El Salvador: Wahlresultate und Einschätzungen

Dienstag, 31. März 2015




(zas. 31.3.15) Fast einen Monat nach den Wahlen (Gemeinden, Parlament und zentralamerikanisches Parlament – Parlacen) hat das Wahlgericht TSE am 27. März 2015 die wohl definitiven Resultate bekanntgegeben. Die wenigen beim TSE eingereichten Rekurse haben kaum eine Chance auf Erfolg. Auch von der Verfassungskammer des Obersten Gerichts, die sich auch im Wahlbereich verfassungswidrig zur ultimativen Instanz aufgeschwungen hat, sind eher keine Entscheide zu erwarten, die die Resultate gross ändern werden. Von dieser Seite sind jedoch weitere Schritte hin zur Abschaffung des potenziell demokratischen Gehalts des Wahlsystems, wie es aus den Firedensabkommen von 1992 resultierte, zu befürchten.

Summarischer Blick auf die Resultate
Partei/Koalition
Anzahl Stimmen
Prozente
ARENA
874‘169.55246*
38.77
FMLN
840‘619.34928
37.28
GANA
208‘851.06759
9.26
PCN
152‘632.86595
6.77
PDC
55‘698.27729
2.47
ARENA/PCN
37‘690.08333
1.67
CD
36‘396.2442
1.61
Rest*
48‘972.5598
2.17
Definitive Resultate des TSE, Stand 27.3.15, escrutiniofinal2015.tse.gob.sv
*Die Stellen hinter dem Komma resultieren aus der von der Verfassungskammer des Obersten Gerichts verfügten Berechnung der Stimmabgabe in den sog. offenen Listen.
**Mehrere Kleinstparteien und eine parteilose Kandidatur
Im Vergleich zu den Gemeinde- und Parlamentswahlen von 2012 konnte sich der Frente halten und ARENA etwas zulegen, während ihre Alliierten PCN und PDC etwas verloren haben und GANA, die Abspaltung von ARENA, die im Parlament meist für die Regierungs- und FMLN-Vorlagen stimmt, bleibt stabil. Dank einem lokalen Bündnis mit dem PCN und Reststimmenglück schafft es ARENA auf 35 Parlamentssitze (2012: 3, vor einer internen Abspaltung), der FMLN bleibt bei seinen 31 Abgeordneten (davon 15 Frauen), PCN 6 (2012: 7), PDC 1 (wie bisher) und der CD fliegt raus. Im normalen Parlamentsalltag hat sich die Situation für den Rechtsblock (ARENA, PCN, PDC) mithin gebessert und für den Block Frente/GANA verschlechtert. Numerisch verfügen beide Lager über je die Hälfte der insgesamt 85 Parlamentssitze. Bleibt zu sagen, dass ARENA allein nicht 35, sondern 32 Stimmen gemacht hätte und der FMLN, wäre er etwa im Departement La Paz eine Koalition mit dem CD eingegangen, einen weiteren Parlamentssitz geholt hätte.
Auf Gemeindeebene regiert ARENA in 129 Kommunen, der FMLN in deren 85, den Rest der insgesamt 262 Gemeinden haben andere Parteien gewonnen. Hier ist anzufügen, dass ARENA etwas weniger als 50 % der Bevölkerung kommunal regieren wird, der FMLN etwa 40 %; er hat die Hauptstadt und einige ihrer Vorortsstädte, die er 2012 verloren hat, zurückgewonnen. Noch weitgehend unerklärt ist der Frente-Rückgang auf dem Land, wo er 2012 und bei den Präsidentschaftswahlen letztes Jahr klare Fortschritte erzielt hatte. Vermutlich spielen lokale Faktoren, aber wohl auch das Auswählverfahren der KandidatInnen eine Rolle (es war vereinzelt zu Basisprotesten gegen die KandidatInnen gekommen). Neu auf kommunaler Ebene ist, dass die Gemeindeexekutiven plural zusammengesetzt sein werden; bisher hat die siegreiche Partei die gesamte Exekutive gestellt.
Beim zentralamerikanischen Parlament Parlacen betrug der Vorsprung von ARENA auf den FMLN bloss rund 7000 Stimmen.  Die beiden grossen Parteien schicken je 8 Abgeordnete, GANA 2 und PCN und PDC je 1.
Insgesamt bestätigt sich also das seit den Parlaments- und Gemeindewahlen 2006 vorherrschende Patt zwischen den beiden grossen Parteien. Ein Drittel FMLN, ein anderes Drittel ARENA, der Rest geht auf die anderen Parteien. Einschränkend ist allerdings zu sagen, dass die gesamte Rechte bei den Parlamentswahlen klar die Mehrheit stellt; auch GANA ist trotz taktischer Anti-ARENA-Allianz mit dem Frente keineswegs als linke Kraft misszuverstehen. Sie pflegt ihr „Ja“ für Reformvorlagen von deren Verwässerung abhängig zu machen und bekleidet verschiedene Regierungsposten. Dafür, dass Gesetzes- und Verfassungsänderungen im Bereich der Ernährungssouveränität und des Rechts auf Wasser in der noch bis Ende April amtierenden Legislative nicht durchgekommen sind, trägt sie eine klare Mitverantwortung. Umgekehrt wären aber ohne GANA etwa die bescheidenen Schritte hin zu mehr Steuergerechtigkeit und leichter Anhebung der absurd tiefen Fiskaleinnahmen des Staates nie durchgekommen. (Die Verfassungskammer des Obersten Gerichts hat dafür mehrere dieser Reformen als verfassungswidrig erklärt, um die Reformbemühungen der FMLN-Regierung finanziell auszutrocknen.)  
Was die reale Blockbildung im neuen Parlament angeht, ist noch einiges unklar. Evl. lassen sich einzelne GANA-VertreterInnen von ARENA bzw. dem Grossunternehmerverband ANEP kaufen, umgekehrt gelten einige PCN-Abgeordnete als durchaus genug … flexibel, um bei gebührender Berücksichtigung ihrer „Anliegen“ (Postenschacher im Parlament u. ä.) in Einzelfällen oder dauerhaft den Frenteblock zu unterstützen.

