Die Stunde hat geschlagen, Venezuela

Dienstag, 30. Mai 2017



Marco  Teruggi*
(Caracas, 28. Mai 2017)  Die Stunde hat geschlagen, Venezuela. Das zeigen alle Variablen. Die von Sektoren wie Voluntad Popular und Primero Justicia angeführte Rechte hat jeden Dialog abgebrochen – sie erkennt den Vatikan nicht mehr als Mittler an – und erklärt vorgezogene allgemeine Wahlen zur einzigen Lösung. Sie hat offen zur Rebellion aufgerufen und die Einberufung einer Verfassungsgebenden Versammlung für illegal erklärt. Sie wird sich daran nicht beteiligen, alles versuchen, um ihre Entstehung zu verhindern, und sie wird die Strassenkämpfe verschärfen.
Das ist der Diskurs für die nationalen und internationalen Medien, so ist das öffentliche Szenario ausgerichtet, das sie Anfang April in Gang setzten. Das ist die Oberfläche, auf der sie sich in einer Art „Epos für die Freiheit“ wähnen, von dem ihre mobilisierte gesellschaftliche Basis absolut überzeugt ist. In mehr als 50 Tagen der Konfrontation sind sie zahlenmässig nicht gewachsen, aber sie haben es geschafft, eine Konfliktivität mit grosser Ausstrahlung zu schaffen, undenkbar ohne die mediale Überdimensionierungs.
Die Gefahr lauert jedoch in den Schatten, die wütend emporsteigen: Ein Aufstandsplan ist in Gang, den auf den Strassen der Paramilitarismus anführt, und der schon in ungefähr zehn Städten zugeschlagen hat. Wir kennen die Bilder und Zeugnisse: Es geht um die Brandlegung in Spitälern, staatlichen Einrichtungen, chavistischen Parteilokalen; um Plünderungen und Zerstörungen von Stadtzentren – in Socopó-; den Versuch, eine bewaffnete Territorialkontrolle aufrechtzuhalten – in San Antonio Los Altos -; Angriffe auf Polizei- und Armeekasernen – sieben an einem Tag im Gliedstaat Barinas; Morde an chavistischen Kadern; Ausgangsperren – in San Cristóbal - ; Drohungen gegen Händlerinnen und Camionneure - in Los Teques- ; den Versuch, die Lebensmittelversorgung zu kappen - in Caracas. Es handelt sich um paramilitärische Formationen ohne Identifikation, die sich im Territorium bewegen mit dem Ziel von Belagerungs- und Terrorzyklen in Schlüsselorten des Landes.
Socopó, am 25. Mai 2017. Bild: Albaciudad
Es geht um eine während Jahren vorbereite Kriegsoperation. Hier wurzelt der reale Plan der Rechten,  die Gewaltniveaus für folgende Ziele zu erhöhen. Erstens: Die Konfrontation bis zu einem Punkt eskalieren, an dem ein des Chavismus verdächtigter Junge auf offener Strasse gelyncht und in Brand gesetzt werden soll. Zweitens: bewaffnete zivile Zusammenstösse entfesseln. Drittens: Caracas belagern. Viertens: Symbolisch und in der Tat Teile des Territoriums kontrollieren. Fünftes: das Land in ein Chaos zu stürzen. Sechstens: die offene internationale Intervention erreichen- die verdeckte läuft schon.
Heute gibt es keine Aufrufe,die diese Agenda demontieren könnten. Die USA gaben grünes Licht und die Regierung Kolumbiens – Hinterland des Paramilitarismus – bewegt ihre Schachfiguren in Funktion dieser Strategie. Der feindliche Block – rechte Parteien, Viehzüchter, Grossunternehmer, Episkopat - hat sich nicht gespalten, sondern neue wichtige Elemente integriert, wie die Generalstaatsanwältin, neue Figur im Putschvorstoss. Jetzt oder nie, sagen sie. Die Stunde hat geschlagen, Venezuela.
***
Der Spielraum für den Chavismus ist klein. Die Einberufung der Konstituante, die im Juli gewählt wird, bietet die Möglichkeit, die Kräfte im Territorium neu zu gruppieren und eine Bewegung zu reaktivieren, die weitgehend in ihrer bürokratischen Logik gefangen ist. Die Einberufung sollte aber vorallem die Rechte wieder in einen demokratischen Kanal leiten. Das ist nicht gelungen. Die Radikalität des Aufstands verschärft sich. Wie sollen zwei gegensätzliche Dynamiken, eine elektorale und eine der bewaffneten in Brandsetzung, zusammengehen?
