(zas, 4.5.21) An diesem 1. Mai führte der regierende Clan um Präsident Nayib Bukele einen Selbstputsch mit unabsehbaren Folgen aus. An diesem Tag traten die letzten Februar gewählten ParlamentarierInnen (und Gemeinderegierungen) ihr Amt an. Die satte 2/-3-Mehrheit des Bukele-Lagers brauchte mit Support aus den beiden Rechtsparteien PCN und PDC genau eine Stunde, um die Verfassungskammer des Obersten Gerichts und den Generalstaatsanwalt abzusetzen und mit bedingungslos Bukele-genehmen Figuren zu ersetzen. Die Kammer habe, so das Argument, die Pandemiemassnahmen des Präsidenten sabotiert, der abgesetzte Generalstaatsanwalt Raúl Melara sei ein Mann von ARENA, der früher dominanten Rechtspartei. Das Vorgehen bedeutet eine weitere krasse Verletzung der Verfassung (das Parlament kann danach Mitglieder des Obersten Gerichts nur unter definierten kriminellen Umständen und nach gebührender Anhörung absetzen. Neue Mitglieder kann es aus einer Liste wählen, die vom Magistratur-Rat und den Anwaltskammern nach internen Wahlen erstellt wird.)
Kritik und Geopolitik
Die Regierungsclique hat dafür den Support von Armee und Polizei, einem signifikanten Teil der Bevölkerung und von oligarchischen Kapitalgruppen. Am Sonntag gab es eine erste Protestkundgebung mit ein paar hundert vor allem jungen Leuten, insbesondere aus den feministischen und LGBTI-Strömungen.
2. Mai- |
Eine lange Reihe von inländischen NGOs, Thinktanks, Berufsgremien, Academia-Strukturen, Menschenrechtsorganisationen u. a. stellten sich gegen den institutionellen Putsch. Aus dem westlichen Ausland hagelt es Kritik: US-Vizepräsidentin Kamala Harris, ihr Aussenminister Antony Blinken, EU-Aussenvertreter Josep Borrell, Amnesty, Human Rights Watch, die UNO-Menschenrechtskommissarin Michelle Bachelet, selbst der putschfreundliche OAS-Generalsekretär Luis Almagro und viele andere kritisieren die Verletzung der Gewaltenteilung. Bob Menendez, Vorsitzender des Foreign Relations Committe des US-Senats, und Patrick Leahy, Chef des zentralen Senate Appropiations Committee (Mittelverteilung), kamen zur Sache: «Wir raten der Administration Biden dringend, sich mit dem IWF zu verständigen und klarzustellen, dass US-Finanzhilfe für die Bukele-Regierung vom Respekt der Demokratie, der richterlichen Unabhängigkeit und der Gesetzestreue abhängen sollte.»
Das bezieht sich auf die laufenden Verhandlungen der Regierung mit dem IWF für einen Kredit um $ 1.3 – 1.5 Milliarden, um nur schon die Budgetlücke für dieses Jahr zu füllen. Die Zinsen für Staatanleihen stiegen wegen der jetzigen Unsicherheit in Sachen IWF-Kredit von rund 6 auf schätzungsweise 12 Prozent. Ohne eine solche, vom IWF an drakonische asoziale Bedingungen geknüpfte Finanzspritze riskiert der regierende Clan eine massive Verschärfung der eh schon schlimmen Wirtschaftslage mit der Perspektive eines rapiden Popularitätsverlusts. Falls allerdings China, das sich auf reine, allerdings kaum weniger harte Business- Bedingungen zu konzentrieren pflegt, einspringen würde, wäre Bukele dieses Problem vorerst los. Beim Massenbezug der letzten Zeit von chinesischen Covid-19-Impfstoffen gefiel es dem Trumpianer in Casa Presidencial, mit dem Image des Antiimperialisten zu kokettieren, genau so wie er sich seine Aspiration auf den Spitzenplatz in der Oligarchie als antioligarchische Linie verkaufen will.
