Venezuela: Wahlen, Hetze, Erpressung

Sonntag, 28. Juli 2024

 

(zas, 28.7.24) Am Mittwoch hörte ich im Radio (Echo der Zeit, SRF) gleich zweimal (in der Einleitung zum Bericht der Korrespondentin und danach von ihr selber): Restlos alle Umfragen zu den venezolanischen Präsidentschaftswahlen prognostizieren einen Sieg des rechten Kandidaten in den Präsidentschaftswahlen von kommendem Sonntag. Nur: In Venezuela tobt ein Umfragekrieg mit entgegengesetzten Prognosen.

Warum hat das die Lateinamerika-Spezialisten von Radio SRF nicht mindestens angedeutet? Entweder lügt sie bewusst oder aber sie glaubt, was ihr vorgesetzt wird. Dass in Venezuela der Chavismus bloss dank Betrug und Gewalt gewinnen könne. Ein eventueller chavistischer Sieg heute  wäre so bloss die Bestätigung von diktatorischem Falschspiel.

Blick zurück: 2019 deckte eine Untersuchung von Mark Weisbrot und Jeffrey Sachs für das Center for Economic and Policy Research auf, dass allein von 2017-2018 über 40'000 Menschen in Venezuela an den Folgen der US-Sanktionen gestorben waren. Die auch mit chavistischem «Wahlbetrug» begründeten Sanktionen sind danach noch drastisch verschärft worden mit direkten und beabsichtigten Folgen auf die sozioökonomische Notlage der Bevölkerung. Sie sind klar der wichtigste Treiber für die Massenemigration von VenezolanerInnen. Ungeschickt … lieber nachplappern, die chavistische Diktatur habe das erdölreiche Land ins Verderben geführt.

 

Wahlresultate raten

Wer am Sonntag gewinnt, scheint unklar zu sein. Natürlich prognostizieren die rechten Umfrageinstitute, die noch bei jeder Wahl der letzten Jahre einen rechten Sieg voraussagten und damit nur einmal, bei einer Parlamentswahl, Recht behielten (die Chavistas hatten das Resultat akzeptiert), einen Erdrutschsieg des Hauptkandidaten des rechten Lagers, Edmundo González[1]. Er ist ein Joker für Maria Corinna Machado. Diese schwerreiche und US-protegierte Frau, seit Jahr und Tag in die giftigsten Umsturzkampagnen involviert, orientiert sich an Milei und Bolsonaro für ihr Regierungsprogramm, darf aber nicht selber als Kandidatin antreten. Sie hatte vor Jahren als Mitglied einer Regierungsdelegation von Panama an einer OAS-Versammlung zur massiven Verschärfung der westlichen Aggressionen gegen Venezuela aufgerufen.

Der Ökonom und Meinungsforscher Francisco Rodríguez, ein Exponent der nicht-putschistischen antichavistischen Rechten, hatte kürzlich auf X betont, dass die rechten Umfragen historisch gegen den Chavismus verzerrt waren. Er versuchte deshalb, diese «Verzerrung» in Rechnung zu stellen und kommt so zum Ergebnis eines 0.6 %-Vorsprungs von González. Wir werden sehen – allerdings nicht dank der Mainstreammedien. Denn die verbreiten unter Führung von CNN (en español) und anderen einschlägigen Medien das Washingtoner Narrativ – das Volk will den Sturz der Chavistas. CNN zitiert etwa eine rechte Umfrage, die fast 60 % der Stimmen González und weniger als 15 % Maduro zuteilt. Das ist totaler Unsinn, dafür wohl eine Quelle der Erkenntnis für die KorrespondentInnen wie der von SRF. Auch CNN reitet darauf herum, dass Maduro im Falle einer Wahlniederlage mit der Gefahr eines «Blutbades, eines Bürgerkriegs» drohe. Davon redete Maduro tatsächlich, allerdings mit dem kleinen Detail, solches wäre das «Produkt der Faschisten». Aus dem historischen Kontext wird klar, dass kein verzweifelter Maduro eine eigene Gewaltorgie ankündigte, sondern auf die Gefahr hinweist, dass eine faschistisch-oligarchische Rechte nach einem Wahlsieg die Messer der Rache wetzen werde. Das ist keineswegs an den Haaren herbeigezogen, auch wenn die Warnung vor dem Blutbad durchaus auch wahltaktische Elemente beinhalten kann.