Es ist schwer, über ein paar Tage hinaus Prognosen zu erstellen. In diesem Venezuela stellt eine Woche eine Unermesslichkeit dar. Das merkt man an den Nachrichten, an den Social Media, an den Statements, an den Toten, die fast täglich mehr werden – es sind schon über 55. Das zeigt jeder neue Angriffszyklus der Rechten, der sich als militärischer erweist; jede neue internationaler Pression; jede Untersuchung der sich entfaltenden  Aufstandsstruktur. Der Schlussangriff wird vorbereitet, der die Türen für eine Revanche öffnen soll, die jede Spur von Chavismus einäschern will. Sie würden versuchen, sogar den Namen zu tilgen.
Der Chavismus ist oft wie ein kurzsichtiger Riese ohne Rückgrat, wie John William Cooke mal sagte. Aber er hat die Kraft, zu widerstehen. An einigen Orten haben sich kommunale Brigaden organisiert, um die staatlichen und sozialen Einrichtungen zu verteidigen. Vielerorts gibt es Vollversammlungen in den Vierteln, um über die Konstituante zu diskutieren. Daran richten jene ihre Taktik aus, die auf eine Neuakkumulation der Kräfte für die kommenden möglichen Szenarien setzen. In einigen Volkszonen haben die AnwohnerInnen selber die Rechten, die zerstören wollten, vertrieben.  Es gibt ein lebendes Geflecht der Unterklassen, trotz aller wirtschaftlichen Schwierigkeiten, die andauern und eine der Hauptursachen für das politische Ausklinken vieler sind.
Landesweit gab es Versammlungen für die Konstituante.
 Aber – ohne in Subjektidealisierung zu verfallen - der Schwachpunkt liegt nicht in der chavistischen Basis, sondern in der Leitung der Bewegung. Es scheint gewiss, dass der Widerstand kommen wird, er ist schon unterwegs, unten, aber nicht so auf der Ebene von vielen, die heute leiten.
Es gibt Kritiken, die nicht neu sind, und auch die Sicherheit, wo man in dieser Stunde steht, in der alle Variablen in der Suche nach dem Bruch zusammenkommen. Wer aber für Schweigen optiert oder für die Verurteilung des Chavismus wegen seines „Autoritarismus“, aber gleichzeitig die Rechte als „kontrovers“ taxiert, belegt, wie dringend nötig es ist, die Begriffe „links“ und „intellektuell“ neu zu denken. Jetzt, wo es mehr denn je Beiträge braucht, die erlauben zu verstehen und zu handeln, erkennt man die politische und kritische Armseligkeit mancher, die den symbolischen Raum der Intellektualität besetzen. Jetzt erkennt man klar, wer hier steht und wer sich auf die andere Seite schlägt, sich als ausserhalb des Zwists stehend erklärend und sich abstrakt für „die Verteidigung des Volks“ aussprechend– illusorisch, komplizenhaft und oft feig.
Die trotzkistische Gruppe Maresa Socialista, "weder kapitalistisch, noch bürokratisch". Bild: Aporrea.
 In Venezuela geht es um die Möglichkeit, dass sich ein Prozess der Revanche durchsetzt, wie sie schon in einigen Dingen sichtbar wird und zum inneren Bruch eines Landes tendiert, mit paramilitarisierten Zonen, einem Bürgerkrieg, einem strategischen Sieg des US-Imperialismus in Lateinamerika. Es ist der Moment zu verteidigen, die verräterischen Praktiken einer Intellektualität abzulegen, Gefahr zu laufen (wie das schon einige getan haben),  sich zu fragen, was man tun kann, um einen politischer Prozess zu unterstützen, der dies dringend braucht. Von Venezuela aus gesehen wird die die Welt klein, auch die Zeit und die Möglichkeiten.
·         Telesur: Llegó la hora Venezuela.

