(zas,8.3.15) Seit einigen Tagen ist eine
provisorische Einschätzung der Resultate der Parlaments- und Gemeindewahlen vom
letzten Sonntag, dem 1. März, aufgrund der konkreten Aktenlage eher zu machen
als vorher. Denn jetzt verfügen die Parteien, insbesondere der FMLN, über die
grosse Mehrheit der Kopien der Akten der Wahltische. Grob zusammengefasst: Im
Parlament dürfte die Rechtspartei ARENA oben aufschwingen, auf Gemeindeebene
hat der Frente zwar weniger BürgermeisterInnenämter gewonnen als 2012, dafür
aber die Hauptstadt und die Mehrzahl der
grossen Vorortsstädte San Salvadors zurückgeholt (z.B. Mejicanos und Soyapango)
oder behalten (etwa Ciudad Delgado).
Damit ist dem FMLN der angestrebte Marsch in Richtung strategischer Durchbruch nicht
gelungen. Andererseits hat ARENA mit dem Verlust im Grossraum der Hauptstadt einen
klaren Rückschlag erlitten. An dem faktisch seit 2007 existierenden
strategischen Patt zwischen ARENA und FMLN hat sich, lässt sich jetzt gestützt
auf Zahlen und nicht bloss Impressionen sagen, nichts Wesentliches geändert.
Aufgrund seiner Akten geht der Frente von
31 Parlamentssitzen gegenüber 32 bis vielleicht 34 für ARENA aus. Dies
entspräche seinem Resultat von 2012. ARENA beharrt darauf, 36 Sitze gewonnen zu
haben und zusammen mit ihren Alliierten die Parlamentsmehrheit stellen zu
können. Der FMLN seinerseits rechnet mit
42 Mandaten (eigenen und jenen der mit ARENA verfeindeten Rechtspartei GANA), also exakt der Hälfte der Sitze, um
die Regierung zu unterstützen. Das bedingt weiterhin einen Postenschacher für
GANA-Leute in Regierungsämtern und entsprechend eine weitere „Mässigung“ des
Reformelans.
Aufgrund vor allem von falsch ausgefüllten
Akten, hauptsächlich der Erschöpfung der Parteiendelegierten an den Wahltischen
geschuldet – fast alle waren mehr als 24 Stunden im Dauereinsatz (s. die
letzten Posts zu den Wahlen in El
Salvador) – sind aber alle Angaben zu den Parlamentswahlen nach wie vor von beträchtlicher
Unsicherheit geprägt. Die definitive
Auszählung – Überprüfung der Akten – hat zwar letzten Donnerstag angefangen,
wird aber nach allgemeiner Einschätzung noch ca. zwei Wochen andauern.
Ziel: Konfusion
ARENA hatte lange vor der Wahl begonnen,
das Wahlgericht TSE als unfähigen und betrügerischen Haufen hinzustellen. Der Grund ist einfach: Der neue TSE-Präsident
Julio Olivo unterband erstmals einige „Spielchen“ von ARENA wie den vom TSE
erbrachten Transport ihrer WählerInnen zu den Wahlzentren. Der Mann war nicht kontrollierbar. Die grossen
Medien schürten permanent ein Klima der Unsicherheit: Der FMLN mache
Wahlbetrug; niemand wisse, wie im neuen, komplizierten und von der
Verfassungskammer Ende 2014 aufgezwungenen neuen Wahlsystem (inkl. „gekreuzter
Stimme“, in der Schweiz Panaschieren genannt) richtig die Stimme abzugeben;
Falschinfos wurden verbreitet wie jene, es sei nicht mehr möglich, die Stimme
direkt, ohne Umweg über einzelne ihrer KandidatInnen, einer Partei zu geben
etc. Die Verfassungskammer des Obersten Gerichts gab eine Woche vor dem
Wahltermin unerwartet eine Art Resolution von sich, die nichts Neues
beinhaltete, aber unverständlich formuliert war. Ziel: weitere Verunsicherung. Komplettiert
wurde das Bild mit medialen Chaosszenarien wie jenem, am Wahltag würden sich
die Maras mit bewaffneten Grossoffensiven für erlittene Rückschläge rächen.
