(zas, 4.3.15)Einiges hat sich gegenüber dem letzten Post
etwas geklärt, manches nicht. Vermutlich wird dieser Tage der seit geraumer
Zeit begonnene Justizputsches im Land eskalieren. Insbesondere, falls sich die
anscheinend positiven Resultate für den FMLN bestätigen sollten.
Verzögerungen
Die letzten Wahltische hatten im Verlauf
des Montags ihre Auszählung beendet. Die generelle Ermüdung, ja Erschöpfung,
der ParteivertreterInnen an den Tischen hat zweifellos zu sehr vielen Fehlern
in der Auszählung und den Wahlakten geführt, unabhängig allenfalls angestrebter
betrügerischer Manipulationen. Nur ein Beispiel: Wenn jemand die Gesichter einzelner
KandidatInnen der gleichen Partei ankreuzt, wird die Stimme für die Partei
gezählt und die „marcas“, die Kreuze auf den Fotos, werden getrennt gezählt, um
die WählerInnenvorliebe für diese oder jene KandidatInnen zu ermitteln.
Offenbar haben die Leute an manchen Wahltischen aber nicht geschnallt, dass sie
solche „marcas“ als Stimme für die Partei zählen müssen. Viele Akten sind
deshalb inkongruent. Ihre zwangsläufige Überprüfung wird bei der theoretisch
gestern angelaufenen definitiven Auszählung unter Regie des Wahlgerichts TSE zu
beträchtlichen Verzögerungen führen.
Der ganze Prozess ist seit Schliessung der
Wahllokale letzten Sonntag durch grosse Verzögerungen gekennzeichnet, die nicht
dem Zufall oder einfach der Unfähigkeit geschuldet sind. Es gilt, die Quelle
der jeweiligen Verzögerungen zu unterscheiden. Auf der einen Seite haben wir
die eben angetönte Qual der Auszählung an den Wahltischen und die damit
einhergehenden Probleme, die sich vermutlich noch potenzieren werden. So hat
sich der Transport der physischen Wahlakten aus den Wahlzentren in die
Gemeindezentren, ihre Überprüfung und Weiterleitung schlussendlich an das Tse
derart verzögert, dass die theoretisch gestern Dienstag beginnende definitive
Auszählung heute Mittwoch Nachmittag immer noch hat begonnen werden können. Auf der anderen Seite haben wir „Verzögerungen“
wie jene der sogenannten vorläufigen Auszählung, die schliesslich vom TSE
ersatzlos gestrichen werden musste. Diese hätte darin bestanden, dass die
elektronisch an das Rechenzentrum des TSE übermittelten Wahltischakten relativ
bald nach Schluss der Auszählung der Wahltische ein ungefähres Ergebnis hätten
wiederspiegeln müssen, das auf der Resultatehomepage des TSE aufgeschaltet
werden sollte. Aus Kosten- und
grundsätzlichen Gründen heraus hatte das TSE entschieden, diesen Übermittlungsprozess
erstmals nicht an ein Privatunternehmen wie die spanische Indra zu vergeben,
sondern in Eigenregie, bei Subkontraktierung von 20 salvadorianischen
Unternehmen, zu organisieren. Eine Zusatzfinanzierung für eine Lösung à la
Indra hätte die Rechte im Parlament – seit sie die Totalkontrolle über das TSE
verloren hat, versucht sie, es als unfähigen und betrügerischen Haufen
hinzustellen – mit Bestimmtheit faktisch blockiert. Und das Geld aus anderen Budgetbereichen des
TSE zu nehmen, hätte bedeutet, die aus Spargründen ohnehin knapp bemessenen
Mitteln des TSE für die Aufklärung der Bevölkerung und die Schulung der
Wahltischdelegierten über die dank der Verfassungskammer des Obersten Gerichts
kurz vor dem Wahlgang veränderten Wahlmöglichkeiten ins Absurde zu reduzieren.
