Die Stunde hat geschlagen, Venezuela

Dienstag, 30. Mai 2017



Marco  Teruggi*
(Caracas, 28. Mai 2017)  Die Stunde hat geschlagen, Venezuela. Das zeigen alle Variablen. Die von Sektoren wie Voluntad Popular und Primero Justicia angeführte Rechte hat jeden Dialog abgebrochen – sie erkennt den Vatikan nicht mehr als Mittler an – und erklärt vorgezogene allgemeine Wahlen zur einzigen Lösung. Sie hat offen zur Rebellion aufgerufen und die Einberufung einer Verfassungsgebenden Versammlung für illegal erklärt. Sie wird sich daran nicht beteiligen, alles versuchen, um ihre Entstehung zu verhindern, und sie wird die Strassenkämpfe verschärfen.
Das ist der Diskurs für die nationalen und internationalen Medien, so ist das öffentliche Szenario ausgerichtet, das sie Anfang April in Gang setzten. Das ist die Oberfläche, auf der sie sich in einer Art „Epos für die Freiheit“ wähnen, von dem ihre mobilisierte gesellschaftliche Basis absolut überzeugt ist. In mehr als 50 Tagen der Konfrontation sind sie zahlenmässig nicht gewachsen, aber sie haben es geschafft, eine Konfliktivität mit grosser Ausstrahlung zu schaffen, undenkbar ohne die mediale Überdimensionierungs.
Die Gefahr lauert jedoch in den Schatten, die wütend emporsteigen: Ein Aufstandsplan ist in Gang, den auf den Strassen der Paramilitarismus anführt, und der schon in ungefähr zehn Städten zugeschlagen hat. Wir kennen die Bilder und Zeugnisse: Es geht um die Brandlegung in Spitälern, staatlichen Einrichtungen, chavistischen Parteilokalen; um Plünderungen und Zerstörungen von Stadtzentren – in Socopó-; den Versuch, eine bewaffnete Territorialkontrolle aufrechtzuhalten – in San Antonio Los Altos -; Angriffe auf Polizei- und Armeekasernen – sieben an einem Tag im Gliedstaat Barinas; Morde an chavistischen Kadern; Ausgangsperren – in San Cristóbal - ; Drohungen gegen Händlerinnen und Camionneure - in Los Teques- ; den Versuch, die Lebensmittelversorgung zu kappen - in Caracas. Es handelt sich um paramilitärische Formationen ohne Identifikation, die sich im Territorium bewegen mit dem Ziel von Belagerungs- und Terrorzyklen in Schlüsselorten des Landes.
Socopó, am 25. Mai 2017. Bild: Albaciudad
Es geht um eine während Jahren vorbereite Kriegsoperation. Hier wurzelt der reale Plan der Rechten,  die Gewaltniveaus für folgende Ziele zu erhöhen. Erstens: Die Konfrontation bis zu einem Punkt eskalieren, an dem ein des Chavismus verdächtigter Junge auf offener Strasse gelyncht und in Brand gesetzt werden soll. Zweitens: bewaffnete zivile Zusammenstösse entfesseln. Drittens: Caracas belagern. Viertens: Symbolisch und in der Tat Teile des Territoriums kontrollieren. Fünftes: das Land in ein Chaos zu stürzen. Sechstens: die offene internationale Intervention erreichen- die verdeckte läuft schon.
Heute gibt es keine Aufrufe,die diese Agenda demontieren könnten. Die USA gaben grünes Licht und die Regierung Kolumbiens – Hinterland des Paramilitarismus – bewegt ihre Schachfiguren in Funktion dieser Strategie. Der feindliche Block – rechte Parteien, Viehzüchter, Grossunternehmer, Episkopat - hat sich nicht gespalten, sondern neue wichtige Elemente integriert, wie die Generalstaatsanwältin, neue Figur im Putschvorstoss. Jetzt oder nie, sagen sie. Die Stunde hat geschlagen, Venezuela.