Venezuela/Kolumbien – in Sachen humanitärer Notstand

Sonntag, 28. Mai 2017



(zas, 28.5.17) Zwischen dem 14. Und dem 20. Mai 2017 sind in Kolumbien 8 Kinder an Unternährung gestorben, wie Caracol  einem Bericht des Nationalen Gesundheitsinstituts von Kolumbien entnimmt. „Im Vergleich zu 2016 gab es eine beträchtliche Erhöhung“, schreibt das Regimemedium  weiter, “denn letztes Jahr sind in der gleichen Woche drei Fälle rapportiert worden. Insgesamt gab es 2017 dem Institut zufolge 89 mutmassliche Todesfälle wegen Unterernährung.“
Telesur präzisiert die Jahreszahl weiter: “Laut dem Bericht betreffen  50 % der Todesfälle Mädchen und 69 % der Fälle Kinder im Alter bis zu einem Jahr. 25 % der Fälle betreffen die indigene und weitere 25 % die afrokolumbianische Bevölkerung. Hauptbetroffen mit 74.9 % der Fälle sind die Departemente La Guajira, Chocó, Córdoba, Meta und Nariño.“
Quelle: Telesur

Letzten September berichteten wir über das Kindersterben in La Guajira. Hauptursache für die Sterben der Kinder der Wayuú-Bevölkerung dort: die Umleitung des Ranchería-Flusses in die von Glencore mitbetriebene Tagebaumine El Cerrejón. In Chocó, einem weiteren von der Kindersterblichkeit betroffenen Departement,  kämpfte die primär afrokolumbianische und indigene Bevölkerung mit einem mehrtägigen Generalstreik gegen die unhaltbaren Zustände.

Bilder vom Widerstand in Chocó

Natürlich werfen diese Zustände, die in der Realität viel drastischer sind als offizielle Zahlen sie beschreiben (id.), im Mainstream keine Fragen auf. Schliesslich steht Venezuela im Fokus der „mitmenschlichen“ Kriegserregung. CNN Money titelte kürzlich gekonnt: „As Venezuela dives into chaos, next door Colombia has a star turn” (Während Venezuela ins Chaos stürzt, greift Nachbar Kolumbien nach den Sternen).  Trump und Goldman Sachs die Quellen für den Jubel über Wirtschaftswachstum und Regierungsfrieden hier, Depression dort.