 

Chavistische Hoffnungen

Das hängt mit einem der Argumente zusammen, wonach der Chavismus diese Wahlen gewinnen könne. Denn unbezweifelbar ist seit einiger Zeit eine zwar nur leichte, aber spürbare Verbesserung der sozio-ökonomischen Lage erfolgt, was in der Bevölkerung Hoffnung auf weitere Verbesserungen unter Maduro wecke. Diese Verbesserung hängt wesentlich mit einer volatilen und sehr beschränkten Lockerung der US-Sanktionen zusammen. Die ist nicht aus Menschlichkeit, sondern aus Washingtoner Wahlkalkül mit Blick auf das venezolanische Öl erfolgt. Venezuela kann wieder etwas Öl exportieren, was den Preisdruck auf US-Benzin lindert. Interessanterweise scheinen die Petromultis, so das Wall Street Journal, an einer stabilen Lage in Venezuela interessiert zu sein, das heisst, an einem chavistischen Wahlsieg. Denn bei einem rechten Sieg drohe Chaos und damit bye bye venezolanisches Öl. Auch bei solchen Darstellungen, die von chavistischer Seite aufgegriffen werden, ist Vorsicht geboten. Sie mögen für ein Notarrangement im Fall eines chavistischen Sieges heute dienen, doch bisher läuft die imperiale Kampagne in eine andere Richtung.

Die Chavistas weisen auf eine «epische» Mobilisierungskapazität während der dreiwöchigen Kampagnenperiode diesen Monat hin. In 250 Städten des Landes war es zu beeindruckenden prochavistischen Mobilisierungen gekommen, an denen teils Maduro, weiter von Anschlägen bedroht (das State Department offeriert übrigens $ 250 Millionen für seine Gefangennahme), teils andere Kader der Regierungspartei PSUV teilgenommen haben. Videoaufnahmen verschiedener Mobilisierungen zeigen auch für kleinere Städte eine Massenbeteiligung. Es ist klar, dass diese Mobilisierungskapazität jene der rechten bei weitem überschreitet (auch wenn nur letztere im Mainstream die Gnade der Erwähnung finden). Aber Strassenmobilisierung ist nicht automatisch gleich Wahlsieg. Sie zeigt aber auf jeden Fall, dass der Chavismus in relevanten Teilen der Bevölkerung nach wie vor verankert ist.

Dies ist umso bemerkenswerter, als der Chavismus diese Wahlen nach Jahren der sanktions-bedingten sozioökonomischen Verheerungen gewinnen muss. In einem idealtypischen Demokratierahmen des westlichen Imperialismus, das «richtiges» Wahlverhalten dank Erpressung sucht.

 

Technischer Wahlbetrug…?

Ein Wort noch zum herumposaunten technischen Wahlbetrug der Chavistas. Ein solcher wäre in Venezuela im Gegensatz zu vielen anderen Ländern nur sehr schwer machbar. Wer sich zur Wahl anschickt, muss erst seine/ihre Fingerprints biometrisch abgleichen lassen. Danach wird am Touchscreen gewählt, das Ergebnis elektronisch gespeichert. Gleichzeitig wird ein Papierausdruck der Wahlentscheidung produziert, der obligatorisch in eine Urne geworfen werden muss. Zum Abschluss bekräftigen die Wählenden im Register ihre Beteiligung schriftlich und per Fingerabdruck. Nach einem Zufallsgenerator ausgewählt, werden nach Wahlschluss 54 % der elektronischen Wahlmaschinen auf die exakte Übereinstimmung ihrer Ergebnisse mit jenen auf Papier untersucht. Das erschwert den technischen Wahlbetrug weitgehend, schliesst aber Möglichkeiten wie Stimmenkauf ausserhalb des Wahllokals u. ä. natürlich nicht aus. Kommt die Beobachtung durch 635 Delegierte des Carter Center, der UNO, der Afrikanischen Union und des Lateinamerikanischen Rates von WahlexpertInnen (CEELA) hinzu. Die EU-Wahlbeobachtung wurde wegen der aktiven Sanktionen Brüssels gegen Venezuela ausgeladen – weshalb sie in Medien wie der NZZ als die einzige schlagkräftige fabuliert wird. (Wir hatten Erfahrungen damit gemacht, wie EU-Wahlbeobachtungen in El Salvador oder Honduras rechte Wahlbetrüge nie entdecken mochten.)