Diese geopolitische Variante ist vorerst allerdings rein spekulativ. Jedenfalls gibt es nicht viele andere Erklärungsvarianten für die Forschheit Bukeles beim Abschmettern internationaler Kritik an seinem Putsch, wie er sie am 2. Mai auf Twitter manifestierte: «An unsere Freunde in der internationalen Gemeinschaft: (…) Mit allem Respekt: Wir putzen unser Haus … und dafür seid ihr nicht zuständig». Natürlich setzt er darauf, die Durststrecke bis zu den Midterm-Wahlen 2022 in den USA einigermassen unbeschädigt zu überstehen, um danach mit einem Biden als lame duck und der Hoffnung auf ein Comeback Trumps ohne relevante Behinderungen herrschen zu können. Doch auch dafür braucht er jetzt Finanzhilfe. Wir werden sehen, wieweit die IWF-Keule aus dem Senat blosse Drohkulisse ist. Bukele setzt offensichtlich darauf, dass für die USA die Eindämmung der Migration aus Zentralamerika prioritär ist, und sie diese nicht mit einer verschärften Wirtschaftskrise ankurbeln wollen.
Machtbesoffenheit
Nach dem Wahlsieg des regierenden Clans letzten Februar war klar, dass der Clan sein Regime massiv verschärfen werde. Kostprobe: Am 30. April gab der kürzlich ernannte Justizminister Gustavo Villatoro bekannt, die Migrationskontrolle angewiesen zu haben, auch mit Hilfe ausländischer Behörden die Reisebewegungen aller bisheriger BürgermeisterInnen und Abgeordneten zu verfolgen, um sie wegen Korruption belangen zu können. Da redete ein Mitglied einer Regierung, die die Polizei schon eingesetzt hat, um Untersuchungen ihrer Korruption zu unterbinden. Für die Massnahme bräuchte es von Rechts wegen eine straf- oder zivilrechtliche Untersuchung, keine Generalanschuldigung. Villatoro leitete unter den ARENA-Regierungen Ende der 90-er/Anfang der 00-er Jahre die von US-Personal kontrollierte Sonderabteilung gegen organisierte Kriminalität der Generalstaatsanwaltschaft; unter der Kleptokratenregierung von Tony Saca war er Chef der Zollbehörde und hat dabei vermutlich den Drogenimport protegiert. 2019 installierte ihn Bukele wieder auf diesem Posten, danach wurde er Chef der Bankenaufsichtsbehörde und jetzt obliegt ihm die lawfare, Krieg per Justiz. Der Mann war mit dem 2006 umgekommenen ARENA-Sicherheitschef Adolfo Torres befreundet gewesen, der dokumentiert im Drogendeal aktiv war und in San Salvador versucht hatte, den FMLN mit «schmutzigen Tricks» zu bekämpfen.
Selbstredend braucht auch Bukele keine Gesetze. Die Justiz rechnete kürzlich dem wegen Korruption verurteilten Ex-Präsidenten Tony Saca zwei Jahre Untersuchungshaft an seine Gefängnisstrafe an, was eine bedingte Entlassung in näherer Zukunft ermöglichen könnte. Am 30. April drohte Bukele: «Die Richter, die versuchen ihn [Saca] freizulassen, werden wegen Amtsmissbrauch verurteilt und eingesperrt werden.» Der Präsident als oberster Richter des Landes. Zu seinem engsten Umkreis gehören ironischerweise eine Reihe der wichtigsten Operateure von Tony Saca, darunter auch der jetzige Justizminister. Saca hatte in kleinerem Ausmass das versucht, was Bukele seit Tag 1 seiner Präsidentschaft macht: mit Staatsknete Oligarch werden.