Venezuela: Friedlich Menschen verbrennen

Donnerstag, 25. Mai 2017

(zas, 24.5.17) Was immer in Venezuela passiert und wie immer es sich entwickelt, mit dem, was der Medienmainstream berichtet, hat es nichts zu tun. „Friedliche Demonstranten gegen brutale Diktatur“ etc., ein widerlicher Witz. Dreimal haben die Rechten seit Beginn der langsam zum bewaffneten Angriff übergehenden Unruhen Spitaleinrichtungen angegriffen, mit Steinen und Molotovs. Zwei davon waren Maternités, Mütter, Kinder, Personal mussten von den Sicherheitskräften evakuiert werden. Am vergangenen Donnerstag zerrten „Demokraten“ einen dunkelhäutigen Mann – einen Chavista – bei einer Strassensperre aus dem Bus, verletzten ihn und übergossen ihn mit Benzin, das sie in Brand setzten. Carlos Ramírez berichtete später vom  demokratischen Gedankenaustausch unter den „Demokraten“, ob er getötet werden solle oder nicht.  Die Gemeindepolizei der Reichengemeinde Chacao (Gross-Caracas) schaute zu. Ein mutiger Motorradfahrer rettete ihn. Letzten Samstag übergossen „aufgebrachte Bürger“ an einer Demonstration „gegen die Diktatur“ den zufällig ebenfalls dunkelhäutigen Orlando Figuero mit Benzin – ihr Gerechtigkeitssinn ertrug nicht, dass er angeblich ein Dieb (nach anderen Versionen: ein Chavista) sei. Er rannte mit schwersten Verbrennungen davon, einige Rechte versuchten ihn zu schützen, andere prügelten mit Schildern auf ihn, der immer noch brannte, ein. Schliesslich rettete ihn die Feuerwehr.
Gewalt gegen Orlando Figuero

Videos zu Versuch, Figuero zu verbrennen, hat albaciudad veröffentlicht.

Beispiele, nicht mehr, nicht weniger, für die zunehmende Brutalität der Rechten. Die mediale Geiferrunde wird sich auch dadurch nicht beirren lassen. Denn schliesslich hat Trump den Takt vorgegeben: „Wir werden mit Kolumbien und anderen Ländern zum venezolanischen Problem arbeiten. Es ist ein sehr, sehr entsetzliches Problem. Und von einem humanitären Standpunkt aus ist es etwas, das wir seit geraumer Zeit nicht mehr gesehen haben“. Sinnigerweise äusserte Trump dies am 18. Mai anlässlich des Besuchs des kolumbianischen Präsidenten Santos im Weissen Haus. Und ebenfalls sinnigerweise publizierte das kolumbianische Regimeblatt El Tempo am selben Tag, wie zuvor vier führende US-Senatoren (Rubio, Corker, McCain und Graham) Santos Militärhilfe versprachen. Lindsay Graham fragte Santos: „Was können wir tun, um den kolumbianischen Streitkräften dabei zu helfen, sich gegen eine Provokation Venezuelas zu wehren? (…) Ich werde mit Präsident Santos arbeiten, um festzulegen, was es zur Abschreckung eines Kriegs braucht und damit sich Kolumbien, falls es zu einem Konflikt kommt, gegen die Venezolaner verteidigen kann.“
Eben. Dort die Diktatur, hier die demokratische Friedfertigkeit. Dort Militärregime, hier Friedensengagement der internationalen Gemeinschaft.
Unerträglich „zynisch Diktator“ Maduro: Gerade hat er wieder allen Mitgliedern mit strenger Strafverfolgung im Fall von Übergriffen gedroht. Der Einsatz von Gummischrot gegen Demos ist ihnen immer noch verboten. Da loben wir etwa die Schweizer Polizei oder die umsichtigen „Reformer“ in Brasilien:
24.5.17, Brasilia: Verteidigung von Regierungsgebäuden.

Großdemos für und gegen Regierung in Venezuela, neue Tote bei Protesten der Opposition

