiert werden. Das US-Finanzministerium bestätigt heute zahlreiche Untersuchungen wie jene des UNO-Menschenrechtsbüros und haitischer Menschenrechtsorganisationen. Das US-Ministerium erklärt, «der Architekt» des Massakers sei «der Departementsvertreter von Präsident Jovenel Moïse», ein gewisser Joseph Pierre Richard Duplan. «Planung» und Organisation des Tötens obliegen dem Generaldirektor des Innenministeriums, Fednel Monchéry. Für die Durchführung sorgt mit kriminellen Banden Jimmy Cherizier, früher Offizier der haitischen Polizei und seither einer der wichtigsten Bandenchefs in Port-au-Prince.

Cherizier. Quelle: Haitian Times.

 Die Treasury-Mitteilung nimmt im Wesentlichen die Schlüsse jener früheren Berichte auf, welche die Macht als «Lügen und Manipulationen» denunziert hatte. Duplan und Monchéry haben die Bandenmitglieder mit Waffen, Wagen und Polizeiuniformen ausgestattet.

Cherizier organisierte in der Folge weitere Gemetzel in verschiedenen Quartieren von Port-au-Prince. Er trägt den Spitznamen «Commandant Barbecue» und ist heute der Chef des sich «G9» nennenden Bündnis der neun wichtigsten Banden der Hauptstadt.  Im November 2020 beging Jimmy Cherizier während vier Tagen eine Reihe von Morden und Brandstiftungen in Bel Air, einem anderen Volksquartier.

Treasury schreibt: «Die generalisierte Gewalt und die wachsende Kriminalität bewaffneter Banden werden von einem Justizsystem verstärkt, das die Verantwortlichen für die Angriffe auf Zivilpersonen nicht verfolgt.» Washington sagt nun explizit, was es bisher geleugnet oder verschwiegen hat: «Diese Banden unterdrücken mithilfe einiger Politiker die politische Dissidenz in den für ihre Teilnahme an den Anti-Regierungsdemonstrationen bekannten Quartieren von Port-au-Prince. Sie erhalten Geld, politische Unterstützung und genügend Waffen, um sie besser als die Police Nationale Haïtienne zu bewaffnen.»

Seit mindestens zwei Jahren weiss ganz Port-au-Prince Bescheid. Die «Macoutisierung» der Macht ist im Gang, wie der Schriftsteller Lyonel Trouillot mit Bezug auf die «Tontons Macoutes»-Milizen des Diktators Duvalier, die während seines ganzen Regimes für Terror sorgten, seit langem beklagt.

Die Sanktionenverlautbarung der USA erfolgte am 10. Dezember, dem Tag der Menschenrechte, der in Haiti auf speziellen Widerhall traf. Tausende gingen in verschiedenen Städten gegen die allgemeine Unsicherheit und die kriminellen Banden auf die Strasse.

In Port-au-Prince gab es «die Demonstration für das Leben», organisiert von ziemlich allem, was die Hauptstadt an Vereinen aufweist. Zwei Tage zuvor wandelten Tausende auch die Prozession der Unbefleckten Empfängnis in eine «Demonstration gegen die Unsicherheit, die Entführungen, die Angst und für die Hoffnung» um.

"Diese Angst, die uns in Haiti quält". Quelle: Ayibo Post.

 Denn nach den Massakern entwickelt sich jetzt ein neues Gewerbe, das der Entführungen. Die Gangs entführen die Leute und verlangen für sie dann ein Lösegeld oder ermorden sie. Letzten Donnerstag wurden zwei Männer im Stadtzentrum von Léogâne nahe der Hauptstadt entführt. Die Entführer fordern ein Lösegeld von einer Million Dollar. Sie trugen Polizeiuniformen und waren schwer bewaffnet. Die beiden Opfer waren arbeitslos, ihre Familien sind arm …

Am 1. November erschütterte die Ermordung der 22-jährigen Studentin Évelyne Sincère das Land. Sie war am 29. Oktober entführt worden, ihre Leiche wurde in einem Abfallhaufen gefunden. Die Familie hatte versucht, das Lösegeld aufzutreiben, doch die drei Entführer entschieden, sie zu töten. Vermutlich wurde sie vergewaltigt und danach unter Drogen gesetzt und mit einem Kopfkissen erstickt.

Am Sonntag, dem 6. Dezember, waren der Orchesterdirigent Dickens Princivil und die junge Frau Magdala Louis an der Reihe, von einem halben Dutzend Bewaffneter entführt zu werden. Sie kamen nach einer Erschiessungssimulation frei.