Das Problem nun ist, dass die
Informatikabteilung des TSE fest in ARENA-Hand ist. Sie hat den technisch nicht
versierten TSE-Mitgliedern die 20 subkontraktierten Unternehmen „vorgeschlagen“,
darunter auch jenes, das für den Absturz der vorläufigen Auszählung
hauptverantwortlich war. Dessen Cracks hatten es geschafft, einen Algorithmus
zu schreiben, der Daten aus der Gemeinde- mit jener der Parlamentswahl
vermischte! Als andere der subkontraktierten Unternehmen zwar den Fehler
finden, aber nicht beheben konnten, blieb dem TSE nichts anderes übrig, als die
„preliminares“ aufzugeben und alle Kapazitäten auf die definitive
Auszählung zu konzentrieren. Ob es der
Verfassungskammer des Obersten Gerichts gefallen wird, dies als verfassungswidrigen
Schritt zu taxieren, wird sich weisen. Einen andere Sache ist, dass
TSE-Präsident Julio Olivo, ehemaliger Dekan der Jura-Fakultät der Nationaluni, heute
sagte:
„Es gab eine Sabotage des Übermittlungsprozesses. Wir werden dies vor Gericht
beweisen und eine Reihe von Köpfen wird rollen. Sie haben dem Wahlprozess
unschätzbaren Schaden zugefügt und wollen das TSE diskreditieren.“
Zwei
sehr andersartige Quellen also der „Verzögerung“. Arena, der Unternehmerverband
ANEP, sein Thinktank Fusades und ihre Medien machen daraus natürlich ein
Amalgam. Das Fiasko der Stimmauszählung im Wahllokal verschwindet hinter jenem
der vorläufigen Auszählung, beide angeblich geschuldet dem Versagen eines
FMLN-geleiteten TSE, das den Wahlbetrug als Orientierung hat. Völlig
ausgeblendet bleibt dabei natürlich die Rolle der Verfassungskammer, die mit
der sofortigen Durchsetzung der „gekreuzten“ Wahlmodalität (Stimmabgabe
zugunsten von KandidatInnen verschiedener Parteien) in der ersten
Novemberhälfte des letzten Jahres gegen die Darlegungen ihres Präsidenten oder
des TSE die Spielregeln der Partie entscheidend verändert hat. Kurz vor Weihnachten verwarf die besagte
Kammer dann eine Auslegeordnung des TSE für das neue Wahldiktat und legte die
Gewichtung der gekreuzten Stimmen fest. Der Zeitplan des TSE war damit
definitiv aus den Fugen geraten, so mussten etwa die Schulungsmaterialien für
die Wahtischdelegierten neu erarbeitet und gedruckt werden … Das alles läuft
für die Rechte unter „Unfähigkeit“ des TSE. Es gibt hier übrigens linke
KolumnistInnen, die die Verdikte der Verfassungskammer immer noch für
gottgesandte Botschaften des Fortschritts und der individuellen Emanzipation
halten („Freiheit des Wählers“ etc.). Sie interessiert die konkrete Mechanik
von Wahlen oder anderen Prozessen nicht, die „Verseltsamung“ des Klimas und der
Mechanismen wird ihnen nichtig angesichts ihrer brillanten Einsichten in
tiefere politische Fragen. Leider wird sich die reale Macht davon nicht
beeinflussen lassen.
Resultate
Nach seiner internen Aktenlage hat der FMLN
nicht nur die Hauptstadt zurückgewonnen, sondern auch die meisten
Grossgemeinden ihrer Agglomeration. (ARENA anerkennt dies.) Er hat zwei
Departementshauptstädte verloren (Sta. Ana und Sta. Tecla), dafür San Miguel gewonnen.
Laut FMLN-Generalsekretär Medardo González an einer Pressekonferenz gestern werden
in Zukunft 68 % der Bevölkerung (bisher knapp unter 50 %) in FMLN-regierten
Gemeinden leben, auch wenn deren Zahl leicht abgenommen hat. Im Parlament werde
der Frente vorne liegen. Gegenteilig tönt es von ARENA. Danach würden etwa 38 %
der Bevölkerung in FMLN-regierten und 48 % in ARENA-beherrschten Gemeinden
liegen. Angesichts des von ARENA anerkannten Verlusts im bevölkerungsreichen
Grossraum San Salvador scheinen diese Zahlen aber sehr seltsam. Im Parlament
wird ARENA nach Eigendarstellung zwischen 33 und 36 (von insgesamt 84) Abgeordneten
haben. Bei den Parlamentswahlen 2012 hatte diese Partei 33 Sitze gewonnen, der
FMLN 31. Ähnlich positiv will sich ARENA auch im zentralamerikanischen Parlament
Parlacen situiert sehen. Nun hat sich ARENA
noch nie durch glaubwürdige Wahlangaben ausgezeichnet, im Gegensatz zum FMLN.