Das Fiasko
Dann kam das
Fiasko des Wahltags – eine Stimmenauszählung an den Wahltischen, die sich
mindestens bis in den Montag Morgen fortsetzte und bei der klar wurde, dass
real nur die Allerwenigsten sattelfest wussten, wie das neue komplizierte
Wahlsystem auszuzählen war. Das primär auf die Verfassungskammer
zurückzuführende Chaos war vorausgesehen, nicht aber seine extreme Dimension. Unisono
machten die rechten Parteien und die Medien aber das nicht rechts dominierte
MagistratInnenteam des TSE verantwortlich, um so mehr, als die digitalisierte
Übermittlung und Veröffentlichung der vorläufigen Resultate zusammengebrochen war.
Sämtliche wichtigen Abteilungen des TSE (Wahlorganisation, Logistik, Finanzen,
Personal, Rechtsangelegenheiten, WählerInnenregister u. a.) befinden sich fest
in ARENA-Händen, so auch die Informatikdirektion. Doch schuld war logo
TSE-Präsident Olivo. Als der Mann von Sabotage der vorläufigen, digitalisierten
Auszählung der Wahltischakten sprach, erscholl ein mediales Dauergeheul und die
Generalstaatsanwaltschaft, ebenfalls in ARENA-Hand, droht ihm mit einer Anklage
wegen Diffamierung und Pflichtvernachlässigung. Dass die für die provisorische
Auszählung benutzte Datenbank mit den Wahltischakten von dem mit der Erfassung
der übermittelten Daten beauftragten Unternehmen nicht herausgerückt wurden (s.
letzter Post zu den Wahlen in El Salvador), blieb wie alles andere, was Olivo
in diesem Interview am Mittwoch Morgen sagte, in den grossen Medien strikt unerwähnt. Das Portal El Faro, das sich besonderer
journalistischer Qualität rühmt, brachte die Sache in einem Interview mit dem
Chef des fehlbaren Unternehmens in einer derart verqueren Art unter, dass kaum
jemand überhaupt merken konnte, dass es hier nicht um ein technisches Businesssdetail
ging.
Anhaltende Delegitimierungskampagne
Das Aufheizen der Stimmung ging weiter. Die
definitive Auszählung im TSE-Zentrum (Überprüfung der Akten auf
Unstimmigkeiten, Behandlung von Einsprachen an den Wahltischen unter
Beteiligung aller Parteien, der Generalstaatsanwaltschaft, der
Menschenrechtsprokuratur, der departamentalen Wahlbehörden, beobachtet von der
Mission der OAS)sollte spätestens am Mittwochmorgen beginnen. Doch mal fehlten
die Leute der Rechten, mal konnten die Originalakten des Wahlgerichts wegen
falsch konfigurierter Drucker nicht ausgedruckt werden, mal verschwanden die
Glasfaserkabel der Logistikabteilung. Geheul der Medien und von ARENA: Der
unfähige TSE-Präsident verschleppt die Auszählung zwecks Wahlbetrug. Derweil wollen
die Gleichen in den Köpfen der Leute als evidente Tatsache verankern, dass
ARENA 36 Abgeordnete und mit ihren Alliierten die klare Mehrheit im Parlament habe.
Die Strategie ist klar: Sollte dies nicht der Fall sein, dann nur wegen
Wahlbetrug.
Vor zwei Tagen zirkulierte das falsche
Gerücht von einer angeblichen Massenvergiftung der an der Auszählung
Beteiligten wegen schlechten Essens. Nicht mal Essen kann das TSE servieren!
Die Rechte und ihre Medien fordern eine Öffnung aller Wahlurnen mit Fehlern in
den Akten. Das mit den Friedensabkommen von 1992 reformierte Wahlgesetz nennt
bewusst nur einen Grund für die Öffnung spezifischer Urnen: Wenn die Zahl der
angefochtenen Stimmen die Differenz zwischen Gewinner und Verlierer übersteigt.
Grund: Während 80 Jahren der Diktatur erfolgte der regelmässige Wahlbetrug
stets bei der zentralisierten Auszählung, weshalb der FMLN allergisch auf jeden Versuch, eine solche
wieder einzuführen, reagiert. Nun gibt es eindeutig manche fehlerhaften Akten,
viele von ihnen lassen sich mit der bisher stets angewandten Methoden der „vernünftigen
Korrektur“ lösen (etwa Rechenfehler, da
alle einzelnen Stimmenergebnisse in Zahl und in Wort festgehalten werden). In
Fällen, wo dies nicht möglich sei, ist der Frente, wie mir gestern eine seiner
Führungspersonen erklärte, eher bereit, die Urne auch bei einem für ihn vorteilhaftem
Resultat für ungültig erklären zu lassen als die mit den Friedensabkommen
durchgesetzte Modalität der Auszählung an den Wahltischen aufzuweichen und einer
zentralisierten und damit im grossen Umfang auch manipulierbaren Behändigung
der Wahlzettel zuzustimmen. Das Wahlgericht ist ohnehin nicht befugt, dem
Ansinnen der Rechten nachzukommen und damit das Gesetz zu brechen. Es gäbe damit
im Übrigen der Verfassungskammer eine Steilvorlage, die Wahlen für ungültig zu
erklären. (Was die Kammer umgekehrt nicht zwangsläufig daran hindern muss, eine
Nicht-Öffnung der Urnen als Verfassungsbruch zu definieren.) Ein weiteres Manöverziel ist, die Auszählung um weitere Wochen hinaus zu
ziehen, wenn möglich mit der Folge, dass am 1. Mai kein neues Parlament
zusammentreten kann.
