(zas, 17.3.22) Lassen wir den Aspekt der abgrundtiefen Heuchelei seitens des gewohnheitsmässig kriegführenden westlichen Lagers beiseite, fragen wir uns etwa auch nicht, welcher Horror hinter dem wachsenden Ruf nach einer «Flugverbotszone» über der Ukraine steht. Versuchen wir also kurz nicht, das zusammen zu denken, was zwar zusammengehört, aber wo das Denken meistens damit endet, das eine mit dem anderen zu erschlagen: die «geopolitische» Dimension und die gesellschaftliche, die eng verbunden ist mit der Frage: Wie geht’s denn Leuten? Hier nur zwei Tipps zum zweiten genannten Thema, einer zum Lesen, der andere zum Hören.
Vorm bald sechs Jahren, schrieb ein Aktivist aus der früheren Redaktion der autonomen «Materialien – Für einen neuen Antiimperialismus» ein Papier mit dem Titel «Eurasismus in Russland». Zum Eurasismus, ein Begriff für eine in Russland propagierte Ideologie, die sich auf eine ultrareaktionär verstandene Verbindung von Europa und Asien als Gegenpol zum «dekadenten» US-dominierten Westen bezieht, schreibt der Autor einleitend:
«Die geopolitische Theorie und Strategie des Eurasismus dient den herrschenden Kreisen Russlands als neue Klammer für die verloren gegangene Identität als Heimatland aller Werktätigen unter der Regie der KPdSU. Um der innen- und sozialpolitischen Dauerkrise auf dem Hintergrund mangelnder Arbeitsproduktivität der Bevölkerung etwas entgegenzusetzen, wird auf sprachliche Einheit und Konservatismus wie im kolonialen Zarenreich gesetzt. Mit dem völkischen Ansatz des Eurasismus unterstützt Russland rechtsradikale Parteien im Westen, um statt von links nun von rechts Bündnispartner für die Wiederherstellung alter Größe zu gewinnen.»
Die Kernthese des Papiers ist, dass das heutige Russland in der Tradition des Zarenreichs und der Sowjetunion unfähig sei, zu den im Westen realisierten Durchbrüchen zu neuen Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnissen, um bisherigen Widerstand von unten brechen oder aufsaugen zu können («schöpferische Zerstörung»), aufzuschliessen. Stattdessen versuchten die Eliten (bzw. ein Teil von ihnen), die Unterklassen mit einem Teil der Öl- und Gasgewinne und einer Wiederaufnahme alter, ultrareaktionärer Ideologie bis hin zum «nationalen Krieg» bei der Stange zu halten. Der Krieg als Lösung für eine gesellschaftliche Blockade also.
Die Lektüre des Papiers hilft vielleicht, grundlegende Dynamiken der heutigen schlimmen Situation besser zu begreifen.
Für viele Linke wird es auch als «antikommunistischer» Brechreiz dienen, da es die staatsbolschewistische Geschichte in guter anarchistischer Tradition als Teil einer brutalen Herrschaftsgeschichte charakterisiert. Nun, es gab die Gulags, die Schauprozesse, die Psychiatrisierung von Opposition, die jahrelangen Offensiven für die Taylorisierung unter Lenin und Trotzki. Es gab Lenins faktische Feindeserklärung an die Bäuerinnen und Bauern, die er als «Kosaken» denunzierte. Vergessen wir nicht, dass die Sowjets 1932/33 die Ukraine, wichtigste Kornkammer des Landes, derart ausplünderten, dass offenbar allein dort 4.5 Millionen BäuerInnen, denen ihr Saatgut geraubt wurde, verhungerten.
Den jahrzehntelangen NATO-Aufmarsch an den russischen Grenzen behandelt der Autor als irrelevant angesichts der zentralen gesellschaftlichen Blockadesituation, die die herrschenden Kreise zum Mittel des Kriegs als «Lösung» greifen lasse:
«Mit der Aufputschung im aktuellen Kriegskurs werden die rückwärtsgewandten Strukturen des gewandelten, aber in Kontinuität stehenden Machtkomplexes gestärkt, in klassischer Weise wird von einem ‘gefährlichen’ zivilgesellschaftlichen Aufbruch nach westlichem Muster für Innovationen aller Art abgelenkt. Als Wachstumsmotor wird stattdessen der rüstungsindustrielle Komplex massiv gefördert. Nun ist aber die Arbeitsproduktivität in Russland die niedrigste in Europa, sie liegt 30 Prozent unter dem westeuropäischen Durchschnitt. Russland hat damit aus kapitalistischer Sicht ein enormes „Griechenland-Problem“, also überholte, unproduktive Ressourcennutzung und -verteilung plus Korruption. Deswegen überzeugt die Erklärung der geopolitischen Lage durch die Traditionslinke mit dem Abheben auf militärische Einkreisung nicht. Es gibt eine Einkreisung, aber eine andere: eine Bedrohungslage durch den uneinholbaren Vorsprung westlicher Sozialtechnologie, kapitalistischer Innovationen und Restrukturierungsangriffe in der Wirtschaft, der das russische Machtzentrum eine neue Kalte-Kriegs-Ökonomie entgegengesetzt.»
Das ist eindeutig zu kurz gegriffen, aber ändert nichts daran, dass wir, Linke, versuchen müssen, nicht allein «geostrategisch» zu argumentieren (oder gleich zu phantasieren).
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«Tan lejos de Dios, tan cerca de Estados Unidos” – So weit von Gott, so nah von den USA. Ein Klagemotiv, das in Mexiko jede/r kennt. Im Gespräch betonte der Verfasser des Papiers, natürlich sei es für uns Linke mit Anti-NATO-Tradition schwierig, die «westlich gedrehte» Bewegung in der Ukraine zu begrüssen.
In jenen riesigen Teilen der Welt, die direkt unter dem westlichen Terror leiden, haben Viele – auch Linke – den Reflex, Putin zu unterstützen. Man kann hier überheblich grinsen und nicht kapieren, dass dahinter auch die Hoffnung steht, jemand möge den Washingtoner Terror endlich beenden.
Nun, vielleicht sagt man in Georgien, in der Ukraine: So weit von Gott, so nah von Russland.
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Wollte Moskau gegen den Faschismus vorgehen, müsste es nicht die Ukraine bombardieren. Es hätte dagegen gereicht, sich vom grossrussischen Faschismus des Eurasismus abzuwenden. Der Dank wäre gewiss.
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Noch ein Hinweis auf eine Radiosendung von SRF, die – das gibt es – für ein Mal nicht plattes Runterspulen der westlichen Propaganda ist, sondern dich sehr nachdenklich zurücklässt. Der ukrainisch-russische Schriftsteller Andrei Kurkow beschreibt seine Flucht aus Kiew in den Westen des Landes; erzählt, wie Bäuerinnen und Bauern versuchen, die Bombardierungen zu überstehen; beschreibt, wie er heute contre coeur schiessen lernt – ein stiller, ruhiger Bericht, nicht die gewohnte Hassschablone. Er schaut, wie es den Leuten geht, versucht, mit dem Unfassbaren irgendwie zu Schlage zu kommen.
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Heute meinte ein Buschauffeur im Gespräch, der Krieg in der Ukraine diene einer alten Tour: «die einfachen Leute plagen».