Personenwahl gegen Programmwahl
Die absurd lange Dauer der definitiven Stimmauszählung (fast vier Wochen) hängt mit dem Chaos in der Wahlnacht und einer systematischen Auszählbehinderung von ARENA zusammen. Das salvadorianische Wahlsystem sieht eine grundlegende Auszählung der Resultate an den einzelnen Wahltischen (Juntas Receptoras de Votos, JRV) durch die ParteivertreterInnen in den JRV gleich nach Wahlschluss um 17 h vor. In der Vergangenheit beanspruchte dieser Prozess im Schnitt etwa 4 bis 5 Stunden. Angekreuzt wurde jeweils nur die bandera, das Parteilogo auf dem Wahlzettel. Die einzelnen KandidatInnen waren auf dem Wahlzettel nicht aufgeführt. Die Rangfolge der KandidatInnen wurde durch die jeweilige Partei vorgegeben. Über die bis heute die Leute kaum bewegende Sitzverteilung im zentralamerikanischen Parlament  wurde erst gar nicht gesondert abgestimmt, sie wurde nach Massgabe der Simmverhältnisse beim nationalen Parlament ermittelt. Die Gemeindeexekutive wurde nach dem einfachen Majorz gewählt, ebenfalls durch Ankreuzen der bandera.
Dieses System wurde im Lauf der letzten Jahre massiv verändert. Im Zusammenspiel mit von den Washingtoner Apparaten zur internationalen „Demokratieförderung“ mit finanzierten NGOs oder traditionellen ARENA-VertreterInnen, die entsprechende Eingaben machten, veränderte die Verfassungskammer des Obersten Gerichts Verfassung und Wahlgesetz massiv. Bemerkenswert: Alle Veränderungen erfolgten nach 2009, als das Bündnis um den FMLN erstmals die Präsidentschaftswahlen gewann. Und sie verfolgten alle das Ziel, die Wahl gegensätzlicher Programme durch eine von individualisierten Personen aufzweichen. Schliesslich hatte es der Frente 2009 geschafft, mit einer Programmwahl und unter strikter Einhaltung der bürgerlichen Spielregeln die Rechte aus der Exekutive zu verdrängen. Das alte System war deshalb für die Eliten nicht mehr funktional.
Als erstes schaffte die Kammer – gegen den Widerstand des dafür nach Verfassung allenfalls zuständigen Parlaments - die Verfassungsbestimmung ab, dass nur auf Parteilisten für das Parlament kandidiert werden konnte. Parteiunabhängige Kandidaturen wurden nun  als erweiterte Freiheit „des Bürgers“ verkauft. Bei den Wahlen 2012 und 2015 fanden die  parteiunabhängigen Kandidaturen einen Anklang im Nullkomma-Bereich.
Als nächsten Schritt verfügte die Kammer vor den Wahlen von 2012 die Einführung der Möglichkeit der Bevorzugung einzelner KandidatInnen innerhalb der Parteilisten. Während der FMLN zur Wahl der bandera aufrief, war bei ARENA eine klare Hinwendung zur personenzentrierten Kampagne feststellbar, für Personen, deren Popularität zu einem wesentlichen Teil von ihrem Kampagnenbudget und von den grossen Medien mit bestimmt wurde. Für die Parlamentswahlen 2015 schliesslich führte die Kammer die offenen Listen ein, in El Salvador das System der gekreuzten Stimme und in der Schweiz Panachieren genannt. „Der Bürger“ konnte jetzt also nach Belieben KandidatInnen verschiedener Parteien seine Präferenz geben – und damit die Programmwahl weiter aushöhlen. Zusätzlich ordnete die Kammer an, dass neu auch die salvadorianische Parlacenvertretung nach dem gleichen System gewählt werde. Die einzige Wahlreform, die nicht von der Kammer, sondern trotz rechtem Widerstand vom Parlament beschlossen wurde, war die Einführung pluralistischer Gemeindeexekutiven. Dies fiel für die Auszählung an den JRVs aber nicht ins Gewicht, da sie einzig, wie bisher, die Parteienstärke auszählen mussten – den Verteilschlüssel für die Exekutive berechnete das TSE.

Das programmierte Chaos
Bei der JRV-Auszählung in der Wahlnacht kumulierten also viele Neuerungen, die die Mitglieder, die seit spätestens sonntags um 4 h früh auf den Beinen waren, in die Erschöpfung trieb. Insbesondere in Departementen mit einer grossen Anzahl Kandidaturen dauerte die Auszählung bis in die frühen Morgen-, teilweise sogar in die Nachmittagstunden des Montags hinein. Unsere BeobachterInnengruppe sah Leute (von verschiedenen Parteien) um die Wahltische herum schlafen, andere stierten apathisch vor sich hin und warteten darauf, ihre Unterschrift unter die jetzt 25 Tischakten (früher 1) geben und schlafen gehen zu dürfen. (Vereinzelt verschwanden sogar JRV-Mitglieder.) Generell waren wir schon froh, wenn wir sahen, dass die Parteileute in den JRV versuchten, sich anhand eines kleinen TSE-Handbuchs Klarheit über den nächsten Schritt im extrem komplizierten Auszählungsverfahren zu verschaffen. Faktisch wusste kaum jemand wirklich Bescheid über das Prozedere.  Das hatte verschiedene Gründe: die schiere Menge an Neuerungen, das tendenziell immer noch tiefe allgemeine Bildungsniveau, dann aber vorallem eine medial und von der Verfassungskammer bewusst geschürte Verunsicherung über die verschiedenen Wahlmöglichkeiten. Nur als Beispiel: Die Kammer hatte keine zwei Monate vor dem Wahlgang die auf früheren ihrer Entscheide berufenden Direktiven des TSE zur Auszählung der gekreuzten Stimmen umgestossen und eine neue Auslegeordnung befohlen. Damit konnten TSE-Schulungsmaterialien für die JRV-Mitglieder wieder eingestampft werden, mussten die Leute für ein neues Training zusammengetrommelt werden, kam der ganze logistische Ablauf erneut ins Stocken. Die grossen Medien erzeugten wie gewohnt weitere Konfusion über die gültigen und ungültigen Modalitäten der Stimmabgaben. Eine Woche vor dem Wahltermin erliess die Verfassungskammer ein neues Statement, das so formuliert war, dass nur ausgewiesene ExpertInnen begriffen, was da stand. Eine Steilvorlage für medial transportierte falsche Gerüchte. So versicherte uns eine mit Wahlbeobachtung befasste FMLN-Frau, jetzt sei es nicht mehr möglich, nur die bandera anzukreuzen, man müsse auch alle KandidatInnen der jeweiligen Partei ankreuzen. Eine Fehlinformation. Das TSE und auch der FMLN versicherten öffentlich, das jüngste Statement der Kammer ändere real nichts am Prozedere der Stimmabgabe. Das sollte die Verunsicherung dämpfen, traf aber nicht exakt zu. Denn tief versteckt in ihren Ausführungen erklärte die Kammer eine bei den letzten Parlamentswahlen noch gültige Stimmabgabemodalität  für verfassungswidrig, nämlich das Ankreuzen der bandera einer Partei und separat aller ihrer KandidatInnen mit einem einzigen grossen „X“ über die ganze Namensliste. Neu mussten alle KandidatInnen einzeln mit einem Kreuzchen geehrt werden. Natürlich war das Ankreuzen aller ParteikandidatInnen eigentlich unnötig, es reichte die bandera. Doch darüber zirkulierten im Volk derart unterschiedliche Gerüchte, dass viele WählerInnen mit dem Markieren der KandidatInnen auf Nummer sicher gehen wollten. In der Woche vor den Wahlen musste das TSE deshalb erneut versuchen, die zehntausenden von JRV-Mitgliedern neu zu instruieren. Resultat: noch mehr Verunsicherung.