 

… oder die alte Tour?

Die Rechte bereitet sich auf einen chavistischen Eventualsieg auf ihre Weise vor, eingebettet in die erwähnte internationale Mainstreamkampagne in Sachen «chavistischer Wahlbetrug». Das regierungsnahe Portal Misión Verdad geht auf einige einschlägige Punkte ein. Dazu gehört, dass etwa der Sprecher des Bündnisses um Rodríguez/Machado bekannt gab, sie würden nur ihre eigenen Wahlakten akzeptieren. Das Problem: Einzig das Wahlgericht kann offizielle Wahltischakten erstellen – unter Beobachtung aller Beteiligter. In diesen Zusammenhang gehört ferner, dass die Machado-Rechte die Ergebnisse autonom ausrechnen will – in einem Büro in … Miami! Am Donnerstag benutzte der Sprecher des Weissen Hauses, John Kirby, an einer Pressekonferenz zum Treffen Netanyahu/Biden die Gelegenheit, um zu den venezolanischen Wahlen zu sagen: «Politische Repression und Gewalt sind inakzeptabel.» Heute wurde bekannt, dass die Behörden gerade einen Anschlag auf ein Stromwerk, der unter anderen von zwei kolumbianischen Paramilitärs durchgeführt werden sollte und einen Stromausfall im Westen des Landes bewirkt hätte, hatten verhindern können. Das gleiche Vorgehen hatten in Brasilien die bolsonaristischen Kräfte bei ihrem Putschversuch gegen den Wahlsieg Lulas versucht.

Solche Dinge weisen auf ein Szenarium hin, in dem Machado, gestützt auf die «offiziellen» Akten, wie sie ein Koordinator der Rechten nannte, also die eigenen in Miami, schon am Nachmittag (in Venezuela) ihren überzeugenden Sieg verkünden werde, nachgeplappert von den Mainstreammedien. Dann wird es heiss im Land.

 



[1] González war von 1979 bis 1985 die Nummer 2 der damaligen venezolanischen Botschaft in El Salvador. Diese Botschaft – ihr Chef Leopoldo Castillo hatte den Übernamen mata curas, Priesterkiller – war aktiv in der unter US-Präsident Ronald Reagan umgesetzten Terrorstrategie (Todesschwadronen) gegen die revolutionäre Bewegung inklusive ihres befreiungstheologischen Arms. Wie die Ex-Guerilla-Kommandantin Nidia Diaz mitteilt, wird Castillo in den 2009 öffentlich gemachten CIA-Berichten als Teil der Operation Centauro (physische Liquidierung der befreiungstheologischen Gruppen) identifiziert.

Gaza: Tote Kinder nicht zählen

Samstag, 20. Juli 2024

(zas, 20.7.24) Erinnert sich wer noch an die «roten Linien» Bidens, die Israel in Rafah nicht überschreiten durfte? Da brauchte es laut Weissem Haus u. a. eine fürsorgliche humanitäre Betreuung der hierher vertriebenen Bevölkerung des Gazastreifens. Das war Ende Winter, Anfang Frühling. Von den roten Linien hört man nichts mehr. Dafür sieht es in Rafah heute wie auf dem Bild unten aus. Wie es der Bevölkerung ergeht, ersehen wir aus dem ersten Teil der folgenden Zeilen. In einem zweiten Teil schauen wir uns ein Juwel der verschleiernden Berichterstattung an, ein schon etwas älteres von letztem März. Es steht geradezu paradigmatisch für wiederholte, heute kaum modifizierte Versuche, das Dauermassaker schön zu reden, indem die Opfer, die Umgebrachten, die Leidenden in den Unschärfebereich zwischen islamistischer Propaganda und bedauernswerter «humanitärer Not» entsorgt werden. Schützenhilfe zum Genozid, nicht anders als das oft übliche mediale Dauerschweigen zu den Geschehnissen, das von gelegentlichen Kurzmeldungen eher unterstrichen als durchbrochen wird. Auch jetzt, in einer Phase, wo sich die Westbank und der Libanon in Gaza zu spiegeln drohen.