Sonntag, 21. Mai 2017

https://amerika21.de/2017/05/176627/venezuela-demo-ernaehrung
21.05.2017  
Kundgebungen beider politischer Lager. Präsident Maduro kündigt Schutz von Ernährungsinitiativen an. Neue Tote und gegenseitige Vorwürfe
Protestzug von Ernährungsministerium in Caracas, Venezuela
Protestzug von Ernährungsministerium in Caracas, Venezuela
Quelle: AVN
Caracas. Tausende Anhänger und Gegner der linksgerichteten Regierung in Venezuela haben am Freitag und Samstag in der Hauptstadt Caracas und anderen Orten des Landes erneut demonstriert, um die Einberufung einer verfassungsgebenden Versammlung zu unterstützen oder zurückzuweisen. Die Demonstration des Regierungslagers im historischen Zentrum der Kapitale war Teil einer Serie von Aufzügen unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppen zur Unterstützung der Regierung. Aufgerufen hatte das Ministerium für Ernährung. Die Teilnehmer zogen vom Sitz des Ministeriums zum Präsidentenpalast Miraflores. Zuvor waren Studierende, Frauen und andere Gruppierungen auf die Straße gegangen.
Präsident Nicolás Maduro kündigte bei der jüngsten Abschlusskundgebung per Telefon-Liveschaltung an, bestehende Initiativen zur Ernährungssicherheit in von einer reformierten Verfassung explizit schützen zu lassen. Programme wie die "Mission Ernährung" und die "Lokalen Versorgungs- und Produktionskomitees" (Claps) würden einen verfassungsrechtlichen Rang erhalten und könnten dann nicht mehr abgeschafft werden, so Maduro.
Demonstranten trugen Bilder der Verfassung von Venezuela
Demonstranten trugen Bilder der Verfassung von Venezuela
Quelle: AVN
Am Samstag fand unter dem Motto "Wir sind Millionen" auch ein Protestzug der Opposition gegen die Regierung Maduro statt. Nach Angaben der Regierungsgegner nahmen daran mehr als 200.000 Menschen teil, nur in der Hauptstadt Caracas seien es 160.000 gewesen, hieß es aus den Reihen des Oppositionsbündnisses Tisch der demokratischen Einheit (MUD). Die Zahlen lassen sich jedoch nicht überprüfen, in Venezuela geben die Behörden – anders als in Deutschland – keine Schätzungen ab. Bei dem Protest der Opposition kam es erneut zu gewaltsamen Zusammenstößen zwischen Polizei und Demonstranten, Dutzende Menschen wurden verletzt. Oppositionspolitiker Henrique Capriles kündigte an diesem 50. Tag der Proteste "mehr Schlagkraft" an.
Aus Caracas tauchten Aufnahmen auf, die das zunehmend brutale Vorgehen von Kommandos der Opposition zu belegen scheinen. In einem Video, das unter anderem die linksgerichtete spanische Zeitung La República veröffentlichte, ist offenbar zu sehen, wie oppositionelle Demonstranten einen mutmaßlichen Chavisten mit einem Brandbeschleuniger übergießen und anzünden. Das Video zeigt, wie der Mann brennend durch die Straßen rennt; sein Schicksal ist ungewiss. Die Aufnahme war zuerst vom lateinamerikanischen Fernsehsender Telesur veröffentlich worden, der dr Regierung von Venezuela nahe steht. Weitere Quellen zu dem Vorfall gibt es bislang nicht.
Protest der Opposition im Staat Táchira