Hetzkampagne
In den Monaten vor der Wahl betrieb der ARENA-Block mithilfe des Grossunternehmerverbandes ANEP und der dominanten Medien eine Dauerkampagne gegen das angeblich einen Wahlbetrug zugunsten des FMLN vorbereitende TSE. Real war zwar Julio Olivo, Präsident des TSE und vorher Jura-Dekan an der Nationaluni, im Parlament vom Frente vorgeschlagen worden, ohne aber Parteimitglied zu sein oder auch nur über etwas politische Erfahrung zu verfügen. Ein weiteres TSE-Mitglied gilt als vage progressiv, zwei andere sind klar ARENA und PCN zuzuordnen und das fünfte, vom Obersten Gericht stammende Mitglied, stimmt mal mit dem Rechts-, mal mit dem Linksblock. Warum also die Verunsicherungskampagne? Zwei Gründe: Erstens akzeptiert ARENA nur für sie positive Resultate – und sie musste aufgrund der meisten Umfragen mit einem schlechteren als dem erzielten Resultat rechen. Zweitens will sie die totale Kontrolle des TSE zurück. Sie beherrscht ohnehin alle relevanten TSE-Abteilungen (Wahlregister, Informatik, Rechtsabteilung, Wahllogistik u. a.). Olivo hatte vor einigen Monaten öffentlich gemacht, dass der ARENA-Chef des TSE-Wahlregisters auch ihm keinen Einblick darin gewähre. Doch unter Olivo wurden traditionelle krumme Geschäfte im TSE weitgehend unterbunden. Private Serviceunternehmen stellten früher etwa völlig überhöhte Rechnungen zugunsten der Wahlkassen der Rechten; der TSE-Wagenpark, gedacht für die landesweite Schulung der JRV-Mitglieder, wurde für die Wahlkampagne von ARENA verwendet, etc.
Bad man must go! Das extreme, hauptsächlich von der Verfassungskammer zu verantwortende Chaos in der Wahlnacht schob die Rechte selbstverständlich Olivo in die Schuhe. Erleichtert wurde das durch den totalen Zusammenbruch der elektronischen Übermittlung der JRV-Resultate, die laufend, wie schon bei den letzten beiden Wahlgängen – nicht aber in all den Jahren der totalen ARENA-Kontrolle des TSE – auf einer Homepage aufgeschaltet werden sollten. Natürlich heizte das die Kampagne betreffs eines TSE-gesteuerten Wahlbetrugs nochmals an. Allein, das versagende Privatunternehmen, war vom TSE-Informatikchef (ARENA) als technisch sehr versiert „empfohlen“ worden.  ARENA hat auch den schleppenden Gang der Wahlaktenüberprüfung in den letzten Wochen zu verantworten. Sie stellte dabei oft völlig absurde Anträge – so sollten etwa alle JRV-Mitglieder vorgeladen werden, um ihre Personalien zu überprüfen! – und der für ARENA zuständige Koordinator war sich nicht zu schade, eine ihm nicht passende Akte zu zerreisen, während ein anderer Arenero, ehemaliger TSE-Magistrat, vor laufender Kamera eine Prügelei begann. Für die Verzögerung machen die rechten Medien natürlich insbesondere den „unfähigen“ Olivo verantwortlich. Mit ein Grund für diese Strategie war auch, dass ARENA bei permanenter emotionaler Mobilisierung gegen das TSE den Umstand, dass sie mit der Hauptstad das „Kronjuwel“ verloren hatte, medial zum bedeutungslosen Detail herabsetzen konnte. Bemerkenswerterweise kam der von Gustavo Fernández, einem rechten ehemaligen bolivianischen Aussenminister, geleiteten Beobachtungsmission der Organisation der Amerikanischen Staaten  eine ARENA-mässigende Rolle zu. Sie dementierte von Beginn weg die These des TSE-geleiteten Wahlbetrugs, was ihr zu entsprechend geringerer medialer Präsenz als sonst verhalf.

