Konzerne erhalten Zugriff auf indigenes Land in Brasilien

Mittwoch, 23. März 2022

 https://amerika21.de/2022/03/257290/brasilien-bergbau-indigenes-land


 

Neues Gesetz erlaubt Bergbau und Wasserkraft in indigenen Territorien. Ukraine-Krieg als Vorwand für beschleunigtes Verfahren. Massive Proteste gegen Raub indigenen Landes und drohende Umweltzerstörung

Protestkundgebung vor dem Kongress während der Debatte
Protestkundgebung vor dem Kongress während der Debatte

Brasília. Die Abgeordnetenkammer in Brasilien hat trotz massiver Proteste die dringliche Behandlung des umstrittenen Gesetzentwurfs PL 191/2020 gebilligt, der den Bergbau auf indigenem Land erlauben soll.

Mit dem Gesetz sollen Teile der Verfassung neu geregelt werden, um die Bedingungen für die Erforschung und Ausbeutung von Erdöl-, Gas- und Kohlenvorkommen sowie für die Nutzung von Wasserressourcen zur Stromerzeugung auf indigenem Land festzulegen.

Der von Präsident Jair Bolsonaros Regierungspartei eingebrachte Antrag wurde mit 279 Ja- gegen 190 Nein-Stimmen angenommen.

Die "Dringlichkeitsregelung" ermöglicht es, dass der Text ohne die üblichen Bearbeitungsphasen binnen 30 Tagen vom Plenum direkt beschlossen werden kann.

Gegen das Gesetz gibt es massive Proteste. Im Plenum prangerten oppositionelle Abgeordnete die gravierenden Auswirkungen des Vorhabens an. Auch kritisierten sie, wie es durchgepeitscht wird, ohne die Ausschüsse zu passieren und noch bevor die Arbeitsgruppen den Vorschlag analysiert hätten.

Im Juni 2021 hatte sogar das Bundesministerium für öffentliche Angelegenheiten das PL 191 als verfassungswidrig bezeichnet.

Vor dem Kongressgebäude in Brasília fand während der Debatte eine große Demonstration statt. Indigene Gemeinschaften, soziale Bewegungen und Gewerkschaften sowie Künstler:innen versammelten sich zu Tausenden zum "Akt für die Erde", um gegen die verschiedenen Gesetzesprojekte zu protestieren, die derzeit im Parlament diskutiert werden.

Sie übergaben Senatspräsident Rodrigo Pacheco ein Manifest, in dem sie die Abschaffung des "Zerstörungspakets" fordern, das die Umwelt und das Überleben der indigenen Völker, der Quilombolas und der Flussbewohner:innen bedrohe.

Dieses Gesetzespaket umfasst neben dem PL 191 weitere Normen, um die Regeln für Umweltlizenzen zu lockern. Zwei weitere Gesetze sollen die Aneignung von öffentlichem Land erleichtern. Das PL 490 soll festlegen, dass eine Demarkierung nur noch erlaubt ist, wenn indigene Gemeinschaften nachweisen können, dass sie das Land bereits zum Zeitpunkt der Verabschiedung der Bundesverfassung 1988 bewohnten. Hinzu kommt PL 6.299, um das geltende Pestizidgesetz aufzuheben.

PL 191/20 gehört zu den Prioritäten der Regierung, die 2022 im Kongress verabschiedet werden sollen. Das Gesetz gibt alle Arten der Ausbeutung auf indigenem Land sowie den Bau von Staudämmen, Landwirtschaft und Viehzucht und Tourismus frei.

Das Vorhaben verstößt laut Kritiker:innen gegen die Verfassung und die Konvention 169 der Internationalen Arbeitsorganisation zum Schutz Indigener Völker, die Brasilien unterzeichnet hat.

In dem Manifest heißt es, dass Indigene und ihr Land seit 522 Jahren vergewaltigt werden, um Erze, Diamanten, Gold und jetzt Kalium zu plündern. Aktuell geschehe dies mit der Ausrede, dass wegen des Ukraine-Kriegs kein Dünger für die Agrarindustrie mehr geliefert werden könne.