Aber es hat keinen Sinn, ohne genauen Einblick in die Wahlaktenlage zu haben, zu
spekulieren. Insbesondere können auch die o. e. Erschöpfungsfehler und das
geltende System der Residualstimmen das Bild noch verändern. Nach unbestätigten
Aussagen der rechten Kleinpartei PCN fliegen die ebenfalls mit ARENA verbündete
Christdemokratie und die zentristische CD aus dem Parlament.
Maras, Wahlbeteiligung und
WählerInnenregister
Die Berichte verdichten sich, dass an
mehreren Orten des Landes inkl. der Hauptstadt die Maras in den und um die
Wahllokale herum Präsenz markiert haben,
um die Leute einzuschüchtern – mutmasslich für die Stimmabgabe zugunsten
rechter Parteien. Wieweit dies und generell die verbreitete Angst vor den
Wahlen, die Maras würden den Wahltag für spektakuläre Gewaltaktionen benutzen,
Wahlbeteiligung und Stimmverhalten beeinflusst haben, wird hoffentlich ein
wenig klarer werden. Über die reale Wahlbeteiligung liegen mir keine auf
Aktenlage gestützten Angaben vor. Sie wird auf jeden Fall als einiges geringer
als real eingeschätzt werden. An einem
Treffen vor dem Wahltag machte dies die stellvertretende TSE-Magistratin deutlich:
„Wir haben im Land schätzungsweise 6.5 Millionen EinwohnerInnen. Im
WählerInnenregister haben wir fast 5 Millionen Personen eingetragen. Dies,
obwohl wir ja alle wissen, dass wir sehr viele Kinder haben.“ Das Register ist
nach wie vor nur sehr partiell bereinigt. Langfristig Ausgewanderte, Tote u.a.
sind immer noch darin enthalten. TSE-Chefmagistrat Olivo hatte vor einigen
Monaten darauf hingewiesen, dass er keinen Einblick in das Register habe, da
ihm ein TSE-„Techniker“ diesen verweigere. Das Register befindet sich im TSE
weiter fest in ARENA-Hand.
Islamophobie
Der jugendliche FMLN-Kandidat für das
Bürgermeisteramt in der Hauptstadt war mit Nayib Bukele ein Sprössling einer von
arabischen EinwanderInnen abstammenden Unternehmerfamilie. Der Grossteil seiner
öffentlichen Aussagen in dieser Kampagne war wie schon früher perfekter
Ausdruck einer „Modernität“ der social media, weitgehend von realen Inhalten entleert.
Elektoral kam er damit gut an. Es wird sich zeigen, wie Nayib im politischen
Alltag der Hauptstadt agieren wird.
Eine andere Sache ist, wie gegen ihn eine
üble islamophobe Kampagne hochgezogen wurde. Sein Vater, ein bekannter, mit der
traditionellen Oligarchie im Clinch liegender schwerreicher Unternehmer, ist
Schiit. Ich glaubte zu spinnen, als ich
hier ankam und feststellte, wie viele Leute sich von einer von ARENA-nahen
KolumnistInnen in den traditionellen und den social media verarschen und
einschüchtern liessen. Tenor: Nayib wird das Christentum unterdrücken und den
Islam zur Staatsreligion machen! Gerade heute hat La Mentira Gráfica einen
Kommentar eines bekannten „Analysten“ veröffentlicht, der Nayibs Wahlsieg in
San Salvador mit dem Beginn der frühmittelalterlichen arabischen Eroberung der
iberischen Halbinsel gleichgesetzt! Während es in Honduras schon seit einiger
Zeit eine rassistisch geprägte Hetze gegen die arabischstämmige Oligarchie
gibt, war dies in El Salvador bis dato kein Thema, und schon gar nicht im Sinne
einer drohenden Zwangsislamisierung.
Los tiempos cambian.
Einschätzungen zu anderen Aspekten der
Wahlen (auch im Kontext der Regierungspolitik) werden wohl erst später
zutreffend gemacht werden können. Vorerst aber steht im Zentrum klar, ob sich
die Destabilisierung inkl. Justizentscheide verschärfen oder ob sie scheitern
wird.