Cambio oder ein Stück Schweiz in El Salvador
Der FMLN konnte also nicht wie erhofft mit den Wahlen bessere Voraussetzungen schaffen, um eine vertiefte Reformpolitik seitens der Regierung zu ermöglichen. Dies hätte dann als Basis für ein Durchbrechen des strategischen Patts in den kommenden Jahren dienen sollen. Diese Situation ist natürlich gefährlich, denn eine lang anhaltende Reformblockade kann die Leute in die Resignation treiben, statt sie für den Kampf zu motivieren. Insbesondere dann, wenn namhafte Regierungs- und FMLN-ExponentInnen, darunter auch Präsident  Salvador Sánchez Cerén selbst, sich in der Öffentlichkeit oft eines Diskurs befleissigen, bei dem die alternativen Konturen zu verschwinden drohen. Beispiel die „Allianz für den Wohlstand im Norddreieck“ (El Salvador, Honduras, Guatemala). Ein noch unscharfes Investitionsprojekt, entstanden angeblich aus dem Bemühen, die Massenemigration von Kindern in die USA einzuschränken.  Klar ist, dass das Business, wie derzeit in der US-Kongressdebatte betont, von Washington kontrolliert werden soll. Die salvadorianische Regierung kann aus Gründen wie der wirtschaftlichen Abhängigkeit dem Allianzprojekt nicht einfach die kalte Schulter zeigen. Sie muss das Schlimmste verhindern und das Beste herausholen. Aber wenn die amtlichen Verlautbarungen seit Monaten beschwingt herausstreichen, wie gut man sich mit Washington verstehe und wie fruchtbar der Dialog mit dem nationalen Grosskapital sei (eine US-conditio sine qua non), wirkt das nicht nur befremdend, sondern wohl auch entfremdend. Denn wo bleibt die Bewusstseinsarbeit mit der Bevölkerung, ihre Motivierung für den cambio, wenn anscheinend das Glück made in USA ist und die eigene Note darin besteht, besser als die Rechte mit Washington kutschieren zu können? Natürlich gibt es auch ganz andere Momente der Regierungspolitik, etwa im Agrar- oder im Sozialbereich, die viel eher zur Bewusstwerdung beitragen können – doch oft werden mit Blick auf die wählende „Mitte“ und zur Besänftigung der Bourgeoisie Dinge wie diese „Wohlfahrtsallianz“ hervor gestrichen.  
Aus vielen Gesprächen ergibt sich ein klares Bild: Zentral für die weiteren Aussichten wird sein, ob es dem Frente und der Regierung in der kommenden Zeit gelingen wird, auf dem Gebiet der Wirtschaft und der Sicherheit reale Fortschritte zu erzielen und diese auch gegen die Verschleierungspolitik der grossen Medien ins öffentliche Bewusstsein zu transportieren.
Trotz ihres Wahlerfolgs scheint auch für ARENA keineswegs nur die Sonne. So hat sie sich soeben einen grossen Patzer erlaubt. Der nationale Sicherheitsrat für die BürgerInnensicherheit – ein von der Regierung angestossenes Gremium, in dem sie soziale Organisationen, Kirchen, Unternehmerverbände, Kultur- und Sportvereine etc. zusammenfasst, hat für den 26. März zu landesweiten Demonstrationen für den Frieden, gegen die Gewalt – also den Kriminalitätsterror im Alltag – aufgerufen. Eine parlamentarische Mehrheit hat den Tag zum Feiertag gemacht. ARENA und der Grossunternehmerverband ANEP haben über ihre Medien eine aktive Politik der Nichtteilnahme gepusht. Am 26. kam es jedoch landesweit zu den grössten Mobilisierungen überhaupt der letzten Jahrzehnte (zur Frage der Sicherheit s. diesen Begleitartikel).
Mindestens so gefährlich ist ein neuer interner Streit für diese Partei. Im Gegensatz zum Frente hat sie ihre ganze Wahlkampagne als Personenwahl aufgezogen. Ergebnis: Altgediente Parteikader wurden abgewählt, eine Reihe direkter Mitglieder der Oligarchie oder ihrer VertrerInnen kamen neu ins Parlament (schön geredet als „Generationenwechsel“). Ein ARENA-Mitglied der bisherigen Parlamentsleitung meinte vor FMLN-KollegInnen: „Die Partei hat gegen die Oligarchie verloren“. Öffentlich unterstellen namhafte Parteikader der Oligarchie einen direkten Betrug an den Wahltischen. Tatsache ist, dass die Kampagnenbudgets vieler Parteikader im Vergleich zu dem der oligarchischen „Newcomers“ mickrig waren. Ironischerweise zahlen jene, die begeistert das von der Verfassungskammer betriebene Reformvorhaben gegen den FMLN – Liquidierung der Programmwahl – mitgetragen und einzig auf die Personenwahl gesetzt haben, nun einen Teil der Rechnung. Der „geheime Sinn“ der über die Verfassungskammer lancierten Veränderungen wird deutlich: Die erweiterte „Freiheit des Bürgers“ besteht darin, sich dem Kommando des Kapitals aus … freien Stücken zu unterwerfen (so quasi ein Stück Schweiz in El Salvador).

El Salvador: Impressionen vom Mara-Terror und seiner Bekämpfung




 (zas, 31.3.15) Der sog. Waffenstillstand, die Tregua, zwischen den Maras, verwirklicht ab dem Moment, als der vorherige Präsident Mauricio Funes alle FMLN-Leute aus den entscheidenden Posten in den Sicherheitskräften raus warf und in der Polizei jene Washington-nahen Kräfte wieder ans Ruder holte, die berüchtigt waren für Menschenrechtsverbrechen und teilweise Drogenhandelconnections, hatte zuerst ein schönes Gesicht: Die Mordrate sank innert kurzer Zeit von 12-14 Morden auf 5-6 pro Tag. Die Kehrseite: Das faktische Stillhalteabkommen zwischen Polizei und Maras brachte diesen ein Ausmass an Straffreiheit, das sie für eine besorgniserregende Ausweitung ihrer Kontrolle über vor allem Unterklassenzonen benutzten.