Sonia Guajarara von der Vereinigung der indigenen Völker Brasiliens sagte bei der Übergabe des Manifests, die Indigenen wüssten, dass es im Süden und Südosten des Landes Kali gebe, aber der Bergbau solle legalisiert werden, damit im Amazonasgebiet "weiteres indigenes Land geraubt und Blut vergossen werden kann".

Aufgrund der Sanktionen, die gegen die Russische Föderation verhängt wurden, hat Brasilien derzeit Schwierigkeiten beim Import landwirtschaftlicher Betriebsmittel wie Mineraldünger. Bolsonaro nutze nun den Ukraine-Krieg als Vorwand, um die Dringlichkeit von PL 191 im Parlament durchzusetzen und rasch den Bergbau in indigenen Gebieten zu autorisieren, so das Manifest.

Der Staatschef erklärte, das Gesetz solle Brasiliens Abhängigkeit von Düngemittelimporten aus Ländern wie Russland und Weißrussland beenden, da große Kalivorkommen auf einheimischem Boden vorhanden seien. Er bezeichnete es als "guten Ausweg" aus der Beschaffungskrise, indem indigenes Land "entsprechend den Interessen der einheimischen Bevölkerung" genutzt werden dürfe, um Erze abzubauen, Staudämme und Wasserkraftwerke zu bauen.

Kritiker:innen weisen jedoch darauf hin, dass der Bergbau auf indigenem Land schwerwiegende Auswirkungen auf die Gesundheit und das Überleben der Gemeinschaften hätte und die Umwelt zerstöre. Die Gemeinden hätten nicht einmal das Recht, gegen Bergbauaktivitäten und den Bau von Wasserkraftwerken Einspruch zu erheben.

Eine von der Bundesuniversität von Minas Gerais durchgeführte Untersuchung belegt zudem, dass die meisten Kalivorkommen außerhalb der indigenen Territorien liegen, im Amazonasbecken finden sich nur elf Prozent der Gesamtmenge. Brasiliens Kaliumchlorid-Vorkommen würden bis zum Jahr 2100 reichen, ohne dass ein Antasten indigener Ländereien notwendig sei, so die Forscher.

Indigene und Umweltorganisationen werfen der Regierung daher vor, die Folgen des Ukraine-Kriegs zu missbrauchen, um ihren Krieg gegen indigene Völker voranzutreiben. Sie prangern auch die Interessen der Bergbaufirmen und der Agrarindustrie an, die noch weiter auf indigenes Land vordringen wollen.

Für die indigene Kunã Yporã (Raquel Tremembé), Mitglied des Nationalen Exekutivkomitees der CSP-Conlutas und der Nationalen Vereinigung der indigenen Kriegerinnen der Vorfahren, ist die Verabschiedung des Dringlichkeitsprozederes für PL 191 ein Affront: Kritik, Unzufriedenheit und demokratische Proteste gegen diesen einschneidenden und verfassungswidrigen Vorschlag würden ignoriert. Mit einem "Camp zur Befreiung der Erde" vom 4. bis 8. April werde man jedoch weiterhin mobilisiert und organisiert gegen jede Art von Rückschlag bei indigenen Rechten vorgehen.

Kolumbien: Das IKRK im Zwielicht

Sonntag, 20. März 2022

 
 
(zas, 20.3.22) Die kolumbianische ELN-Guerilla veröffentlichte am 16. März d. J. schwerwiegendeVorwürfe gegen das IKRK Kolumbien. Hier ihr Schreiben an das IKRK:

 

 

März 2022

Freundlichen Gruss.

Wir dachten, das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) sei definiert als «eine unparteiische, neutrale und unabhängige Organisation mit der ausschliesslich humanitären Mission, Leben und Würde der Opfer von Krieg und interner Gewalt zu schützen».  Aber leider ändern sein Handeln und die neuen Definitionen, die es angenommen hat, seine Natur und damit seine Rolle in internen Konflikten wie im Fall von Kolumbien substantiell.