So sieht es in Rafah heute aus.

Abertausende ermordeter Kinder

Am 11. Juli 2024 berichtete auch Guardian-Journalist Chris McGreal (Israeli weapons packed with shrapnel causing devastating injuries to children in Gaza, doctors say) über die erschreckende Lage verletzter Kinder in Gaza. Er hatte sechs internationale ÄrztInnen, die in den letzten drei Monaten im European Hospital bei Khan Younis im Süden oder im Al-Agsa Hospital in Deir-al-Balah in der Mitte des Gazastreifens im freiwilligen Einsatz waren, interviewt. Feroze Sidwha, kalifornischer Wiederherstellungschirurg, der im European Hospital gearbeitet hatte, sagte: «Etwa die Hälfte der von mir behandelten Verletzungen betrafen junge Kinder. Wir sahen viele sogenannte Splitterverletzungen, die sehr, sehr klein waren, so dass man sie bei der Untersuchung leicht übersehen konnte. Viel, viel kleiner als irgendetwas, das ich zuvor gesehen habe, die aber im Körper enorme Verletzungen bewirkt haben.»

Alle sechs befragten Ärzte «fanden», so der Guardian, «grosse, von Splitterbomben bewirkte Verletzungen, die seit Kriegsbeginn zu einer alarmierenden Zahl von Amputationen geführt haben.» Nochmals Sidwha: «Kinder mit ihren kleineren Körpern sind bei Einschlagverletzungen verwundbarer. Die lebenswichtigen Organe sind kleiner und leichter zu zerstören.» So auch die Blutgefässe. Denn «die Arterie zum Fuss etwa hat in einem kleinen Kind nur die Dicke einer Nudel, sehr, sehr klein. So dass ihre Wiederherstellung, um das an sie angeschlossene Bein zu behalten, sehr schwer ist.»

Befragte Waffenexperten halten die geschilderten Verletzungen für übereinstimmend mit solchen, die von bestimmten israelischen, von Tanks oder Drohnen abgefeuerten Geschossen verursacht werden. Geschosse, die in Spezialmaterial gekleidet sind, das beim Einschlagen aufsplittert. Ein für die US-Regierung arbeitender Waffenexperte meinte: «Es wird gesagt, diese Waffen seien genauer und begrenzten Todesfälle auf eine kleinere Zone. Aber wenn sie in Gegenden mit einer hohen Konzentration von Zivilpersonen, die im Offenen, ohne irgendwelchen Schutz, leben, eingesetzt werden, weiss das Militär, dass die meisten Todesopfer Zivilpersonen sein werden.»

Der Guardian weiter: «In vielen der von den Chirurgen geschilderten Fällen ging es um Kinder, die schwer verletzt wurden, als Geschosse in oder nahe von Zonen einschlugen, wo hunderttausende PalästinenserInnen nach ihrer Vertreibung durch israelische Angriffe in Zelten lebten».

Wir lesen, dass Unicef von einer «bestürzenden» Anzahl verletzter Kinder in Gaza spricht und von «bestätigten 8000 toten Kindern, obwohl die reale Zahl vermutlich viel höher liegt. Im Juni setzte die UNO Israel auf eine Liste von Staaten, die in einem Konflikt Verletzungen gegen Kinder begehen, und beschrieb das Töten in Gaza als ‘von nie dagewesenem Ausmass und Intensität von schweren Verletzungen an Kindern’, begangen primär von den israelischen Kräften.»