Alltagsrealitäten
Die Sicherheitslage ist eindeutig ein Terrain, auf dem der Frente in den nächsten ein, zwei Jahren massive Verbesserungen erreichen muss. Alle Basismitglieder des FMLN, mit denen ich gesprochen habe, haben das betont. Mit Grund: Ein Freund, der oft bis spät nachts arbeitet und dann nach Hause im Unterklassenquartier in Apopa fährt, ruft nach 10 h nachts nicht die Polizei, sondern den lokalen Mara-Chef an, um die Erlaubnis für die Fahrt im eigenen Wohnquartier zu erhalten. Wer Arbeitseinkommen hat (und sei es ein erbärmlicher ambulanter Marktstand), zahlt den Maras einkommensabhängige Steuern – oder riskiert, von ihnen spitalreif geschlagen oder ermordet zu werden. Kaum eine Kneipe, kaum ein Taxifahrer, die nicht „Rente“ zahlen. Es kommt vor, dass Regierungsämter – sie zahlen keine „Rente“ – Arbeiten in gewissen Zonen nur nach Absprache mit den lokalen Herren der Maras in Angriff nehmen – zum Schutz des Personals. Befreundete BäuerInnen, Ex-Guerillas, koordinieren ihren Alltag, seit sie von den Banden bedroht werden, weil sie ihnen keine „Rente“ zahlen. „Wir hatten Krieg gegen die Ausbeutung geführt – jetzt sollen wir das schlucken?!“, wie einer von ihnen sagte. Zu den Hafterleichterungen für gefangene Mara-Grandes  während der Tregua, des Waffenstillstands, gehörte die Wiederzulassung von Intimbesuchen. Oft läuft das so: Die junge Frau, das Mädchen in den Mara-Zonen wird angewiesen, den wildfremden Jefe „intim zu besuchen“, ansonsten sie oder ihre Familie Schaden nehmen würde. Nur um die reichen Zonen machen die Maras einen Bogen – sie wissen um die privaten Sicherheitsarmeen dieser Klasse.
Die FMLN-Regierung von Sánchez Cerén ist nicht bereit, diesen „Waffenstillstand“ weiterzuführen. Seither ist die Mordrate wieder auf im Schnitt 10 Morde pro Tag gestiegen (laut Polizeiangaben handelt es sich bei 70 % der Täter und bei 35 % der Opfer um Mareros). Neu kommt es zu systematischen Morden an Polizeimitgliedern (allein 14 in diesem Jahr) und selbst an Soldaten. Zu Beginn der Regierung Funes hatte mir ein Genosse, der  Marktverkäufer ist und schon damals unter dem Bandenterror litt, gesagt: „Jetzt muss die Regierung durchgreifen. Noch respektiert der Marero die Uniform. Wir sind noch nicht wie in Mexiko. Doch entweder sie greift durch oder wir werden hier mexikanische Zustände kriegen.“  Wir hatten diskutiert, ich war gegen den Einsatz der Armee in der Kriminalitätsbekämpfung, er dafür. Heute, nach dem „Waffenstillstand“, wird „die Uniform“ nicht mehr respektiert, sondern angegriffen. Kein revolutionärer Akt. Der Einfluss der nationalen und internationalen Drogenkartelle bei einem Teil der Maras scheint massiv gestiegen zu sein. Nach dem Wegfall der Tregua ist offenbar wieder offener Krieg um die lukrative Kontrolle der Transitrouten des Drogenhandels ausgebrochen. Es sind offenbar minoritäre Teile der Maras, die sich über den Kleindeal hinaus dafür instrumentalisieren lassen. Aber sie sind gefährlich. Nach aktuell zirkulierenden Gerüchten haben sich einige hundert Mareros zu professionellen Auftragskillern ausbilden lassen – im Ausland.  
Es besteht kein Zweifel, dass in einigen Gebieten die Maras die Bevölkerung zum richtigen Wahlverhalten gezwungen haben – gegen den FMLN. Seit die Wahllokale näher an den Wohnorten der Leute liegen, können die Maras einschätzen, ob ihren Anweisungen Folge geleistet wurde oder nicht. Sie können ungefähr wissen, wer wählen ging und wer nicht – und wer sich nicht an ihre „Orientierung“ gehalten haben könnte. Zumindest glauben das die Leute vor Ort – und die wissen meistens gut über solche Dinge Bescheid.
Wer solche Realitäten mitschneidet, kann nicht einfach gegen Repression sein. Allerdings: Trotz massiver Verbesserungen im Polizeikorps gibt es immer noch eine menschenrechtsverletzende, folternde Seilschaft. Die ist nicht minder gefährlich. Und zumindest kommt man bei der Meldung von vor ein paar Tagen ins Sinnieren: Polizisten gerieten in einen Hinterhalt, riefen Verstärkung herbei, mit dem Resultat von einem verletzten Polizisten und acht toten Mareros…. Zudem informieren manchmal PolizistInnen, freiwillig oder erpresst – auch sie leben in Unterklassenquartieren – die Banden über bevorstehende Operationen.

Die Frente-Strategie
Die Frente-/Regierungsstrategie versucht, das erfolgreiche nicaraguanische Modell einzuführen. Die eine Schiene: Repression gegen den hard core der Maras, aber auch der organisierten und „respektablen“ Kriminalität. Die andere: den Maras die Kids abspenstig machen. National bis ins Wohnviertel oder ins Kaff hinein sollen möglichst alle gesellschaftlichen Kräfte zusammenkommen und gemeinsam Strategien gegen die Unsicherheit entwickeln und umsetzen. Die Regierung, die Kirchen, die sozialen Organisationen, die Unternehmerverbände, die Parteien, die Kulturschaffenden, die Sicherheitskräfte, die Sportvereine – vor Ort der Pastor, die Ladenbesitzerin, der Organisator des Fussballturniers, die neuen GemeinschaftspolizistInnen (community policing). Sie kennen die Leute, wissen um die Probleme, sollen eingreifen können, bevor es wirklich heavy wird. Gepaart mit sozialen und beruflichen Integrationsangeboten, wobei bei letzteren die Perspektiven noch sehr unklar sind. Welches Unternehmen stellt Exbandenmitglieder ein, wer gibt ihnen Kredit?
Es ist klar, in Hard-Core-Zonen der Banden wird sich dieses Konzept nicht so schnell durchsetzen lassen. Eine FMLN-Aktivistin ging vor ein paar Monaten an ein erstes derartiges Treffen in ihrem Wohngebiet in der Mara-Zone. Nach ihrer Heimkehr klopfte es an der Tür, ein Nachbarjunge wollte wissen, was genau besprochen worden sei und liess ausrichten, sie nehme da besser nicht mehr Teil. Die Frau ist aus dem Frente ausgetreten, aus Angst um sich und ihre Kinder. In anderen Zonen kann das Konzept Erfolg zeitigen und von dort aus langsam auch in „schwierigere“ Gebiete ausstrahlen. Tatsache ist, wenn auch nicht in jedem Fall, dass in Gebieten mit starker Frenteorganisation der lokalen Bevölkerung die Maras keinen fruchtbaren Boden vorfinden. Ich war kürzlich in der Berggemeinde Tejutepeque im politisch extrem konservativen Department Cabañas. Hier hatte der Frente die Lokalwahlen gewonnen. Auf die Frage nach den Maras meinte ein Compañero vom lokalen Komitee: „Ab und an gibt es Probleme. Aber nicht sehr grosse. Im Allgemeinen ist es ruhig Wir kennen die Leute und wir reden mit unseren Kindern.“   
Tejutepeque, März 2015: Das Landwirtschaftsministerium verteilt über die lokale Selbsthilfeorganisation ADIT national hergestelltes, angepasstes und billiges Saatgut.

