(zas, 7.12.20) Noch rund 450 Überlebende der Shoa leben heute in der Schweiz. Ein einfühlsamer Artikel in der NZZ von heute («Sind die Nazis zurück?» – Der Lockdown ruft bei manchen Holocaust-Überlebenden traumatische Erinnerungen wach. Andere reagieren erstaunlich resilient) beleuchtet die Arbeit der Gamaraal-Stiftung, einer engagierten Familienstiftung, die jüdische Überlebende des Holocausts und andere überlebende Nazi-Verfolgte begleitet. Als die Pandemie begann, organisierten diese Leute eine Corona-Hotline. Sie haben viele Gespräche geführt, Wissen, Erfahrungen, Haltungen protokolliert.
Anita Winter und Tochter Alisa engagieren sich in der Gamaraal Foundation für Überlebende des Holocaust. Bild: NZZ.
Die Frage ist, wie gehen NS-Verfolgte mit der Pandemie um? Da ist die Geschichte der 88-jährigen Frau, die beim Lockdown immer fragte: „Warum dürfen wir nicht rausgehen? Sind die Nazis zurück? Müssen wir weggehen? Müssen wir uns verstecken?“ Wir erahnen auch anhand einiger Episoden aus dem Leben dieser Frau, was sie durchgemacht hat und wie das in dieser unverständlichen faktischen Ausgangsperre wieder hochkommt in ihr. Mich hat diese Fragestellung bewegt, ich hatte mir das nicht überlegt. Dramatisch natürlich, wer die NS-Verfolgung erdulden musste. Aber bestimmt auch dramatisch für Verwirrte, Menschen mit psychischen Problemen, MigrantInnen mit oft traumatisierenden Erfahrungen in einer fremden, verschlossenen Welt …
Aber da ist auch die Stärke vieler Überlebender, ihre Resilienz, Widerstandsfähigkeit. Man weiss davon seit langem. Wer das KZ überlebt hat, ist oft stark. Stellvertretend diese Aussage: «Wenn jemand den Holocaust überlebt hat, ist Corona nichts dagegen.»
Aber es gibt Parallelen zu heute. Pauline Voss, die den Artikel verfasste, schrieb:
«Dennoch weckt gerade die Todesgefahr durch das Virus alte Erinnerungen. Der potenzielle Mangel an Intensivkapazitäten und die damit verbundene Triage beschäftigt einige jener Überlebenden, die in Konzentrationslagern Selektion erlebt haben oder Abwägungsentscheidungen über Leben und Tod treffen mussten – etwa, wenn auf der Flucht nicht jeder mitgenommen werden konnte. Ein Überlebender aus dem Tessin erzählt der NZZ am Telefon von seinen Erfahrungen in Arbeitslagern, in denen er im Alter von siebzehn bis einundzwanzig Jahren inhaftiert war. Direkte Selektion, so betont er, habe er dort nicht erlebt. Doch wer krank geworden und länger als sieben Tage arbeitsunfähig gewesen sei, sei ins KZ Gross-Rosen deportiert und vergast worden. Umso empörter ist er, dass nun alte Menschen im Falle einer Überlastung des Gesundheitssystems keine Intensivbehandlung mehr bekommen sollen. ‘Ärzte sind da, um zu heilen. Man darf ihnen nicht die Entscheidung über Leben und Tod überlassen.’ Im Sommer hätte man die Zahl der Intensivbetten aufstocken müssen, findet er. ‘Alte Menschen werden nur noch als Bürde der Gesellschaft gesehen.’»
Wer den Faschismus erlebt hat, erkennt ihn auch im neuen Kleid. (Eine Bekannte, die in Pflegeheimen arbeitet, hat kürzlich den Begriff Eugenik zur Bezeichnung des offiziellen Umgangs mit den zu Pflegenden gebraucht.)
Shoah-Überlebende konnten oft Schulklassen von ihren Erfahrungen berichten. Jetzt leider nicht mehr:
«Während Bildungsveranstaltungen zum Holocaust abgesagt werden müssen, dringen antisemitische Verschwörungstheorien immer weiter in den Mainstream vor. In den Gesprächsmitschriften der Gamaraal-Stiftung kommt auch die Angst vor den gesellschaftlichen Folgen der Pandemie zum Ausdruck: ‘An der Spanischen Grippe sind so viele Leute gestorben, und dann kam eine wirtschaftliche Krise. Danach kam der Hitler, das war irgendwie eine Spätfolge. Hoffentlich kommt jetzt nicht so etwas.’»