***
Der Spielraum für den Chavismus ist klein. Die Einberufung der Konstituante, die im Juli gewählt wird, bietet die Möglichkeit, die Kräfte im Territorium neu zu gruppieren und eine Bewegung zu reaktivieren, die weitgehend in ihrer bürokratischen Logik gefangen ist. Die Einberufung sollte aber vorallem die Rechte wieder in einen demokratischen Kanal leiten. Das ist nicht gelungen. Die Radikalität des Aufstands verschärft sich. Wie sollen zwei gegensätzliche Dynamiken, eine elektorale und eine der bewaffneten in Brandsetzung, zusammengehen?
Es ist schwer, über ein paar Tage hinaus Prognosen zu erstellen. In diesem Venezuela stellt eine Woche eine Unermesslichkeit dar. Das merkt man an den Nachrichten, an den Social Media, an den Statements, an den Toten, die fast täglich mehr werden – es sind schon über 55. Das zeigt jeder neue Angriffszyklus der Rechten, der sich als militärischer erweist; jede neue internationaler Pression; jede Untersuchung der sich entfaltenden  Aufstandsstruktur. Der Schlussangriff wird vorbereitet, der die Türen für eine Revanche öffnen soll, die jede Spur von Chavismus einäschern will. Sie würden versuchen, sogar den Namen zu tilgen.
Der Chavismus ist oft wie ein kurzsichtiger Riese ohne Rückgrat, wie John William Cooke mal sagte. Aber er hat die Kraft, zu widerstehen. An einigen Orten haben sich kommunale Brigaden organisiert, um die staatlichen und sozialen Einrichtungen zu verteidigen. Vielerorts gibt es Vollversammlungen in den Vierteln, um über die Konstituante zu diskutieren. Daran richten jene ihre Taktik aus, die auf eine Neuakkumulation der Kräfte für die kommenden möglichen Szenarien setzen. In einigen Volkszonen haben die AnwohnerInnen selber die Rechten, die zerstören wollten, vertrieben.  Es gibt ein lebendes Geflecht der Unterklassen, trotz aller wirtschaftlichen Schwierigkeiten, die andauern und eine der Hauptursachen für das politische Ausklinken vieler sind.
Landesweit gab es Versammlungen für die Konstituante.
 Aber – ohne in Subjektidealisierung zu verfallen - der Schwachpunkt liegt nicht in der chavistischen Basis, sondern in der Leitung der Bewegung. Es scheint gewiss, dass der Widerstand kommen wird, er ist schon unterwegs, unten, aber nicht so auf der Ebene von vielen, die heute leiten.
Es gibt Kritiken, die nicht neu sind, und auch die Sicherheit, wo man in dieser Stunde steht, in der alle Variablen in der Suche nach dem Bruch zusammenkommen. Wer aber für Schweigen optiert oder für die Verurteilung des Chavismus wegen seines „Autoritarismus“, aber gleichzeitig die Rechte als „kontrovers“ taxiert, belegt, wie dringend nötig es ist, die Begriffe „links“ und „intellektuell“ neu zu denken. Jetzt, wo es mehr denn je Beiträge braucht, die erlauben zu verstehen und zu handeln, erkennt man die politische und kritische Armseligkeit mancher, die den symbolischen Raum der Intellektualität besetzen. Jetzt erkennt man klar, wer hier steht und wer sich auf die andere Seite schlägt, sich als ausserhalb des Zwists stehend erklärend und sich abstrakt für „die Verteidigung des Volks“ aussprechend– illusorisch, komplizenhaft und oft feig.
Die trotzkistische Gruppe Maresa Socialista, "weder kapitalistisch, noch bürokratisch". Bild: Aporrea.
 In Venezuela geht es um die Möglichkeit, dass sich ein Prozess der Revanche durchsetzt, wie sie schon in einigen Dingen sichtbar wird und zum inneren Bruch eines Landes tendiert, mit paramilitarisierten Zonen, einem Bürgerkrieg, einem strategischen Sieg des US-Imperialismus in Lateinamerika. Es ist der Moment zu verteidigen, die verräterischen Praktiken einer Intellektualität abzulegen, Gefahr zu laufen (wie das schon einige getan haben),  sich zu fragen, was man tun kann, um einen politischer Prozess zu unterstützen, der dies dringend braucht. Von Venezuela aus gesehen wird die die Welt klein, auch die Zeit und die Möglichkeiten.
·         Telesur: Llegó la hora Venezuela.