In der Gemeinde San Fernando im Department Chalatenango, spürbare FMLN-Tradition, sagte mir die Krankenschwester: „Als Frau kann ich noch nachts um 12 allein auf die Strasse. Vielleicht gibt es mal einen Besoffenen, der etwa Ärger macht. Aber nichts Schlimmes.“  Eine solche Aussage in El Salvador scheint wie von einem anderen Planeten zu stammen, und zudem noch für eine Gemeinde, die als Transitort für den Drogentransport aus Honduras nach Guatemala und al norte gilt. Einige Stunden später, in der traditionell eher rechten Gemeinde Ocotal: ein Dorffest, am Rande eine Gruppe zugedröhnter Männer und einer Frau der lokalen Mara, ihre Haltung lässt keinen Zweifel, wer hier die Kings sind.

Gegen ARENA, ANEP und die Maras
Gelingt es dem FMLN, auf diesem Gebiet reale Verbesserungen in Gang zu setzen und – nicht minder schwierig – dies medial zu transportieren, hat er die nächsten Wahlen gewonnen. Wenn nicht – gute Nacht. Immerhin, ganz chancenlos ist er wohl nicht. Vor einigen Tagen, am 26. März, hatte der „Rat für BürgerInnensicherheit“ – so heisst das nationale Gremium um die Regierung herum – zu Demos im ganzen Land für Frieden, für Sicherheit, gegen Gewalt aufgerufen, auf die Tradition der „Märsche in weiss “ zurückgreifend. Die Parlamentsmehrheit hatte den Tag zum nationalen Feiertag erklärt, gegen den wütenden Protest von ARENA und ANEP, dem Grossunternehmerverband, und ihrer Medien.  Wichtig dabei war der Versuch, die Leute anzuturnen, sich selber – vorerst symbolisch – für eine Veränderung der Lage einzusetzen. Präsident Sánchez Cerén sprach am nächsten Tag von einer halben Million von TeilnehmerInnen. Es war jedenfalls die grösste Mobilisierung seit vielen Jahrzehnten. Die Rechte hatte ihre Medien pausenlos auf Demobilisierung setzen lassen.  Kurz nach den Wahlen fuhr sie so eine erste Niederlage ein. Zwar berichteten ihre Zeitungen am Tag nach den weissen Märschen so gut wie nichts darüber, doch Radio und Fernsehen waren am 26. während einer halben Stunde in einer nationalen Sendekette zusammengeschlossen und mussten so die Bilder der Riesendemos zeigen. Bemerkenswert: viele, sehr viele Jugendliche dabei.
Und noch wer setzte auf Demobilisierung: die Maras. In den Wohnzonen, wo sie das kontrollieren konnten, überprüften sie, wer „unentschuldigt“ abwesend war.
(Es ist schon eigenartig, wie aus einem Phänomen von Banden von Unterklassenjugendlichen ohne andere Perspektiven innert 20 Jahren eine neue, moderne Form des Gewaltterrors, der früher als Militärdiktatur wirkte,  entstanden ist.  Eine Form von brutalem, „primitiven“ Kapitalismus, gesteuert natürlich von oben, über Rahmenbedingungen und Zurverfügungstellung von Waffen, Protektion etc., aber alimentiert von unten. )

Venezuela bedroht USA

Samstag, 14. März 2015

11. Internationale Buchmesse in Venezuela / Dies stellt eine seltene und aussergewöhnliche Bedrohung der Sicherheit der Vereinigten Staaten dar (Zitat aus Obamas jüngstem Anti-Venezuela-Dekret)

Venezuelas Parlament beschließt Vollmachten gegen US-Aggression

Freitag, 13. März 2015

12.03.2015   
Demonstration vor dem Parlament in Caracas gegen die US-Politik gegenüber Venezuela
Demonstration vor dem Parlament in Caracas gegen die US-Politik gegenüber Venezuela
Quelle: ciudadccs.info
Caracas. Venezuelas Nationalversammlung hat in erster Lesung einem Gesetz zugestimmt, das Präsident Nicolás Maduro mit Sondervollmachten ausstattet. Maduro hatte um das "bevollmächtigende Gesetz" (Ley Habilitante) ersucht, um per Präsidialdekret Maßnahmen zur Sicherung des Friedens und zur Verteidigung der Souveränität des Landes zu erlassen.
Hintergrund sind die zunehmend aggressiven Äußerungen der Regierung der USA, die Venezuela per Dekret von Präsident Barack Obama als "Bedrohung der nationalen Sicherheit" einstufen und dies als einen "nationalen Notstand" bezeichnen. Begründet sei dies angeblich durch die politische Situation in Venezuela.
Venezuela sehe sich einer "Bedrohung durch die größte Militärmacht der Welt" ausgesetzt, sagte Präsident Maduro nun vor dem Parlament. Deshalb erbitte er zeitlich beschränkte Vollmachten, um per Dekret "der Aggression entgegenzutreten" und Maßnahmen ergreifen zu können.
Die Vizepräsidentin des Parlaments, Tania Díaz, bezeichnete das Gesetz als wichtiges Instrument, um die Institutionalität in Venezuela sicherzustellen. Es befähige den Präsidenten, angesichts der potentiell bedrohlichen Situation kurzfristig Beschlüsse umzusetzen, ohne den Ausnahmezustand ausrufen zu müssen.
Maduro kündigte seinerseits vor der Nationalversammlung eine Militärübung für den kommenden Samstag, den 14. März, an. Er rief die Bevölkerung dazu auf, die Streitkräfte und Milizen in der Defensivübung zu unterstützen und klarzumachen, "dass kein Yankee-Stiefel jemals unser Land betreten wird". Venezuela verfüge über die Mittel, sich zu verteidigen, so der Präsident. Die Milizen aus freiwilligen Zivilisten, die zunächst in den ländlichen Gebieten von organisierten Bauern, später auch in staatlichen Fabriken und in den Armenvierteln des Landes aufgebaut wurden, sind seit 2010 formal in die Reserve der Streitkräfte integriert und symbolisieren nach eigenen Angaben die "zivil-militärische Einheit", die das venezolanische Volk und die Bolivarische Revolution verteidige.
Unterstützt wurde Maduros Antrag von einer Großdemonstration, die vor dem Parlament gegen die US-Politik gegenüber Venezuela protestierte. Am kommenden Sonntag soll eine zweite Lesung stattfinden, in der das Gesetz formell verabschiedet wird.