 «Die Ärzte sagten, viele Glieder hätten unter normaleren Bedingungen gerettet werden können, aber der Mangel an Medikamenten (…) schränkten die Chirurgen auf Notmassnahmen zur Lebensrettung ein. Einige Kinder erlitten Amputationen ohne Anästhesie oder danach Schmerzmittel, was ihre Erholung zusammen mit dem Problem der zunehmenden Infektionen wegen unhygienischer Verhältnisse und fehlenden Antibiotika erschwerte (...) Einige der im Operationssaal geretteten Kinder starben später, die unter anderen Umständen hätten gerettet werden können.»

…… 

„So sind Kriege nicht.“

Am 13. Juli ging ein Raketenhagel auf ein mit Flüchtlingen absolut überfülltes Gebiet in der «sicheren Zone» von Al-Mawasi bei Rafah nieder. Nach palästinensischen Angaben starben dabei 90 Menschen und 300 wurden verletzt. Israels Begründung für sein Vorgehen: Der Angriff habe dem obersten Militärchef der Hamas gegolten.  Im Artikel «They Were Told They Were in a Safe Area. Then Came the Missiles.» (New York Times, 15.7.24) sagt Scott Anderson, ein führender UN-Funktionär in Gaza, zu seinem Besuch im Nasser-Spital in Khan Younis, das nach seiner Zerstörung letzten Februar notfallmässig wieder hergerichtet worden ist, wo viele Verletzte aus Al-Mawasi hingebracht worden sind: «Man konnte beim Betreten das Blut riechen (…) eine der schlimmsten Sachen, die ich in den 9 Monaten, die ich in hier bin, gesehen habe.» Die Times weiter: «Viele der Verletzten schienen Kinder zu sein, sagte er, während andere Leute im Spital ohne viel Glück nach Angehörigen suchten, die sie bei den Bombardierungen verloren hatten.»   

Der palästinensische Journalist Tareq. S. Hajjaj beschreibt in Testimonies from the Mawasi massacre: 90 people buried in the sand (mondoweiss.net, 14.7.24), wie Ambulanzen in Al-Mawasi unter Beschuss kamen und zwei Leute der Erste-Hilfe-Teams dabei starben. (Die New York Times bestätigte nach Prüfung verschiedener Videos den Beschuss.) Tareq Hajjaj beschreibt furchtbare Szenen. Und er vermittelt das Entsetzen der 82-jährigen Fawzia Sheikh Youssef: «Sie erzählt Mondoweiss, dass sie bereits während der Nakba 1948 vertrieben wurde, als sie erst 6 Jahre alt war. Sie kam in das Gebiet von Khan Younis und lebte mit ihrer Familie zwei Jahre lang in einem Zelt. 76 Jahre später fand sie sich dort wieder, wo sie begonnen hatte, doch diesmal wurde sie Zeugin von Massakern, wie sie sie nicht einmal während der Nakba erlebt hatte. ‘Es gibt kein Land auf der ganzen Welt, das Kindern, Frauen und Zivilisten so etwas antut’, sagt sie. ‘So sind Kriege nicht.’»[1]

«Fawzia war gerade am Frühstück, als die Bombe in ihr Lager einschlug und ihr Zelt zerstörte. Sie fand sich mit Sand bedeckt und eingeklemmt im Zelt wieder, war aber nicht lebensgefährlich verletzt. Sie begann, auf dem Boden zu kriechen, befreite sich aus dem Zelt und flüchtete schliesslich an einen Ort, der weit weg von den Granatsplittern und Raketen war und näher an der Hauptstrasse lag. ‘Ich sah vor meinen Augen, wie eine Rakete nach der anderen neben den Zelten niederging. Raketen, die ich in all den Kriegen in Gaza noch nie gesehen habe. Ist das nicht international verboten? Sollte die Zivilbevölkerung nicht geschützt werden und nicht mit Völkermord und Massentötung konfrontiert werden? Ist das nicht verboten? Sie haben junge Menschen und alte Frauen getötet. Sie respektieren die Menschen nicht. Sind wir denn keine Menschen?’, fährt sie fort. ‘Es gibt nichts, was uns vor diesen Raketen schützt. Die Zelte fielen uns auf den Kopf, und ich wurde von zwei Splittern in meinem Bein getroffen. Vielleicht werde ich vergiftet, aber ich habe niemanden verletzt.’»