Seit über zwei Jahrzehnten gab es eine Koordination mit dem IKRK, um humanitäre Aktionen wie die Freilassung von Festgehaltenen und Kriegsgefangenen voranzubringen. In diesem Sinn schrieben wir Ihnen am 16. Januar:

«Hiermit teilen wir Ihnen mit, dass Guerillaeinheiten der Kriegsfront Darío Ramírez Castro die Sergeantin Dariana del Carmen Mora Beleño vom kolumbianischen Heer mit der ID-Nummer 3'091'350'078 aus Cúcuta, geboren am 12. Juli 1998, gefangen genommen haben. Sie gibt an, für geheimdienstliche Erkundigungen in unsere Operationszone geschickt worden zu sein. Um ihre formelle Übergabe via IKRK zu bewerkstelligen, müssen Sie uns über die Armeeeinheit dieser Person und ihre direkte Befehlskette informieren, so dass anschliessend die Schritte zu ihrer Freilassung als humanitäre Geste in Gang gebracht werden können. Wir verbleiben in Erwartung Ihrer Antwort. Leitung der Kriegsfront Darío Castro.»

Erst Mitte Februar erhielten wir von Ihnen eine verbale Antwort, die in der Sie Ihre sehr speziellen Ansichten zur Charakterisierung des kolumbianischen Konflikts darlegten, anders als es mit dem IKRK unter früheren Führungen der Fall war.

Mit der neuen Charakterisierung des kolumbianischen Konflikts anerkennt das IKRK politisch den Clan del Golfo[1], negiert die Existenz politischer Gefangener in Kolumbien und modifiziert sein Prozedere bei Gefangenendienstleistungen.

Das IKRK sagt, nicht über Dispositive für medizinische Hilfe zu verfügen, wurde aber bei der Pflege von verletzten Paramilitärs im Chocó ertappt; es weigert sich, Schritte zur Identifizierung der Kriegsgefangenen zu machen, zu verifizieren, ob sie bei Polizei oder Armee Mitglied sind, um, wie es das Internationale Humanitäre  Recht vorsieht, so ihre verantwortliche Befehlskette zu festzustellen; es weigert sich, diese stipulierte Funktion zu erfüllen und gibt sich dazu her, freigelassene Kriegsgefangene als «Entführte» darzustellen. Es spielt so das Spiel in die Hände der kolumbianischen Regierung, also unserer Gegenseite im Konflikt.  

Über das IKRK haben wir weiter mehrere Minderjährige freigelassen, die von der kolumbianischen Armee zwecks Spionage in unsere Guerillaeinheiten eingeschleust worden waren, aber das IKRK hat sich geweigert, öffentlich den humanitären Charakter dieser Freilassungen und der Rolle der Freigelassenen darzustellen. Es hat sich dafür hergegeben, diese als «von der Guerilla rekrutiere Minderjährige» erscheinen zu lassen, während diese Minderjährigen ab 8 oder 9 Jahren in Tat und Wahrheit von Regierungsstreitkräften für Geheimdienstaufgaben rekrutiert worden waren. Am schwerwiegendsten ist jedoch, dass das IKRK nichts zu dieser Praxis sagt, als ob sie normal wäre oder das IKRK sie deckte.

Das Vorgängige bedeutet, dass das IKRK aufgehört hat, eine neutrale und unabhängige Instanz zu sein, und Partei für eine Seite ergreift. Es hat sich so für eine humanitäre Rolle disqualifiziert.

Dirección Nacional

Ejército de Liberación Nacional



[1] A. d. Ü.: Paramilitärische Narcoformation, auch bekannt als Los Urabeños oder Autodefensas Gaitanistas de Colombia.