El Salvador: Schleichende Destabilisierung oder neue FMLN-Impulse

Montag, 9. März 2015



(zas,8.3.15) Seit einigen Tagen ist eine provisorische Einschätzung der Resultate der Parlaments- und Gemeindewahlen vom letzten Sonntag, dem 1. März, aufgrund der konkreten Aktenlage eher zu machen als vorher. Denn jetzt verfügen die Parteien, insbesondere der FMLN, über die grosse Mehrheit der Kopien der Akten der Wahltische. Grob zusammengefasst: Im Parlament dürfte die Rechtspartei ARENA oben aufschwingen, auf Gemeindeebene hat der Frente zwar weniger BürgermeisterInnenämter gewonnen als 2012, dafür aber die Hauptstadt und die Mehrzahl  der grossen Vorortsstädte San Salvadors zurückgeholt (z.B. Mejicanos und Soyapango) oder behalten (etwa Ciudad Delgado).  Damit ist dem FMLN der angestrebte Marsch  in Richtung strategischer Durchbruch nicht gelungen. Andererseits hat ARENA mit dem Verlust im Grossraum der Hauptstadt einen klaren Rückschlag erlitten. An dem faktisch seit 2007 existierenden strategischen Patt zwischen ARENA und FMLN hat sich, lässt sich jetzt gestützt auf Zahlen und nicht bloss Impressionen sagen, nichts Wesentliches geändert.
Aufgrund seiner Akten geht der Frente von 31 Parlamentssitzen gegenüber 32 bis vielleicht 34 für ARENA aus. Dies entspräche seinem Resultat von 2012. ARENA beharrt darauf, 36 Sitze gewonnen zu haben und zusammen mit ihren Alliierten die Parlamentsmehrheit stellen zu können.  Der FMLN seinerseits rechnet mit 42 Mandaten (eigenen und jenen der mit  ARENA verfeindeten Rechtspartei  GANA), also exakt der Hälfte der Sitze, um die Regierung zu unterstützen. Das bedingt weiterhin einen Postenschacher für GANA-Leute in Regierungsämtern und entsprechend eine weitere „Mässigung“ des Reformelans.
Aufgrund vor allem von falsch ausgefüllten Akten, hauptsächlich der Erschöpfung der Parteiendelegierten an den Wahltischen geschuldet – fast alle waren mehr als 24 Stunden im Dauereinsatz (s. die letzten Posts zu  den Wahlen in El Salvador) – sind aber alle Angaben zu den Parlamentswahlen nach wie vor von beträchtlicher  Unsicherheit geprägt. Die definitive Auszählung – Überprüfung der Akten – hat zwar letzten Donnerstag angefangen, wird aber nach allgemeiner Einschätzung noch ca. zwei Wochen andauern.

Ziel: Konfusion
ARENA hatte lange vor der Wahl begonnen, das Wahlgericht TSE als unfähigen und betrügerischen Haufen hinzustellen.  Der Grund ist einfach: Der neue TSE-Präsident Julio Olivo unterband erstmals einige „Spielchen“ von ARENA wie den vom TSE erbrachten Transport ihrer WählerInnen zu den Wahlzentren.  Der Mann war nicht kontrollierbar. Die grossen Medien schürten permanent ein Klima der Unsicherheit: Der FMLN mache Wahlbetrug; niemand wisse, wie im neuen, komplizierten und von der Verfassungskammer Ende 2014 aufgezwungenen neuen Wahlsystem (inkl. „gekreuzter Stimme“, in der Schweiz Panaschieren genannt) richtig die Stimme abzugeben; Falschinfos wurden verbreitet wie jene, es sei nicht mehr möglich, die Stimme direkt, ohne Umweg über einzelne ihrer KandidatInnen, einer Partei zu geben etc. Die Verfassungskammer des Obersten Gerichts gab eine Woche vor dem Wahltermin unerwartet eine Art Resolution von sich, die nichts Neues beinhaltete, aber unverständlich formuliert war. Ziel: weitere Verunsicherung. Komplettiert wurde das Bild mit medialen Chaosszenarien wie jenem, am Wahltag würden sich die Maras mit bewaffneten Grossoffensiven für erlittene Rückschläge rächen.

Das Fiasko
Dann kam das Fiasko des Wahltags – eine Stimmenauszählung an den Wahltischen, die sich mindestens bis in den Montag Morgen fortsetzte und bei der klar wurde, dass real nur die Allerwenigsten sattelfest wussten, wie das neue komplizierte Wahlsystem auszuzählen war. Das primär auf die Verfassungskammer zurückzuführende Chaos war vorausgesehen, nicht aber seine extreme Dimension. Unisono machten die rechten Parteien und die Medien aber das nicht rechts dominierte MagistratInnenteam des TSE verantwortlich, um so mehr, als die digitalisierte Übermittlung und Veröffentlichung der vorläufigen Resultate zusammengebrochen war. Sämtliche wichtigen Abteilungen des TSE (Wahlorganisation, Logistik, Finanzen, Personal, Rechtsangelegenheiten, WählerInnenregister u. a.) befinden sich fest in ARENA-Händen, so auch die Informatikdirektion. Doch schuld war logo TSE-Präsident Olivo. Als der Mann von Sabotage der vorläufigen, digitalisierten Auszählung der Wahltischakten sprach, erscholl ein mediales Dauergeheul und die Generalstaatsanwaltschaft, ebenfalls in ARENA-Hand, droht ihm mit einer Anklage wegen Diffamierung und Pflichtvernachlässigung. Dass die für die provisorische Auszählung benutzte Datenbank mit den Wahltischakten von dem mit der Erfassung der übermittelten Daten beauftragten Unternehmen nicht herausgerückt wurden (s. letzter Post zu den Wahlen in El Salvador), blieb wie alles andere, was Olivo in diesem Interview am Mittwoch Morgen sagte, in den grossen  Medien strikt unerwähnt.  Das Portal El Faro, das sich besonderer journalistischer Qualität rühmt, brachte die Sache in einem Interview mit dem Chef des fehlbaren Unternehmens in einer derart verqueren Art unter, dass kaum jemand überhaupt merken konnte, dass es hier nicht um ein technisches Businesssdetail ging.  

