(zas, 31.3.15) Der
sog. Waffenstillstand, die Tregua, zwischen
den Maras, verwirklicht ab dem Moment, als der vorherige Präsident Mauricio
Funes alle FMLN-Leute aus den entscheidenden Posten in den Sicherheitskräften
raus warf und in der Polizei jene Washington-nahen Kräfte wieder ans Ruder
holte, die berüchtigt waren für Menschenrechtsverbrechen und teilweise
Drogenhandelconnections, hatte zuerst ein schönes Gesicht: Die Mordrate sank
innert kurzer Zeit von 12-14 Morden auf 5-6 pro Tag. Die Kehrseite: Das
faktische Stillhalteabkommen zwischen Polizei und Maras brachte diesen ein Ausmass an Straffreiheit, das sie für eine
besorgniserregende Ausweitung ihrer Kontrolle über vor allem Unterklassenzonen
benutzten.
Alltagsrealitäten
Die Sicherheitslage ist eindeutig ein Terrain, auf dem der
Frente in den nächsten ein, zwei Jahren massive Verbesserungen erreichen muss.
Alle Basismitglieder des FMLN, mit denen ich gesprochen habe, haben das betont.
Mit Grund: Ein Freund, der oft bis spät nachts arbeitet und dann nach Hause im
Unterklassenquartier in Apopa fährt, ruft nach 10 h nachts nicht die Polizei,
sondern den lokalen Mara-Chef an, um die Erlaubnis für die Fahrt im eigenen Wohnquartier
zu erhalten. Wer Arbeitseinkommen hat (und sei es ein erbärmlicher ambulanter
Marktstand), zahlt den Maras einkommensabhängige Steuern – oder riskiert, von
ihnen spitalreif geschlagen oder ermordet zu werden. Kaum eine Kneipe, kaum ein
Taxifahrer, die nicht „Rente“ zahlen. Es kommt vor, dass Regierungsämter – sie zahlen
keine „Rente“ – Arbeiten in gewissen Zonen nur nach Absprache mit den lokalen
Herren der Maras in Angriff nehmen – zum Schutz des Personals. Befreundete
BäuerInnen, Ex-Guerillas, koordinieren ihren Alltag, seit sie von den Banden
bedroht werden, weil sie ihnen keine „Rente“ zahlen. „Wir hatten Krieg gegen die Ausbeutung geführt – jetzt sollen wir das
schlucken?!“, wie einer von ihnen sagte. Zu den Hafterleichterungen für
gefangene Mara-Grandes während der Tregua, des Waffenstillstands, gehörte
die Wiederzulassung von Intimbesuchen. Oft läuft das so: Die junge Frau, das
Mädchen in den Mara-Zonen wird angewiesen, den wildfremden Jefe „intim zu
besuchen“, ansonsten sie oder ihre Familie Schaden nehmen würde. Nur um die
reichen Zonen machen die Maras einen Bogen – sie wissen um die privaten
Sicherheitsarmeen dieser Klasse.
Die FMLN-Regierung von Sánchez Cerén ist nicht bereit,
diesen „Waffenstillstand“ weiterzuführen. Seither ist die Mordrate wieder auf
im Schnitt 10 Morde pro Tag gestiegen (laut Polizeiangaben handelt es sich bei
70 % der Täter und bei 35 % der Opfer um Mareros). Neu kommt es zu
systematischen Morden an Polizeimitgliedern (allein 14 in diesem Jahr) und
selbst an Soldaten. Zu Beginn der Regierung Funes hatte mir ein Genosse,
der Marktverkäufer ist und schon damals
unter dem Bandenterror litt, gesagt: „Jetzt
muss die Regierung durchgreifen. Noch respektiert der Marero die Uniform. Wir
sind noch nicht wie in Mexiko. Doch entweder sie greift durch oder wir werden
hier mexikanische Zustände kriegen.“
Wir hatten diskutiert, ich war gegen den Einsatz der Armee in der
Kriminalitätsbekämpfung, er dafür. Heute, nach dem „Waffenstillstand“, wird
„die Uniform“ nicht mehr respektiert, sondern angegriffen. Kein revolutionärer
Akt. Der Einfluss der nationalen und internationalen Drogenkartelle bei einem
Teil der Maras scheint massiv gestiegen zu sein. Nach dem Wegfall der Tregua ist offenbar wieder offener Krieg
um die lukrative Kontrolle der Transitrouten des Drogenhandels ausgebrochen. Es
sind offenbar minoritäre Teile der Maras, die sich über den Kleindeal hinaus
dafür instrumentalisieren lassen. Aber sie sind gefährlich. Nach aktuell
zirkulierenden Gerüchten haben sich einige hundert Mareros zu professionellen Auftragskillern ausbilden lassen – im
Ausland.