Kolumbien und die NATO-Süderweiterung

 

(zas, 19.3.22) Letzten 13. März fanden in Kolumbien Parlamentswahlen und gleichzeitig Primärwahlen zur Kür der matchentscheidenden Präsidentschaftskandidaturen der drei grossen Koalitionsblöcke statt. Im progressiven Pacto Histórico gewann wie erwartet Gustavo Petro die Präsidentschaftskandidatur mit 4.5 Millionen Stimmen vor der afrokolumbianischen Sozialkämpferin Francia Márquez (800'000 Stimmen), was diese an sich zur Kandidatin für die Vizepräsidentschaft machte, wäre da nicht der Rassismus. Scheinbar denken viele im progressiven Lager, resigniert oder eifrig, mit einer Schwarzen als Vize seien die Wahlen verloren. Andere warnen, eine Brüskierung der Compañera würde als Verrat an der Sache des Feminismus und Antirassismus verstanden werden und zu einem beträchtlichen Wahlboykott und damit zur sicheren Niederlage führen.  So oder so, um die Präsidentschaftswahlen im 1. Durchgang zu gewinnen, bräuchte Petro wohl rund 10 Millionen Stimmen – jetzt hat der Pacto Histórico 5.7 Millionen gemacht. Bei einer Stichwahl stünden die Chancen auf einen Sieg schlecht, da sich dann rechts alles von der sogenannten Mitte bis zum Faschismus des Ex-Präsidenten Álvaro Uribe gegen «den Kommunismus» zusammentun würde.

13. März: Gustavo Petro und Francia Márquez
 

Der Pacto verdoppelte in den Primärwahlen seine Stimmenzahl, die mehr als jene des «Zentrums» und der Ultras zusammen beträgt. Die offiziellen Zahlen für die Parlamentswahlen zeigen eine deutlich weniger markante Polarisierung zwischen links und rechts. Uribes eigene Partei, der Centro Democrático, geriet deutlich ins Hintertreffen, allerdings soll der Ex-Präsident faktisch den «zentristischen» Federico Gutiérrez favorisiert haben, der aus den Primärwahlen als klarer Favorit des «Anti-Petronismo» hervorging. Während seiner Amtszeit als Bürgermeister von Medellín tat sich Gutiérrez u. a. mit einer Cyberschmutzkampagne gegen Oppositionelle und mit der Nähe zur Oficina de Envigado hervor, einer Organisation, die aus dem kriminellen Auftragskillertum und dem Kartell von Medellín hervorgegangen war.  Petro hatte am 14. März denunziert, dass in rund einem Viertel der Urnen Pacto-Stimmen nicht gezählt worden seien. Bei der laufenden Nachzählung verbessert sich anscheinend die Parlamentsposition des progressiven Lagers. 

......

Am 10. März war der kolumbianische Präsident Iván Duque, unter dem das Ermorden von SozialkämpferInnen und linken Oppositionellen explodiert ist, zu Gast im Weissen Haus. Beim gemeinsamen Presseauftritt sagte Biden:

«Welcome, folks. Ich bin geehrt, heute Präsident Duque hier willkommen zu heissen. Er ist mein Freund. Wir kennen uns seit langem. Und wie Sie wissen, Herr Präsident, ich bin seit langem stark engagiert in der Beziehung mit Kolumbien, das geht mehr als 20 Jahre auf diesen alten Plan Colombia zurück (…) Ich bin stolz, dass wir haben zusammenarbeiten können und weiter das gestärkt haben, was ich als die unverzichtbare Partnerschaft in dieser Hemisphäre betrachte. Kolumbien ist die Achse in der ganzen Hemisphäre, Norden und Süden. Ich meine das wirklich.»

«Heute rufe ich zu einem neuen Rahmen auf, in dem die Nationen der Region kollektiv die Migration managen (…) Unser Ziel ist, im Juni in Los Angeles, wenn die USA den Amerikas-Gipfel ausrichten, eine regionale Erklärung zu Migration und Schutz zu unterschreiben.»

Das mit dem Schutz ist schön. In seiner Wahlkampagne hatte Biden versprochen, die infame Remain in Mexico-Politik Trumps abzuschaffen. Nach der Wahl fiel ihm dann ein, dass das Corona-Virus zirkuliert, weshalb die Trump-Politik gegen MigrantInnen weiter in Kraft ist – noch verschärft. In Los Angeles geht es um

«weit grössere Unterstützung für Länder wie Kolumbien, die den Löwenanteil an Flüchtlingen und MigrantInnen bewältigen. Das ist eine Verpflichtung für uns alle, nicht nur Kolumbien.»