Anhaltende Delegitimierungskampagne
Das Aufheizen der Stimmung ging weiter. Die definitive Auszählung im TSE-Zentrum (Überprüfung der Akten auf Unstimmigkeiten, Behandlung von Einsprachen an den Wahltischen unter Beteiligung aller Parteien, der Generalstaatsanwaltschaft, der Menschenrechtsprokuratur, der departamentalen Wahlbehörden, beobachtet von der Mission der OAS)sollte spätestens am Mittwochmorgen beginnen. Doch mal fehlten die Leute der Rechten, mal konnten die Originalakten des Wahlgerichts wegen falsch konfigurierter Drucker nicht ausgedruckt werden, mal verschwanden die Glasfaserkabel der Logistikabteilung. Geheul der Medien und von ARENA: Der unfähige TSE-Präsident verschleppt die Auszählung zwecks Wahlbetrug. Derweil wollen die Gleichen in den Köpfen der Leute als evidente Tatsache verankern, dass ARENA 36 Abgeordnete und mit ihren Alliierten die klare Mehrheit im Parlament habe. Die Strategie ist klar: Sollte dies nicht der Fall sein, dann nur wegen Wahlbetrug.   
Vor zwei Tagen zirkulierte das falsche Gerücht von einer angeblichen Massenvergiftung der an der Auszählung Beteiligten wegen schlechten Essens. Nicht mal Essen kann das TSE servieren! Die Rechte und ihre Medien fordern eine Öffnung aller Wahlurnen mit Fehlern in den Akten. Das mit den Friedensabkommen von 1992 reformierte Wahlgesetz nennt bewusst nur einen Grund für die Öffnung spezifischer Urnen: Wenn die Zahl der angefochtenen Stimmen die Differenz zwischen Gewinner und Verlierer übersteigt. Grund: Während 80 Jahren der Diktatur erfolgte der regelmässige Wahlbetrug stets bei der zentralisierten Auszählung, weshalb der FMLN  allergisch auf jeden Versuch, eine solche wieder einzuführen, reagiert. Nun gibt es eindeutig manche fehlerhaften Akten, viele von ihnen lassen sich mit der bisher stets angewandten Methoden der „vernünftigen Korrektur“ lösen (etwa  Rechenfehler, da alle einzelnen Stimmenergebnisse in Zahl und in Wort festgehalten werden). In Fällen, wo dies nicht möglich sei, ist der Frente, wie mir gestern eine seiner Führungspersonen erklärte, eher bereit, die Urne auch bei einem für ihn vorteilhaftem Resultat für ungültig erklären zu lassen als die mit den Friedensabkommen durchgesetzte Modalität der Auszählung an den Wahltischen aufzuweichen und einer zentralisierten und damit im grossen Umfang auch manipulierbaren Behändigung der Wahlzettel zuzustimmen. Das Wahlgericht ist ohnehin nicht befugt, dem Ansinnen der Rechten nachzukommen und damit das Gesetz zu brechen. Es gäbe damit im Übrigen der Verfassungskammer eine Steilvorlage, die Wahlen für ungültig zu erklären. (Was die Kammer umgekehrt nicht zwangsläufig daran hindern muss, eine Nicht-Öffnung der Urnen als Verfassungsbruch zu definieren.)  Ein weiteres Manöverziel  ist, die Auszählung um weitere Wochen hinaus zu ziehen, wenn möglich mit der Folge, dass am 1. Mai kein neues Parlament zusammentreten kann.  
So haben wir die scheinbar paradoxe Situation, dass ARENA trotz für sie besser als erwarteten Resultate die Lage destabilisieren will, solange sie ihre Niederlage im Grossraum San Salvador nicht mit einer deutlichen Stärkung im Parlament ausgleichen kann. Spielte sie in den ersten Tagen, im Gegensatz zu den letztjährigen Präsidentschaftswahlen, als sie rechte Strassenkrawalle provozieren wollte, die Rolle einer gesitteten Kraft, die sich allein auf juristische Protestmittel beschränkt, kommt ihr realer Charakter immer mehr zum Vorschein. Brav versuchten sich dieser Tage ihre Pseudo-„historischen Kämpfer des FMLN“ in einer Strassenbesetzung wegen „Misshandlung“ durch die Regierung und prügelten sich ARENA-Prominente im Rechenzentrum des TSE mit Polizisten, um den Medien ungehinderten Zugang zu den Auszähltischen zu gewähren - um dort ein Chaos zu provozieren. Vermutlich wird dies zunehmen, insbesondere wenn es mit der angestrebten rechten Parlamentsmehrheit nicht klappen sollte.

Der Faktor Maras
Unabhängig von diesen Ereignissen verweisen immer mehr Berichte auf einen realen Wahleinfluss der Maras. Die sind mit der FMLN-Regierung unzufrieden, da diese nicht bereit ist, mit ihnen zu „verhandeln“. Wie Benito Lara, Sicherheitsminister, sagte: was verhandeln? Die Quote von Morden und Erpressungen? Nun leben vom Geschäft nicht nur mutmasslich zehntausende von Mara-Mitgliedern, sondern auch ihre Familien. Die Maras haben insofern eine ansehnliche soziale Basis. Ihren Anspruch, bei Wahlen mitzumischen, markierten sie ohnehin mit direkter Präsenz vor und in Wahlzentren. Nur als Detail: Der FMLN hatte für nationale und internationale WahlbeobachterInnen ein kleines, von aussen nicht gekennzeichnetes Infocenter für das Wahlwochenende eingerichtet. Kaum geöffnet, standen schon Mareros am Eingang, bis sie von der Polizei fortgewiesen werden konnten. Die Maras sind ein realer Machtfaktor, dessen Wahleinfluss mutmasslich nicht unterschätzt werden sollte.

Der Kongress
Doch natürlich sind sie oder immer noch mögliche diverse Betrugsmanöver nicht hauptverantwortlich für das ernüchternde Abschneiden des FMLN. Neben anderen Faktoren wie der durchaus bestehenden Bereitschaft auch in Unterklassensegmenten zur Komplizenschaft mit der rechten Macht dürfte auch eine sehr widersprüchliche Regierungspolitik Auswirkungen gezeigt haben. Neben positiven Momenten etwa in der Landwirtschaftspolitik, einer umfassenden, nicht ausschliesslich repressiven Politik in Sachen alltägliche Sicherheit oder Fortschritten gegen Geschlechtsdiskriminierung  tötet die offizielle Politik mit ihrem Weibeln für ein „günstiges Investitionsklima“ oder ein gutes Standing in Washington auf jeden Fall die Aufbruchsphantasien ab. Dass in vielen solchen Belangen auch vom FMLN keine klare, Bewusstsein schaffende Positionierung kam, verschärfte diesen Trend. Es ist zu schwer zu hoffen, dass im geplanten Diskussionsprozess des FMLN über solche Fragen, der gegen Ende Jahr in einen Grosskongress münden soll, neue Räume betreten werden.