(zas, 19.7.17) Dass die Luft für den brasilianischen Putschpräsidenten
Michel Temer dünn wird, ist keine Erkenntnis von heute. Die Veröffentlichung
des extrem belastenden Mitschnitts des lockeren Gesprächs zwischen dem Chef
des Fleischgiganten JSB und Temer durch das mediale Hauptquartier der
Putschkräfte, O Globo, dürfte diese Entwicklung bloss zum point of no return
verdichten. Sie wirft aber auch Fragen auf, was dahinter steckt. Denn es sind
ja nicht nur Temer und seine „Lumpenpartei“ PMDB im Clinch, sondern prominent
auch Aécio Neves, der gegen Dilma Rousseff unterlegene Präsidentschaftsanwärter
des PSDB, der bisherigen Partei des grossen Kapitals.
João Pedro Stedile, führende Figur der
Landlosenbewegung MST und des Grosszusammenschlusses Frente Brasil Popular, vertritt
die Einschätzung, wonach der Putsch gegen Dilma der Notwendigkeit entsprochen
habe, die kapitalistische Krise in Brasilien mit einem Generalangriff auf die
Unterklassen zu überwinden, dass gleichzeitig aber die Bourgeoisie im Gegensatz
zu früheren Zeiten keine einheitliche Linie und Führung aufweise. Die
Ermächtigung Temers und seiner Partei PMDB habe sich als Schuss nach hinten
erwiesen. Nach dem für die kommenden Tage oder Wochen zu erwartenden Abgang
Temers (Rücktritt oder Absetzung durch Parlament oder Wahlgericht) werde die Bourgeoise
wohl versuchen, eine halbwegs präsentable Übergangsfigur – im Gespräch ist etwa
die Präsidentin des Obersten Gerichts Cármen Lúcia – zu präsentieren und
gleichzeitig den in den Umfragen klar führenden Lula „unsichtbar zu machen“, um
dann im Oktober vielleicht vorgezogene Neuwahlen zu gewinnen. Entscheidend
seien die kommenden Strassenmobilisierungen, nur in diesen Kämpfen werden die
Würfel für die Zukunft fallen. Es gelte,
mittels Mobilisierungen die Putschkräfte zu isolieren, die Justiz zu zwingen,
durchzugreifen, Direktwahlen einzuführen und für nächstes Jahr
Parlamentsneuwahlen und eine Verfassungsgebende Versammlung durchzusetzen.
Entscheidend scheint mir sein Hinweis, dass es sich bei den aktuellen „Wirren“
um keinen „machiavellistischen Plan“ seitens O Globo oder anderer Akteure
handle, sondern um ein Resultat der Widersprüche innerhalb des bourgeoisen
Lagers (inklusive einer taktisch falschen Positionierung für Hillary Clinton
letztes Jahr) .
Möglich, dass zur aktuellen
Krisenbeschleunigung auch der Umstand beigetragen hat, dass angesichts von
Neuwahlen nächstes Jahr im Parlament die nötige Mehrheit für die von Temer
angestrebte Rentendestruktion nicht gesichert zu sein schien. Interessant auch, dass Stedile dieses Vorhaben weniger
als „gesamtkapitalistisches“ Projekt denn mehr als Beutezug von auf ihre
Partikularinteressen beschränkte Bourgeosiefraktionen einschätzt.
Bleibt die Frage nach der Bedeutung des
Fakts, dass aktuell nicht nur der PMDB, sondern auch die langjährige
Kapitalpartie PSDB im Zentrum der Putschkräfte in Mitleidenschaft gerät. Das
kann interpretiert werden als £Schritt in eine Richtung, die von Mitgliedern
des Obersten Gerichts schon vor dem Sturz Dilmas artikuliert worden war (in
frappanter Übereinstimmung mit dem Diskurs der Verfassungskammer in El
Salvador, die, protegiert von Washington, zwecks Lähmung der regierenden
Ex-Guerilla des FMLN, das Parteiensystem fort zu mehr zum Exekutivorgan „übergeordneter“
Entscheidungen zu machen sucht). Diese Interpretation seiht als neue
Leitungsorgane der Gesellschaft jene Kräfte, die Stedile als „ideologische“ Komponenten
der Bourgeoisie bezeichnet, ohne ihnen allerdings eine alles entscheidende
Rolle beizumessen: Justiz und die eigentliche Partei der Bourgeoise“, die Medien
um das Reich von O Globo. Nun wird allerdings auch eine noch so „kluge“ Leitung
der Bourgeoisie auf „Hilfsorgane“ angewiesen sein. Fallen die politischen
Parteien weg, dürfte der Blick auf die einzige konkret noch zur Verfügung stehende
Kraft „gegen das Chaos“ fallen – die Armee. Vielleicht sind die kürzlich von BBC
erwähnten riesigen US-brasilianischen Militärmanöver von kommendem November,
die sich an NATO-Strategien in Ungarn anlehnen, auch in diesem Licht zu
betrachten.