«Die G9, die wichtigste kriminelle Organisation im Land seit 1986, ist unter Anstiftung der jetzigen Regierung entstanden. Die G9 paradiert in den Strassen, entführt, mordet, plündert, vergewaltigt, bedroht Oppositionelle und hält sich bereit, um die nächsten Wahlen zugunsten der Präsidentenpartei PHTK zu drehen», schreibt Widlore Mérancourt. Der Chefredakteur des unabhängigen Portals Ayibo Post berichtet, wie er entführt und schlussendlich befreit wurde. Er fragt: «Was soll Vorsicht bedeuten, wenn die Behörden mit der Unterwelt und den Todesschwadronen beste Beziehungen unterhalten und sogar mit ihnen fusionieren?»

An diesem 10. Dezember, Tag der Demonstrationen für das Leben und der US-Verlautbarung, besammelten sich Dutzende von Personen, darunter Minister und Offizielle, vor der Kirche Christ-Roi zur nationalen Beerdigungsfeier von Gérard Gourgue. Dieser Anwalt hatte 1978 unter Duvalier die Haitische Menschenrechtsliga gegründet. An der Feier richtet sich der Erzbischof von Port-au-Prince, Max Leroy Mésidor, an die Macht: «Wir sind mit einer Vergiftung des gesellschaftlichen Lebens durch eine Zunahme von Entführungen, Kriminalität und Terror konfrontiert. Der Gründer der Ligue haïtienne des droits de l’homme hätte sich den katholischen Bischöfen angeschlossen, um «Nein» zu Chaos, Gewalt, Unsicherheit und Elend zu sagen. Wir haben genug davon. Zuviel ist zu viel.» Seit Monaten will die Kirche zwischen der Macht und den Oppositionsparteien vermitteln.

Eine andere Stimme ist zu hören, die von Marie Suzy Legros, Präsidentin der Anwaltskammer von Port-au-Prince. Ihr Vorgänger, Monferrier Dorval, der sich mit der Aussage, «Haiti wird weder geführt noch verwaltet», gegen Jovenel Moïse gewandt hatte, war am 28. August bei seinem Wohnsitz erschossen worden. Die Ermittlungen haben noch nichts ergeben. Vor den Ministern legte sich Marie Suzy Legros direkt mit dem Präsidenten an, als sie «tyrannische und freiheitstötende Texte in Vorbereitung» und das Projekt einer neuen Verfassung, «ein Verbrechen des Hochverrats, eine schwere Verletzung der demokratischen Ordnung, eine illegitime Usurpierung der Macht» anprangerte. Denn mitten im allgemeinen, von der Macht begünstigten Chaos kann Jovenel Moïse jetzt als Alleinherrscher regieren.

Seit Januar 2020 gibt es kein Parlament mehr, Wahlen wurden nicht organisiert. Jovenel Moïse regiert per Dekret. Er hat das Embryo einer stark an eine Präsidentenmiliz erinnernde Söldnerarmee geschaffen. Er hat gerade die Schaffung eines Nationalen Geheimdienstes dekretiert, der alle Anzeichen eines präsidialen Geheimdienstes aufweist. Er hat ebenso eine handverlesene Wahlbehörde für die kommenden Wahlen geschaffen. Und er kündet eine neue Verfassung an, deren Ausarbeitung in den Händen eines von ihm ernannten Gremiums liegt. Und vor allem hat er dem Rechnungshof einen Maulkorb angelegt, indem er ihn zwingt, binnen fünf Tagen Bescheide zu veröffentlichen, die nur noch konsultativen Charakter haben werden …

·        mediapart.fr, 12.12.20 : Un régime autoritaire soutenu par le crime s’installe en Haïti

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(zas) « Washington, Königsmacher und wichtigster politischer Akteur in Haiti, hat sich endlich entschlossen, etwas zu tun.» Dieser Satz mutet angesichts der US-Praxis in Haiti sehr skurril an. Nur ein Beispiel: Die Clique der PHTK kam durch eine brachiale Verfälschung von Wahlresultaten durch Washingtons Kolonialbehörde, die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS), überhaupt an die Regierungspfründe. Dessen ungeachtet, beleuchtet der Artikel des französischen Onlineportals Mediapart wichtige und beklemmende Tendenzen. Sie erinnern stark an Geschehnisse in El Salvador, Honduras, Kolumbien oder Brasilien, um nur Phänomene in Lateinamerika zu nennen. Warum Washington zu Haiti jetzt einen Warnschuss abgibt, wird noch zu analysieren sein.