Bei Protesten der Opposition sind in den vergangenen Tagen indes zwei weitere Menschen ums Leben gekommen. Die Zahl der Toten ist seit Beginn der Demonstrationen von Regierungsgegnern am 4. April damit auf 54 angestiegen. Erneut kam es zu Zusammenstößen zwischen Gegnern der Regierung Maduro und Sicherheitskräften sowie zu Angriffen oppositioneller Gruppen auf öffentliche Einrichtungen. In der Nacht zum Sonntag wurde im Verwaltungsbezirk Valera ein Jugendlicher durch einen Schuss in die Brust getötet. Die Umstände sind unklar, die Opposition macht "Paramilitärs des Regimes" verantwortlich, ohne diese Vorwürfe belegen zu können.
Im Fall des Todes eines 46-Jährigen im Bundesstaat Táchira wurden auf Anweisung der Generalstaatsanwaltschaft drei Nationalgardisten festgenommen. Zuvor waren in Táchira bereits drei Polizeibeamte wegen Mordes an zwei Protestteilnehmern verhaftet worden. Der Bundesstaat an der Grenze zu Kolumbien ist seit Jahren ein Brennpunkt gewaltsamer Konfrontationen zwischen Oppositionellen und Sicherheitskräften. Am Dienstag wurden dort zwei sogenannte Infocentros – staatliche Internetcafés – attackiert und die Einrichtungen fast vollständig zerstört. Am Mittwoch wurde eine Militärbasis sechs Stunden lang belagert und mit Molotow-Cocktails angegriffen. Sechs Paramilitärs wurden bei einem weiteren Zwischenfall verhaftet. Venezuelas Verteidigungsminister hat indes 2.000 zusätzliche Nationalgardisten entsandt.
Zeitungsbericht: Demonstranten der Opposition in Venezuela zünden einen Mann an
Zeitungsbericht: Demonstranten der Opposition in Venezuela zünden einen Mann an
Quelle: La República
Im Bundesstaat Lara wurde laut einem Bericht der Lokalzeitung Ciudad Barquisimeto ein sozialer Aktivist und Mitglied der Sozialistischen Partei PSUV entführt und ermordet.  Nach Angaben von Augenzeugen wurde er am Dienstag von maskierten Männern in einem Truck entführt, die gesagt hätten: "Schnapp ihn, das ist ein Chavist".  Sein Leichnam wurde am Donnerstag aufgefunden und wies nach Angaben eines örtlichen PSUV-Politikers Brandmale und Folterspuren auf, "die übliche Praxis kolumbianischer Paramilitärs".
Im Teilstaat Zulia starb bei einer Demonstration am Donnerstag ein weiterer Mann, der in der Hauptstadt des Bundesstaates, Maracaibo, von einem LKW überfahren worden war.
Indes wurden neue Ermittlungsergebnisse zu Todesfällen in den vergangenen Wochen bekanntgegeben. Innen- und Justizminister Néstor Reverol erklärte, die Autopsien hätten ergeben, dass zwei weitere junge Männer mit selbstgefertigter Munition aus nächster Nähe beschossen und tödlich verletzt wurden. Die Untersuchungen hätten ergeben, dass die Schützen sich unter den Demonstranten befunden haben müssten. Dennoch beschuldige  die Opposition die Nationalgarde.
Im Staat Barinas machte ein Angehöriger eines getöteten Jugendlichen die Opposition für seinen Tod verantwortlich und wies "die Propaganda" zurück, die sie betreibe, indem sie der Regierung die Schuld gebe. Der 17-Jährige war in der Stadt unterwegs und wurde am Rande einer Demonstration ebenfalls mit einer selbstgefertigten Waffe in den Kopf geschossen. 
Laut den Daten, die das Partnerportal von amerika21, venezuelanalysis.com, seit Beginn der Proteste zusammengetragen hat, wurden zwölf Menschen direkt von Oppositionellen und acht von Sicherheitskräften getötet. Weiter fünf kamen bei Unfällen aufgrund von Barrikaden und acht bei Plünderungen durch Stromschläge ums Leben. Die Todesumstände von 20 Menschen sind noch nicht geklärt.