Es besteht kein Zweifel, dass in einigen Gebieten die Maras
die Bevölkerung zum richtigen Wahlverhalten gezwungen haben – gegen den FMLN.
Seit die Wahllokale näher an den Wohnorten der Leute liegen, können die Maras
einschätzen, ob ihren Anweisungen Folge geleistet wurde oder nicht. Sie können
ungefähr wissen, wer wählen ging und wer nicht – und wer sich nicht an ihre „Orientierung“
gehalten haben könnte. Zumindest glauben das die Leute vor Ort – und die wissen
meistens gut über solche Dinge Bescheid.
Wer solche Realitäten mitschneidet, kann nicht einfach gegen
Repression sein. Allerdings: Trotz massiver Verbesserungen im Polizeikorps gibt
es immer noch eine menschenrechtsverletzende, folternde Seilschaft. Die ist
nicht minder gefährlich. Und zumindest kommt man bei der Meldung von vor ein
paar Tagen ins Sinnieren: Polizisten gerieten in einen Hinterhalt, riefen
Verstärkung herbei, mit dem Resultat von einem verletzten Polizisten und acht
toten Mareros…. Zudem informieren manchmal PolizistInnen, freiwillig oder
erpresst – auch sie leben in Unterklassenquartieren – die Banden über
bevorstehende Operationen.
Die Frente-Strategie
Die Frente-/Regierungsstrategie versucht, das erfolgreiche
nicaraguanische Modell einzuführen. Die eine Schiene: Repression gegen den hard core der Maras, aber auch der
organisierten und „respektablen“ Kriminalität. Die andere: den Maras die Kids
abspenstig machen. National bis ins Wohnviertel oder ins Kaff hinein sollen
möglichst alle gesellschaftlichen Kräfte zusammenkommen und gemeinsam
Strategien gegen die Unsicherheit entwickeln und umsetzen. Die Regierung, die
Kirchen, die sozialen Organisationen, die Unternehmerverbände, die Parteien,
die Kulturschaffenden, die Sicherheitskräfte, die Sportvereine – vor Ort der
Pastor, die Ladenbesitzerin, der Organisator des Fussballturniers, die neuen
GemeinschaftspolizistInnen (community policing). Sie kennen die Leute, wissen
um die Probleme, sollen eingreifen können, bevor es wirklich heavy wird.
Gepaart mit sozialen und beruflichen Integrationsangeboten, wobei bei letzteren
die Perspektiven noch sehr unklar sind. Welches Unternehmen stellt
Exbandenmitglieder ein, wer gibt ihnen Kredit?
Es ist klar, in Hard-Core-Zonen
der Banden wird sich dieses Konzept nicht so schnell durchsetzen lassen. Eine
FMLN-Aktivistin ging vor ein paar Monaten an ein erstes derartiges Treffen in
ihrem Wohngebiet in der Mara-Zone. Nach ihrer Heimkehr klopfte es an der Tür, ein
Nachbarjunge wollte wissen, was genau besprochen worden sei und liess
ausrichten, sie nehme da besser nicht mehr Teil. Die Frau ist aus dem Frente
ausgetreten, aus Angst um sich und ihre Kinder. In anderen Zonen kann das
Konzept Erfolg zeitigen und von dort aus langsam auch in „schwierigere“ Gebiete
ausstrahlen. Tatsache ist, wenn auch nicht in jedem Fall, dass in Gebieten mit
starker Frenteorganisation der lokalen Bevölkerung die Maras keinen fruchtbaren
Boden vorfinden. Ich war kürzlich in der Berggemeinde Tejutepeque im politisch
extrem konservativen Department Cabañas. Hier hatte der Frente die Lokalwahlen
gewonnen. Auf die Frage nach den Maras meinte ein Compañero vom lokalen
Komitee: „Ab und an gibt es Probleme.