Migration, Flucht – ein Thema der Sicherheit, weiss Biden: 

«Und wir werden unsere seit langem bestehenden Sicherheitsarrangements zur Bekämpfung der transnationalen kriminellen Aktivitäten in dieser Hemisphäre verstärken. Ich bin stolz darauf, heute mitzuteilen, dass ich beabsichtige, Kolumbien zu einem Major Non-NATO-Alliierten zu erklären, denn genau das seid ihr: ein Major Non-NATO-Alliierter.»

Zwei Kumpels.

 Nach dem Treffen mit Biden feierte Duque in einem Interview mit dem kolumbianischen Medium Semana als Resultat der verstärkten Beziehungen «eine neue Phase dessen, was seinerzeit der Plan Colombia war – der binationale Plan Bicentenario Colombia–Estados Unidos». Biden konnte es auch am Treffen nicht unterlassen, mit seiner Rolle bei der Ausarbeitung des Plan Colombia zu bluffen, der angeblich der Drogenbekämpfung dienen sollte, das natürlich nicht tat – im Gegenteil – dafür als Blaupause für den unter Uribe eskalierenden Staatsterrorismus fungierte. In ihrer gemeinsamen Erklärung übten sich die beiden mit «Angaben» zu den Zielen dieses Plan Colombia II wie Drogen-«Prävention, Behandlung (…) Angebotsreduktion illegaler Drogen (…) Sicherheit und Entwicklung auf dem Land (… Friedensumsetzung und Versöhnungsprogramme» in gewohnten, deswegen nicht weniger unerträglichem Zynismus.

Wikipedia zählt unter dem Begriff des Wichtigen Nicht-NATO-Alliierten viele «Vergünstigungen» für diese Länder, die hauptsächlich mit mehr Zugang zu US-Rüstungsindustrie und militärischer Ausbildung oder Kreditverwendung für militärische Zwecke zu tun haben. Kolumbien hat nun diesen Status, den in Lateinamerika schon Argentinien und Brasilien haben. Kolumbien ist zudem seit 2017 als erstes Land in Lateinamerika offizieller Globaler NATO-Partner (2021 folgte Bolsonaros Brasilien), unter anderem, laut der zitierten NATO-Quelle, zum «Schutz von Kindern und Zivilpersonen in bewaffneten Konflikten». Zur Einordnung dieser Äusserung ein Zitat aus einem amerika21-Artikel zum Bericht der internationalen Untersuchungskommission SOS Colombia über die Repression gegen die Demonstrationen letztes Jahr: Ihre «Recherche ergab, dass die Polizei während der Demonstrationen die gleichen Mittel anwendete wie für die Bekämpfung bewaffneter Gruppen (…) Zeugenaussagen und Berichten zufolge wurden die Opfer inmitten der Proteste oft willkürlich festgenommen und ‘verschwanden’. Viele von ihnen wurden Tage oder Monate später tot aufgefunden.»

Am Tag vor dem Präsidententreffen reichten die demokratischen Senatoren Bob Meléndez und Tim Kaine im US-Senat das mutmasslich bald verabschiedete Gesetzesprojekt US-Colombia Strategic Partnership Act of 2022 ein. Es verdeutlicht, was mit dem Plan Colombia II kommen soll. Unter dem Titel Strengthening Security Cooperation wird ein Sicherheitskonsultativkomitee USA-Kolumbien postuliert, das sich in den Bereichen «Antiterrorismus und Aufstandsbekämpfung, Bekämpfung des Drogenhandels und anderer illegaler Handelsformen, Cyberverteidigung und Cyberverbrechen, Grenz- und Meeressicherheit und Luftverteidigung und Stabilisierung» engagieren soll. «Die US-Aussen- und Verteidigungsminister werden [das Komitee] spätestens 180 Tage nach Inkrafttreten dieses Gesetzes installieren, das die Regierung von Kolumbien einbezieht, um gemeinsam eine Strategie zu für die Stärkung der der kolumbianischen Institutionen für Nationale Sicherheit und Verteidigung zu entwickeln». Man kann nicht sagen, die Formulierung deute auf speziell intensive Verrenkungsübungen im Kontext des anlässlich der Ukraine entflammten Enthusiasmus für die nationale Souveränität anderer Staaten als der USA hin. Dafür soll das Komitee, dem je nach Arbeitsthema verschiedene US-Dienste integriert werden, herausfinden, was «böswillige staatliche Akteure in der Andenregion», primär Venezuela, die wieder bewaffneten FARC-Gruppen, die Guerilla des «ELN, das Golfkartell und andere kriminelle kolumbianische Gruppen» machen. Das Komitee ist zu regelmässiger Berichterstattung vor den verschiedenen zuständigen US-Senatsausschüssen verpflichtet.