Die fünf in die Kammer Gehievten stammen aus dem Bukele-Lager und haben sich mit Dingen hervorgetan wie als Richterin der US-kolumbianisch-salvadorianischen Fluggesellschaft Steuerbefreiung zu gewähren (Elsy Dueñas), in früheren Generalstaatsanwaltschaften manipulierte Korruptionsanklagen zu erheben (Nahum García), die Geheimhaltung aller Dokumente zum Massaker von El Mozote zu vertreten (Pérez Chacón) und anderes. Auch der neue Generalstaatsanwalt Rodolfo Delgado gehört zur Familie. Wie sein Chef, der Justizminister, war er in der US-dirigierten Sonderabteilung der Generalstaatsanwaltschaft für organisierte Kriminalität aktiv oder verteidigte den Polizeichef Arriaza vor einer Parlamentskommission zur Untersuchung von dessen Sabotage von Korruption im Pandemiezusammenhang. Letzten November will er als «Berater» der Staatsbank Banco Hipotecario Beweise für Veruntreuung von staatlichen Geldern durch den FMLN-Staatspräsidenten Salvador Sánchez Cerén (2014-2019) gefunden haben. Am 3. Mai gab er eine Pressekonferenz (nur vor Bukele-Medien, Courant normal bei der Regierung). Er machte dabei schon ohne Worte deutlich, woher der Wind jetzt weht: Umgeben von den führenden Polizeioffizieren (viele aus den alten Armeekräften, mehrere 2009 von der externen Polizeiinspektorin Zaira Navas wegen mutmasslicher Komplizenschaft mit Drogendealern u. a. suspendiert, danach aber von der rechten Justiz wieder in ihre Positionen zurückgeholt) betonte er, dass nun das «Binom» Polizei/Staatsanwaltschaft vom gleichen geist beseelt seien (also keine Untersuchungen mehr wie jene an der Vorwahl-Ermordung zweier FMLN-Mitglieder auf offener Strasse durch Beamte des Sicherheitsapparates, die von der Polizei sabotiert werden «mussten»).
Das "Binom" an der Pressekonferenz. Foto: La Prensa Gráfica. |
Erpressung
Als Am 2. Mai hatte die Verfassungskammer ihren Sturz als verfassungswidrig abgelehnt. Doch schon am folgenden Tag tauchte das erste Kündigungsschreiben eines der Weggeputzten auf. Vor dem Haus des bisherigen, eventuell untergetauchten Kammerpräsidenten wurde die Polizei stationiert. Jetzt haben alle Mitglieder der alten Kammer und der Generalstaatsanwalt mit beinahe identischen Formulierungen ihre Kündigungsschreiben in den Social Media veröffentlicht. Sie wiesen die erhobenen Anschuldigungen zurück, führten aber (neben der Unmöglichkeit, unter den gegebenen Bedingungen ihres Amtes zu walten) familiäre Gründe als Motiv für die Kündigung an. Einer der Kammermitglieder detaillierte dies mit dem Verweis, den Behörden sei die schwere Krankheit seiner (hospitalisierten) Tochter bekannt. Das erinnert an die Rücktrittswelle führender RegierungsfunktionärInnen in Bolivien nach dem Putsch 2019, die so ihre bedrohten Angehörigen retteten. Das mag in diesem Fall anders sein. Aber in den letzten Monaten dokumentierten einige Medien (vor allem El Faro), wie exilierte venezolanische PutschistInnen aus der Entourage von Juan Guaidó in Bukeles «Pandemiebekämpfung», also militarisiertem Notstand, oder bei der Organisation und Planung des letzten Wahlkampfes mit seinen krassen Gesetzesverletzungen und umfassenden Stimmenkäufen entscheidende Rollen innehatten. Wir haben es wahrscheinlich mit einem von Washington (insbesondere dem Trumpschen) organisierten Politsöldnertum zu tun.
Abschaffung der Friedensabkommen
Was bedeutet die neue Putschphase? Zum Beispiel dies: Verabschiedung beliebig variierter verfassungsfeindlicher Gesetze, null Habeas Corpus für politisch Verfolgte (Sicherheitsminister Villatoro kündigte schon eine umfassende «Revision» des Strafgesetzes und der Strafprozessordnung an). Ohnehin wohl nur eine Frage der kurzen Zeit ist die «Säuberung» weiterer staatlicher Instanzen von ungehorsamen FunktionärInnen (Rechnungshof, Menschenrecht-Ombudsstelle, Wahlbehörde, Gerichte u. v. m.). Lawfare im grossen Stil gegen oppositionelle Führungsfiguren vor allem, aber nicht nur, des FMLN.