Fawzia Sheikh Youssef

 

……

Mathematik für die IDF

Seinen medial breit aufgegriffenen Artikel «Die Hamas operiert mit zweifelhaften Opferzahlen – und viele Medien übernehmen sie kritiklos» (NZZ, 17.3.24), zuerst auf einer US-zionistischen Homepage mit bemerkenswertem, folglich NZZ-kompatiblem Rechtsdrall veröffentlicht, beginnt Abraham Wyner, Statistikdozent an der University of Pennsylvania, mit der Klage, Joe Biden und manche Medien übernähmen blind die Opferzahlen des Gesundheitsministeriums von Gaza. Dann stellt er klar, wer sich dazu äussern darf: «Die Zahlen sind nicht real. Das ist für jeden offensichtlich, der weiss, wie natürliche Zahlen funktionieren.» Er bezieht sich auf die Angaben des Gesundheitsministeriums für den Zeitraum vom 26. Oktober bis zum 10. November 2023.

Er insistiert auf einer von der Hamas-Behörde veröffentlichten fast linearen Zunahme der Todesfälle, mit Variationen von höchstens 15 Prozent von einem Tag zum nächsten in dem von ihm einzig behandelte kurzen Zeitraum (er thematisiert nicht, dass und warum er die damals veröffentlichten Daten der folgenden Monate nicht beachtet). «Diese Regelmässigkeit kommt in der Wirklichkeit kaum vor.» Das stimmt wohl. Nur: Er nahm die Tage intensiver und repetitiver, also «linearer» Bombardierungen ganzer Quartiere in Gaza, gepaart mit der anlaufenden Bodeninvasion nach stets gleichem, damals in den Medien mit Genugtuung kommentierten Schema. Also Hochhaus nach Hochhaus, Strassenzug nach Strassenzug bombardiert pulverisiert. Aufgrund der im Raum Gaza-Stadt auf extrem wenig Raum verteilten Besiedlung ist wohl von einer ziemlich homogenen Bevölkerungsdichte auszugehen. Wenn nicht, müsste das erwähnt und belegt werden. «Lineares» Vorgehen der IDF gegen mutmasslich ziemlich «linear» verteilte und gleich wehrlose Bevölkerung wie am Vortag – könnte das nicht zu in dieser Zeit ähnlichen Sterbensraten geführt haben? Wäre diese Gleichheit der Bedingungen nicht gegeben gewesen, hätte der Statistiker das nicht erwähnt? Dafür schlussfolgert er: «Das Gaza-Ministerium gibt gefälschte tägliche Zahlen heraus, weil es keine klare Vorstellung vom Verhalten der natürlich vorkommenden Zahlen hat.»

Einen Punkt bringt der Akademiker, der wohl tatsächlich einer Erklärung bedarf, falls seine Aussage stimmt: «An Tagen, an denen es viele weibliche Todesopfer gibt, sollten auch viele getötete Kinder zu beklagen sein – und umgekehrt. In den Statistiken der Hamas gibt es diese Korrelation nicht.» Bei den Frauen variiert die Opferzahl, bei den Kindern nicht.

Der Rest seiner weiteren Argumentation zeigt, warum er sein Zeugs geschrieben hat. «Sind tatsächlich 79 Prozent der Opfer Frauen und Kinder, so liegt diese Zahl weit über den Zahlen, die bei früheren Konflikten mit Israel gemeldet wurden.» «Frühere Konflikte mit Israel» … tja. Nur: Ausser Wyner hatte damals schon die ganze Welt mitgeschnitten, dass dieser Krieg eine neue Dimension der Brutalität aufweist. Aber das stört die angerufene «statistische Tatsache der Variabilität des Zufalls». Folglich vernachlässigbar.

Nächster Punkt: «Die Hamas selber hat am 15. Februar erklärt, sie habe bisher 6000 ihrer Kämpfer in diesem Krieg verloren.» Das wäre fast das Total der bis dann vom Ministerium gezählten getöteten Männer. Du begreifst: Die Hamas gibt zu, dass praktisch die Gesamtheit der bis damals getöteten Männer zu ihren Kämpfern gehörten und will so, wie Israel, das internationale Entsetzen dämpfen. Nur: Die Zahl der 6000 getöteten Kämpfer will Reuters am 16. Februar von einem anonymen Hamas-Offiziellen erhalten haben. Die Hamas dementierte die Angabe umgehend – no news for Wyner.