Die NATO wird auch in dieser Region vermehrt «Verteidigungsbereitschaft» an den Tag legen, auch gegen das «böswillige» Agieren Chinas. Der neue Plan Kolumbien kündigt neues Blutvergiessen an.

Ukraine: «Die einfachen Leute plagen»

Freitag, 18. März 2022

 

(zas, 17.3.22) Lassen wir den Aspekt der abgrundtiefen Heuchelei seitens des gewohnheitsmässig kriegführenden westlichen Lagers beiseite, fragen wir uns etwa auch nicht, welcher Horror hinter dem wachsenden Ruf nach einer «Flugverbotszone» über der Ukraine steht. Versuchen wir also kurz nicht, das zusammen zu denken, was zwar zusammengehört, aber wo das Denken meistens damit endet, das eine mit dem anderen zu erschlagen: die «geopolitische» Dimension und die gesellschaftliche, die eng verbunden ist mit der Frage: Wie geht’s denn Leuten? Hier nur zwei Tipps zum zweiten genannten Thema, einer zum Lesen, der andere zum Hören.

Vorm bald sechs Jahren, schrieb ein Aktivist aus der früheren Redaktion der autonomen «Materialien – Für einen neuen Antiimperialismus» ein Papier mit dem Titel «Eurasismus in Russland». Zum Eurasismus, ein Begriff für eine in Russland propagierte Ideologie, die sich auf eine ultrareaktionär verstandene Verbindung von Europa und Asien als Gegenpol zum «dekadenten» US-dominierten Westen bezieht, schreibt der Autor einleitend:

«Die geopolitische Theorie und Strategie des Eurasismus dient den herrschenden Kreisen Russlands als neue Klammer für die verloren gegangene Identität als Heimatland aller Werktätigen unter der Regie der KPdSU. Um der innen- und sozialpolitischen Dauerkrise auf dem Hintergrund mangelnder Arbeitsproduktivität der Bevölkerung etwas entgegenzusetzen, wird auf sprachliche Einheit und Konservatismus wie im kolonialen Zarenreich gesetzt. Mit dem völkischen Ansatz des Eurasismus unterstützt Russland rechtsradikale Parteien im Westen, um statt von links nun von rechts Bündnispartner für die Wiederherstellung alter Größe zu gewinnen.»

Die Kernthese des Papiers ist, dass das heutige Russland in der Tradition des Zarenreichs und der Sowjetunion unfähig sei, zu den im Westen realisierten Durchbrüchen zu neuen Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnissen, um bisherigen Widerstand von unten brechen oder aufsaugen zu können («schöpferische Zerstörung»), aufzuschliessen. Stattdessen versuchten die Eliten (bzw. ein Teil von ihnen), die Unterklassen mit einem Teil der Öl- und Gasgewinne und einer Wiederaufnahme alter, ultrareaktionärer Ideologie bis hin zum «nationalen Krieg» bei der Stange zu halten. Der Krieg als Lösung für eine gesellschaftliche Blockade also.

Die Lektüre des Papiers hilft vielleicht, grundlegende Dynamiken der heutigen schlimmen Situation besser zu begreifen.

Für viele Linke wird es auch als «antikommunistischer» Brechreiz dienen, da es die staatsbolschewistische Geschichte in guter anarchistischer Tradition als Teil einer brutalen Herrschaftsgeschichte charakterisiert. Nun, es gab die Gulags, die Schauprozesse, die Psychiatrisierung von Opposition, die jahrelangen Offensiven für die Taylorisierung unter Lenin und Trotzki. Es gab Lenins faktische Feindeserklärung an die Bäuerinnen und Bauern, die er als «Kosaken» denunzierte. Vergessen wir nicht, dass die Sowjets 1932/33 die Ukraine, wichtigste Kornkammer des Landes, derart ausplünderten, dass offenbar allein dort 4.5 Millionen BäuerInnen, denen ihr Saatgut geraubt wurde, verhungerten.