Gestern gab der für den FMLN gewählte Bürgermeister von Guaymango seinen Übertritt ins Bukele-Lager bekannt. Der Typ führte als Begründung an, nur so könne die Gemeindeverwaltung etwas für die BürgermeisterInnen tun. Kontext: Anfang April hatte Bukele auch im Zeichen einer faktischen Austeritätspolitik angekündigt, den Gemeindefonds Fodes von 10 Prozent der Steuereinnahmen auf 6 Prozent zu kürzen, wobei davon über 2/3 nur für von der Zentralregierung bewilligte Vorhaben ausgegeben werden dürfen. Ade Gemeindeautonomie, wie sie seit Ende des Bürgerkriegs langsam durchgesetzt werden konnte. (Während 10 Monaten hatte sich die Regierung geweigert, den Gemeinden auch nur einen Cent abzudrücken, was vor allem kleinere Kommunen lahmlegte. Dafür will sie jetzt die «kriminelle» Verschuldung oppositioneller Gemeindeverwaltungen «untersuchen»).
Ein dramatischer Aspekt des institutionellen Putsches ist die offene Rückkehr zu Verhältnissen der 70-er und 80-er Jahre. Damals urteilte das Oberste Gericht unfehlbar im Sinn der Militärdiktatur. Die UNO-Wahrheitskommission hielt nach dem Bürgerkrieg nicht vergebens fest, dass es dafür verantwortlich war, dass von den 6000 zum Verschwinden gebrachten linken AktivistInnen keine Spur in den Unterlagen des Justizsystems zu finden war. Jetzt ist Oberste das Gericht wieder Teil der Exekutive. Verfahren wie die Untersuchung des Massakers von El Mozote (1000 Ermordete 1981 in einer ländlichen Gegend) werden bald der Vergangenheit angehören oder pervers manipuliert sein.
Bukele bezeichnet die Friedensabkommen von 1992 seit langem als Deal zwischen zwei Mafias zur Unterdrückung des Volkes, das zu befreien seine Mission sei. Als der Vertreter des venezolanischen Putschismus in Washington, Julio Borges, zwecks guten Wetters in der Administration Biden zu den aktuellen Vorgängen meinte, Diktatur sei Diktatur, weder links noch rechts, konterte Bukele, Borges sei wie Maduro, und: «In El Salvador kostete uns die Befreiung vom Regime 30 Jahre. Wir werden jetzt nicht nachgeben.» Befreiung … von den Friedensabkommen.
Zum Widerstand
Zurzeit zirkulieren neue Aufrufe zu Protesten auf der Strasse (auch einer eines breiten 1. Mai-Bündnisses von sozialen Organisationen aus dem FMLN-Umfeld). Möglich, dass da eine neue Bewegung entsteht. Getragen von Leuten, deren politische Sozialisierung in der zehnjährigen Regierungszeit des FMLN erfolgt war, mit wenig Repressionserfahrung, aber frischem Mut. Viele im Land scheinen die Notwendigkeit eines breiten antifaschistischen Bündnisses zu befürworten. Gegen die kommende Repressionswelle wird es einen langen Atem brauchen. Umso schmerzhafter, dass im FMLN eine Businessfraktion, die sich eines marxistisch-leninistischen Vokabulars bedient, bisher auf eine «Versöhnung» mit Bukele gesetzt hat, der so gezwungen werden solle, die Kosten der Krise auf die Oligarchie, nicht das Volk, abzuwälzen. Doch diese in den formellen Strukturen derzeit dominierenden Apparatschiks sind nicht der FMLN. Das sind viel mehr jene, die sich an den Mobilisierungen beteiligen, die sich gegen Entlassungen im Staatsapparat wehren, die in den Dörfern den Widerstand gegen eine langsam wieder wie früher operierende Soldateska versuchen, genau so wie gegen die erdrückende Bedrohung durch die Maras, ein weiteres Faustpfand in der Hand des Regimes. Vorerst gilt: kleine Brötchen backen. An die Proteste gehen, mit den Nachbarn diskutieren. Der neue Faschismus, so sagen viele Compas, fällt, wenn die Leute dank zäher Kommunikation die Augen öffnen.
2. Mai: "Ein Faschist löscht unser Gedächtnis nicht aus" |