Doch Wyner lebt nicht auf der seligen Insel der mathematischen Gewissheiten. Auch er weiss, dass heute in Gaza etwas Neues passiert. Zwar mögen «Zahlen der Hamas» mal zutreffend gewesen sein, doch «ist dieser Krieg, was Umfang und Ausmass betrifft, völlig anders.[2] Internationale Beobachter fehlen diesmal. Der Nebel des Krieges ist im Gazastreifen besonders dicht – und er macht es unmöglich, die Zahl der zivilen Todesopfer schnell und genau zu bestimmen.» Spielt er etwa darauf an, dass Israel keine BeobachterInnen rein lässt? Nicht doch,. Unbeobachtet nämlich «macht die Hamas Israel für alle Todesfälle verantwortlich. Selbst wenn diese durch fehlgeleitete Raketen der Hamas, versehentliche Explosionen, vorsätzliche Tötungen oder interne Kämpfe verursacht wurden.»

Ein Gegenargument erwähnt er, das einer Forschergruppe de John Hopkins Bloomberg School of Public Health (geissermassen Berufskollegen, erwähnungsberechtigt). «Sie argumentierten, dass die Zahlen der Hamas nicht übertrieben sein könnten, da die Todeszahlen unter UNRWA-Mitarbeitern ungefähr gleich seien.» Falsch, weiss Wynen. Denn sie setzten voraus, «dass UNRWA-Mitarbeitende «nicht häufiger getötet würden als die allgemeine Bevölkerung. Diese Annahme geriet ins Wanken, als aufgedeckt wurde, dass ein Teil der UNRWA-Mitarbeiter mutmasslich mit der Hamas in Verbindung steht und die Hamas UNRWA-Gebäude als Infrastruktur benutzt», plus sei die UNRWA am 7. Oktober beteiligt gewesen. «Aufgedeckt» - er meint die seither auch offiziell als Lügen entlarvten israelischen Verlautbarungen. Sie reichen, um seriösere Untersuchungen als irrelevant hinzustellen.

Doch jetzt ist unser doctor mathematicus in Fahrt. Er schliesst damit, dass Israel unterdessen von 12'000 getöteten Hamas-Kämpfern spreche. «Wenn sich diese Zahl auch nur einigermassen bewahrheitet, dann ist das Verhältnis von Opfern unter den nicht am Kampf Beteiligten zu den Kämpfern bemerkenswert niedrig: höchstens 1,4 zu 1 oder sogar 1 zu 1.» Ein «erfolgreicher Versuch, unnötige Verluste an Menschenleben zu vermeiden und gleichzeitig einen unerbittlichen Feind zu bekämpfen, der sich mit Zivilisten schützt.»

Der Genozid als Vorbild.



[1] Der im UK arbeitende israelische Rechtsgelehrte Neve Gordon und sein Kollege Nicola Perugini beschreiben in «Like Sri Lanka once did, Israel has turned ‘safe zones’ into killing fields» (Al Jazeera, 11.6.24), dass die srilankischen Machthaber 2015 bei ihrer Vernichtung des tamilischen Widerstands ebenfalls «sichere Zonen» für die Bevölkerung ausgerufen und diese wenige Tage danach bombardiert haben. Mit einem wichtigen Unterschied zu Gaza: «Der Genozid in Gaza findet nicht im Versteckten statt.»

[2] Natürlich sind auch Angaben des Gesundheitsministeriums hinterfragbar, auch wenn sie die USA oder die israelischen Geheimdienste übernehmen. Es scheint allerdings, dass sie ziemlich zutreffend waren und es noch sind, soweit das Ausmass der Zerstörung eine halbwegs seriöse Erhebung überhaupt noch zulässt. Jedenfalls heisst «hinterfragbar» nicht «wegmanipulierbar».