Brasilien - was kommt?

Freitag, 19. Mai 2017




(zas, 19.7.17) Dass die Luft  für den brasilianischen Putschpräsidenten Michel Temer dünn wird, ist keine Erkenntnis von heute. Die Veröffentlichung des extrem belastenden Mitschnitts des lockeren Gesprächs zwischen dem Chef des Fleischgiganten JSB und Temer durch das mediale Hauptquartier der Putschkräfte, O Globo, dürfte diese Entwicklung bloss zum point of no return verdichten. Sie wirft aber auch Fragen auf, was dahinter steckt. Denn es sind ja nicht nur Temer und seine „Lumpenpartei“ PMDB im Clinch, sondern prominent auch Aécio Neves, der gegen Dilma Rousseff unterlegene Präsidentschaftsanwärter des PSDB, der bisherigen Partei des grossen Kapitals.
João Pedro Stedile, führende Figur der Landlosenbewegung MST und des Grosszusammenschlusses Frente Brasil Popular, vertritt die Einschätzung, wonach der Putsch gegen Dilma der Notwendigkeit entsprochen habe, die kapitalistische Krise in Brasilien mit einem Generalangriff auf die Unterklassen zu überwinden, dass gleichzeitig aber die Bourgeoisie im Gegensatz zu früheren Zeiten keine einheitliche Linie und Führung aufweise. Die Ermächtigung Temers und seiner Partei PMDB habe sich als Schuss nach hinten erwiesen. Nach dem für die kommenden Tage oder Wochen zu erwartenden Abgang Temers (Rücktritt oder Absetzung durch Parlament oder Wahlgericht) werde die Bourgeoise wohl versuchen, eine halbwegs präsentable Übergangsfigur – im Gespräch ist etwa  die Präsidentin des Obersten Gerichts  Cármen Lúcia – zu präsentieren und gleichzeitig den in den Umfragen klar führenden Lula „unsichtbar zu machen“, um dann im Oktober vielleicht vorgezogene Neuwahlen zu gewinnen. Entscheidend seien die kommenden Strassenmobilisierungen, nur in diesen Kämpfen werden die Würfel für die Zukunft fallen.  Es gelte, mittels Mobilisierungen die Putschkräfte zu isolieren, die Justiz zu zwingen, durchzugreifen, Direktwahlen einzuführen und für nächstes Jahr Parlamentsneuwahlen und eine Verfassungsgebende Versammlung durchzusetzen. Entscheidend scheint mir sein Hinweis, dass es sich bei den aktuellen „Wirren“ um keinen „machiavellistischen Plan“ seitens O Globo oder anderer Akteure handle, sondern um ein Resultat der Widersprüche innerhalb des bourgeoisen Lagers (inklusive einer taktisch falschen Positionierung für Hillary Clinton letztes Jahr) .
Möglich, dass zur aktuellen Krisenbeschleunigung auch der Umstand beigetragen hat, dass angesichts von Neuwahlen nächstes Jahr im Parlament die nötige Mehrheit für die von Temer angestrebte Rentendestruktion nicht gesichert zu sein schien. Interessant  auch, dass Stedile dieses Vorhaben weniger als „gesamtkapitalistisches“ Projekt denn mehr als Beutezug von auf ihre Partikularinteressen beschränkte Bourgeosiefraktionen einschätzt.
Bleibt die Frage nach der Bedeutung des Fakts, dass aktuell nicht nur der PMDB, sondern auch die langjährige Kapitalpartie PSDB im Zentrum der Putschkräfte in Mitleidenschaft gerät. Das kann interpretiert werden als £Schritt in eine Richtung, die von Mitgliedern des Obersten Gerichts schon vor dem Sturz Dilmas artikuliert worden war (in frappanter Übereinstimmung mit dem Diskurs der Verfassungskammer in El Salvador, die, protegiert von Washington, zwecks Lähmung der regierenden Ex-Guerilla des FMLN, das Parteiensystem fort zu mehr zum Exekutivorgan „übergeordneter“ Entscheidungen zu machen sucht). Diese Interpretation seiht als neue Leitungsorgane der Gesellschaft jene Kräfte, die Stedile als „ideologische“ Komponenten der Bourgeoisie bezeichnet, ohne ihnen allerdings eine alles entscheidende Rolle beizumessen: Justiz und die eigentliche Partei der Bourgeoise“, die Medien um das Reich von O Globo. Nun wird allerdings auch eine noch so „kluge“ Leitung der Bourgeoisie auf „Hilfsorgane“ angewiesen sein. Fallen die politischen Parteien weg, dürfte der Blick auf die einzige konkret noch zur Verfügung stehende Kraft „gegen das Chaos“ fallen – die Armee.  Vielleicht sind  die kürzlich von BBC erwähnten riesigen US-brasilianischen Militärmanöver von kommendem November, die sich an NATO-Strategien in Ungarn anlehnen, auch in diesem Licht zu betrachten.