Den jahrzehntelangen NATO-Aufmarsch an den russischen Grenzen behandelt der Autor als irrelevant angesichts der zentralen gesellschaftlichen Blockadesituation, die die herrschenden Kreise zum Mittel des Kriegs als «Lösung» greifen lasse:

«Mit der Aufputschung im aktuellen Kriegskurs werden die rückwärtsgewandten Strukturen des gewandelten, aber in Kontinuität stehenden Machtkomplexes gestärkt, in klassischer Weise wird von einem ‘gefährlichen’ zivilgesellschaftlichen Aufbruch nach westlichem Muster für Innovationen aller Art abgelenkt. Als Wachstumsmotor wird stattdessen der rüstungsindustrielle Komplex massiv gefördert. Nun ist aber die Arbeitsproduktivität in Russland die niedrigste in Europa, sie liegt 30 Prozent unter dem westeuropäischen Durchschnitt. Russland hat damit aus kapitalistischer Sicht ein enormes „Griechenland-Problem“, also überholte, unproduktive Ressourcennutzung und -verteilung plus Korruption. Deswegen überzeugt die Erklärung der geopolitischen Lage durch die Traditionslinke mit dem Abheben auf militärische Einkreisung nicht. Es gibt eine Einkreisung, aber eine andere: eine Bedrohungslage durch den uneinholbaren Vorsprung westlicher Sozialtechnologie, kapitalistischer Innovationen und Restrukturierungsangriffe in der Wirtschaft, der das russische Machtzentrum eine neue Kalte-Kriegs-Ökonomie entgegengesetzt.»

Das ist eindeutig zu kurz gegriffen, aber ändert nichts daran, dass wir, Linke, versuchen müssen, nicht allein «geostrategisch» zu argumentieren (oder gleich zu phantasieren).

******

«Tan lejos de Dios, tan cerca de Estados Unidos” – So weit von Gott, so nah von den USA. Ein Klagemotiv, das in Mexiko jede/r kennt. Im Gespräch betonte der Verfasser des Papiers, natürlich sei es für uns Linke mit Anti-NATO-Tradition schwierig, die «westlich gedrehte» Bewegung in der Ukraine zu begrüssen.

In jenen riesigen Teilen der Welt, die direkt unter dem westlichen Terror leiden, haben Viele – auch Linke – den Reflex, Putin zu unterstützen. Man kann hier überheblich grinsen und nicht kapieren, dass dahinter auch die Hoffnung steht, jemand möge den Washingtoner Terror endlich beenden.

Nun, vielleicht sagt man in Georgien, in der Ukraine: So weit von Gott, so nah von Russland.

******

Wollte Moskau gegen den Faschismus vorgehen, müsste es nicht die Ukraine bombardieren. Es hätte dagegen gereicht, sich vom grossrussischen Faschismus des Eurasismus abzuwenden. Der Dank wäre gewiss.

******

Noch ein Hinweis auf eine Radiosendung von SRF, die – das gibt es – für ein Mal nicht plattes Runterspulen der westlichen Propaganda ist, sondern dich sehr nachdenklich zurücklässt. Der ukrainisch-russische Schriftsteller Andrei Kurkow beschreibt seine Flucht aus Kiew in den Westen des Landes; erzählt, wie Bäuerinnen und Bauern versuchen, die Bombardierungen zu überstehen; beschreibt, wie er heute contre coeur schiessen lernt – ein stiller, ruhiger Bericht, nicht die gewohnte Hassschablone. Er schaut, wie es den Leuten geht, versucht, mit dem Unfassbaren irgendwie zu Schlage zu kommen.

******

Heute meinte ein Buschauffeur im Gespräch, der Krieg in der Ukraine diene einer alten Tour: «die einfachen Leute plagen».