So haben wir die scheinbar paradoxe
Situation, dass ARENA trotz für sie besser als erwarteten Resultate die Lage
destabilisieren will, solange sie ihre Niederlage im Grossraum San Salvador
nicht mit einer deutlichen Stärkung im Parlament ausgleichen kann. Spielte sie
in den ersten Tagen, im Gegensatz zu den letztjährigen Präsidentschaftswahlen,
als sie rechte Strassenkrawalle provozieren wollte, die Rolle einer gesitteten Kraft,
die sich allein auf juristische Protestmittel beschränkt, kommt ihr realer
Charakter immer mehr zum Vorschein. Brav versuchten sich dieser Tage ihre Pseudo-„historischen
Kämpfer des FMLN“ in einer Strassenbesetzung wegen „Misshandlung“ durch die
Regierung und prügelten sich ARENA-Prominente im Rechenzentrum des TSE mit Polizisten,
um den Medien ungehinderten Zugang zu den Auszähltischen zu gewähren - um dort
ein Chaos zu provozieren. Vermutlich wird dies zunehmen, insbesondere wenn es
mit der angestrebten rechten Parlamentsmehrheit nicht klappen sollte.
Der Faktor Maras
Unabhängig von diesen Ereignissen verweisen
immer mehr Berichte auf einen realen Wahleinfluss der Maras. Die sind mit der
FMLN-Regierung unzufrieden, da diese nicht bereit ist, mit ihnen zu „verhandeln“.
Wie Benito Lara, Sicherheitsminister, sagte: was verhandeln? Die Quote von
Morden und Erpressungen? Nun leben vom Geschäft nicht nur mutmasslich
zehntausende von Mara-Mitgliedern, sondern auch ihre Familien. Die Maras haben
insofern eine ansehnliche soziale Basis. Ihren Anspruch, bei Wahlen
mitzumischen, markierten sie ohnehin mit direkter Präsenz vor und in
Wahlzentren. Nur als Detail: Der FMLN hatte für nationale und internationale
WahlbeobachterInnen ein kleines, von aussen nicht gekennzeichnetes Infocenter für
das Wahlwochenende eingerichtet. Kaum geöffnet, standen schon Mareros am
Eingang, bis sie von der Polizei fortgewiesen werden konnten. Die Maras sind
ein realer Machtfaktor, dessen Wahleinfluss mutmasslich nicht unterschätzt
werden sollte.
Der Kongress
Doch natürlich sind sie oder immer noch
mögliche diverse Betrugsmanöver nicht hauptverantwortlich für das ernüchternde
Abschneiden des FMLN. Neben anderen Faktoren wie der durchaus bestehenden
Bereitschaft auch in Unterklassensegmenten zur Komplizenschaft mit der rechten
Macht dürfte auch eine sehr widersprüchliche Regierungspolitik Auswirkungen
gezeigt haben. Neben positiven Momenten etwa in der Landwirtschaftspolitik, einer
umfassenden, nicht ausschliesslich repressiven Politik in Sachen alltägliche Sicherheit
oder Fortschritten gegen Geschlechtsdiskriminierung tötet die offizielle Politik mit ihrem Weibeln
für ein „günstiges Investitionsklima“ oder ein gutes Standing in Washington auf
jeden Fall die Aufbruchsphantasien ab. Dass in vielen solchen Belangen auch vom
FMLN keine klare, Bewusstsein schaffende Positionierung kam, verschärfte diesen
Trend. Es ist zu schwer zu hoffen, dass im geplanten Diskussionsprozess des
FMLN über solche Fragen, der gegen Ende Jahr in einen Grosskongress münden
soll, neue Räume betreten werden.