Aber nicht sehr grosse. Im Allgemeinen ist es ruhig Wir kennen die Leute und
wir reden mit unseren Kindern.“
Tejutepeque, März 2015: Das Landwirtschaftsministerium verteilt über die lokale Selbsthilfeorganisation ADIT national hergestelltes, angepasstes und billiges Saatgut. |
In
der Gemeinde San Fernando im Department Chalatenango, spürbare FMLN-Tradition,
sagte mir die Krankenschwester: „Als Frau
kann ich noch nachts um 12 allein auf die Strasse. Vielleicht gibt es mal einen
Besoffenen, der etwa Ärger macht. Aber nichts Schlimmes.“ Eine solche Aussage in El Salvador scheint wie
von einem anderen Planeten zu stammen, und zudem noch für eine Gemeinde, die
als Transitort für den Drogentransport aus Honduras nach Guatemala und al norte gilt. Einige Stunden später, in
der traditionell eher rechten Gemeinde Ocotal: ein Dorffest, am Rande eine
Gruppe zugedröhnter Männer und einer Frau der lokalen Mara, ihre Haltung lässt
keinen Zweifel, wer hier die Kings sind.
Gegen ARENA, ANEP und
die Maras
Gelingt es dem FMLN, auf diesem Gebiet reale Verbesserungen
in Gang zu setzen und – nicht minder schwierig – dies medial zu transportieren,
hat er die nächsten Wahlen gewonnen. Wenn nicht – gute Nacht. Immerhin, ganz
chancenlos ist er wohl nicht. Vor einigen Tagen, am 26. März, hatte der „Rat
für BürgerInnensicherheit“ – so heisst das nationale Gremium um die Regierung
herum – zu Demos im ganzen Land für Frieden, für Sicherheit, gegen Gewalt
aufgerufen, auf die Tradition der „Märsche in weiss “ zurückgreifend. Die
Parlamentsmehrheit hatte den Tag zum nationalen Feiertag erklärt, gegen den
wütenden Protest von ARENA und ANEP, dem Grossunternehmerverband, und ihrer
Medien. Wichtig dabei war der Versuch,
die Leute anzuturnen, sich selber – vorerst symbolisch – für eine Veränderung
der Lage einzusetzen. Präsident Sánchez Cerén sprach am nächsten Tag von einer
halben Million von TeilnehmerInnen. Es war jedenfalls die grösste Mobilisierung
seit vielen Jahrzehnten. Die Rechte hatte ihre Medien pausenlos auf
Demobilisierung setzen lassen. Kurz nach
den Wahlen fuhr sie so eine erste Niederlage ein. Zwar berichteten ihre
Zeitungen am Tag nach den weissen Märschen so gut wie nichts darüber, doch
Radio und Fernsehen waren am 26. während einer halben Stunde in einer
nationalen Sendekette zusammengeschlossen und mussten so die Bilder der
Riesendemos zeigen. Bemerkenswert: viele, sehr viele Jugendliche dabei.
Und noch wer setzte auf Demobilisierung: die Maras. In den
Wohnzonen, wo sie das kontrollieren konnten, überprüften sie, wer
„unentschuldigt“ abwesend war.
(Es ist schon eigenartig, wie aus einem Phänomen von Banden
von Unterklassenjugendlichen ohne andere Perspektiven innert 20 Jahren eine
neue, moderne Form des Gewaltterrors, der früher als Militärdiktatur
wirkte, entstanden ist. Eine Form von brutalem, „primitiven“
Kapitalismus, gesteuert natürlich von oben, über Rahmenbedingungen und
Zurverfügungstellung von Waffen, Protektion etc., aber alimentiert von unten. )