«Aus der Naivität erwachen»

Samstag, 12. März 2022

(zas, 12.3.22) Vieles, sehr vieles, wissen wir nicht. Darstellung gegen Darstellung, Aussage gegen Aussage. Während die Medien des Teils der Welt, der sich «internationale Gemeinschaft» nennt, zum Beispiel pausenlos vom gezielten Dauerangriff auf die Bevölkerung berichten und das mit Bildern ausgebombter Gebäude untermauern, sagt ein Teil jener ausserhalb der «internationalen Gemeinschaft», das zerbombte Spital etwa sei Tage zuvor geräumt und zum Hauptquartier des faschistischen Asow-Bataillons vor Ort umgewandelt worden. Weißt du, was stimmt? Natürlich sind die russischen Hinweise auf «menschenschonende» Präzisionswaffen unerträglich (mindestens so unerträglich die riesigen westlichen Waffenhilfen an den Krieg gegen die Menschen in Yemen). Aber damit wissen wir noch nicht: War das ein Spital oder ein HQ?

Kriegspropaganda, hüben und drüben. Emotional aufgeheizt, sollen wir die Reihen schliessen – hierzulande noch nicht im Krieg, bloss für die NATO-geleitete Aufrüstung für weiteren Krieg und den dafür nötigen Verarmungsobolus. Und vergessen, wie das 1914 war. Vergessen, welche Kräfte in den letzten Jahrzehnten zusätzlich zum zig-millionenfachen strukturellen Massenmord im Dienst des Profits mit ihren «humanitären Kriegen» noch mehr Tod, Verzweiflung und Leiden verursacht haben und weiter verursachen.

Es gäbe so viel zu fragen. Etwa wie das Gesindel, das uns jetzt mit seinen Sprüchen von «endlich aus der Naivität erwachen» überfällt, gehandelt hätte, hätte nicht die NATO entlang der russischen Grenzen, sondern Russland in Mexiko während bald 30 Jahren Arsenale und Truppen stationiert. (Vermutlich mit einem Atomkrieg.) In der Logik der Machthabenden in Moskau hat Russland mit dem Krieg in der Ukraine jetzt die Notbremse gezogen. Eine andere Antwort - in Richtung der sogenannten diplomatischen Lösung – hätte wohl bedingt, dass dort nicht jene, die nicht «naiv» sind, das Sagen haben. Sondern andere, die nicht so denken wie ihre Counterparts in Washington (welche diesen Krieg einkalkuliert haben). Und auf so etwas wie eine gemeinsame internationale Mobilisierung gesetzt hätten, nicht auf kriminellen Krieg.

Das alte Lied von denen, die bluten, die bezahlen – und den andern.

Die, die heute im Namen der Opfer agieren, sind die, die am wenigsten Anlass dafür haben.

Das Beispiel der Flüchtlinge. Selbstverständlich: die Grenzen auf! Jetzt sofort! Solidarität ist nötig. Aber verdammt noch mal, nicht weil die Leute eine weisse Hauptfarbe haben. Weil sie vor Krieg flüchten, weil Kinder nicht im Terror aufwachsen oder sterben sollen. Das gilt auch für die Kinder im Donbass. Aber die haben den militärisch-industriellen Komplex nie interessiert. Und damit nicht die «internationale Gemeinschaft».

Wieviel Zynismus bleibt ungestraft? Vor einigen Tagen betonte die Chefin des Anti-MigrantInnen-Apparats SEM, Christine Schraner-Burgener, natürlich würden die Behörden sich bemühen, die Flüchtlinge aus der Ukraine, die nicht direkt bei Verwandten oder Bekannten unterkommen könnten, möglichst in deren Nähe unterzubringen. Genau darauf schauen die Behörden auch sonst, um dieses Kriterium ja nicht umzusetzen. Denn das wäre sonst ein «Anreiz» zum Bleiben. Dito Keller-Sutter. Sie sagt: «Die Menschen sollen während ihres Aufenthalts in der Schweiz am sozialen und beruflichen Leben teilnehmen können.» Sonst gilt das genaue Gegenteil. Dafür kommentiert der Chef der kantonalen Polizeidirektoren: «Wir gehen davon aus, dass sehr viele dieser Flüchtenden über gute berufliche Qualifikationen verfügen.» (Beruhigt euch in der SVP-Ecke!)

«Solidarität». Die Sonntagszeitung teilt Interessierten mit, unter welchen Bedingungen sie sich wo für Eintritt in Zelenskis Fremdenlegion anmelden können. Der Repubblica-Journalist Paolo Berizzi teilt mit, nach Erkenntnis der italienischen Staatsanwaltschaft gingen die Faschisten jetzt in die Ukraine. Nach diesen Angaben sollen sich Nazigruppen auf beiden Seiten befinden: Forza Nuova auf der Seite der Donbass-Unabhängigen, Casa Pound auf jener der Ukraine. Berizzi sagt: «Es gibt ein Rekrutierungsnetz, das die Leute auswählt. Seit langem bewaffnet sich die europäische extreme Rechte und strebt den qualitativen Sprung von der Propaganda zu konkreten Fakten, von den Parolen und Slogans zu Taten auf dem Feld an.» (Übrigens: Wenn wir von Söldnern hören, ist es meist von der russischen Wagner-Gruppe. Kaum oder eigentlich nie von Blackwater, Teil des inoffiziellen US-Militärapparats, der nach Angaben etwa des Manifesto auch in der Ukraine heimisch geworden ist.)

Es gibt welche, die meinen, jetzt, nach der Aktivierung des Sonderstatus für ukrainische Flüchtlinge werde sich die Schweizer (oder gleich die europäische) Flüchtlingspolitik humanisieren. Dabei: Nachdem man gezeigt hat, dass man ein Herz hat (ein kolonialistisches), kann man nicht auch noch «alle anderen» aufnehmen. Andere meinen, wenn man nur fest genug den  Wirtschaftskrieg fordere, werde der Pazifismus stärker. Zwischen Blindheit und Komplizenschaft.