Brasilien - was kommt?

Freitag, 19. Mai 2017




(zas, 19.7.17) Dass die Luft  für den brasilianischen Putschpräsidenten Michel Temer dünn wird, ist keine Erkenntnis von heute. Die Veröffentlichung des extrem belastenden Mitschnitts des lockeren Gesprächs zwischen dem Chef des Fleischgiganten JSB und Temer durch das mediale Hauptquartier der Putschkräfte, O Globo, dürfte diese Entwicklung bloss zum point of no return verdichten. Sie wirft aber auch Fragen auf, was dahinter steckt. Denn es sind ja nicht nur Temer und seine „Lumpenpartei“ PMDB im Clinch, sondern prominent auch Aécio Neves, der gegen Dilma Rousseff unterlegene Präsidentschaftsanwärter des PSDB, der bisherigen Partei des grossen Kapitals.
João Pedro Stedile, führende Figur der Landlosenbewegung MST und des Grosszusammenschlusses Frente Brasil Popular, vertritt die Einschätzung, wonach der Putsch gegen Dilma der Notwendigkeit entsprochen habe, die kapitalistische Krise in Brasilien mit einem Generalangriff auf die Unterklassen zu überwinden, dass gleichzeitig aber die Bourgeoisie im Gegensatz zu früheren Zeiten keine einheitliche Linie und Führung aufweise. Die Ermächtigung Temers und seiner Partei PMDB habe sich als Schuss nach hinten erwiesen. Nach dem für die kommenden Tage oder Wochen zu erwartenden Abgang Temers (Rücktritt oder Absetzung durch Parlament oder Wahlgericht) werde die Bourgeoise wohl versuchen, eine halbwegs präsentable Übergangsfigur – im Gespräch ist etwa  die Präsidentin des Obersten Gerichts  Cármen Lúcia – zu präsentieren und gleichzeitig den in den Umfragen klar führenden Lula „unsichtbar zu machen“, um dann im Oktober vielleicht vorgezogene Neuwahlen zu gewinnen. Entscheidend seien die kommenden Strassenmobilisierungen, nur in diesen Kämpfen werden die Würfel für die Zukunft fallen.  Es gelte, mittels Mobilisierungen die Putschkräfte zu isolieren, die Justiz zu zwingen, durchzugreifen, Direktwahlen einzuführen und für nächstes Jahr Parlamentsneuwahlen und eine Verfassungsgebende Versammlung durchzusetzen. Entscheidend scheint mir sein Hinweis, dass es sich bei den aktuellen „Wirren“ um keinen „machiavellistischen Plan“ seitens O Globo oder anderer Akteure handle, sondern um ein Resultat der Widersprüche innerhalb des bourgeoisen Lagers (inklusive einer taktisch falschen Positionierung für Hillary Clinton letztes Jahr) .
Möglich, dass zur aktuellen Krisenbeschleunigung auch der Umstand beigetragen hat, dass angesichts von Neuwahlen nächstes Jahr im Parlament die nötige Mehrheit für die von Temer angestrebte Rentendestruktion nicht gesichert zu sein schien. Interessant  auch, dass Stedile dieses Vorhaben weniger als „gesamtkapitalistisches“ Projekt denn mehr als Beutezug von auf ihre Partikularinteressen beschränkte Bourgeosiefraktionen einschätzt.
Bleibt die Frage nach der Bedeutung des Fakts, dass aktuell nicht nur der PMDB, sondern auch die langjährige Kapitalpartie PSDB im Zentrum der Putschkräfte in Mitleidenschaft gerät. Das kann interpretiert werden als £Schritt in eine Richtung, die von Mitgliedern des Obersten Gerichts schon vor dem Sturz Dilmas artikuliert worden war (in frappanter Übereinstimmung mit dem Diskurs der Verfassungskammer in El Salvador, die, protegiert von Washington, zwecks Lähmung der regierenden Ex-Guerilla des FMLN, das Parteiensystem fort zu mehr zum Exekutivorgan „übergeordneter“ Entscheidungen zu machen sucht). Diese Interpretation seiht als neue Leitungsorgane der Gesellschaft jene Kräfte, die Stedile als „ideologische“ Komponenten der Bourgeoisie bezeichnet, ohne ihnen allerdings eine alles entscheidende Rolle beizumessen: Justiz und die eigentliche Partei der Bourgeoise“, die Medien um das Reich von O Globo. Nun wird allerdings auch eine noch so „kluge“ Leitung der Bourgeoisie auf „Hilfsorgane“ angewiesen sein. Fallen die politischen Parteien weg, dürfte der Blick auf die einzige konkret noch zur Verfügung stehende Kraft „gegen das Chaos“ fallen – die Armee.  Vielleicht sind  die kürzlich von BBC erwähnten riesigen US-brasilianischen Militärmanöver von kommendem November, die sich an NATO-Strategien in Ungarn anlehnen, auch in diesem Licht zu betrachten.