(zas,
9.7.17) Am kommenden Sonntag will die rechte Opposition ihr vor wenigen Tagen
lanciertes „Plebiszit“ zu folgenden
3 Fragen durchziehen:
1.
Lehnen
Sie die Einberufung einer von Nicolás Maduro vorgeschlagenen Verfassungsgebenden
Versammlung ohne vorgängigen Referendumsentscheid des venezolanischen Volkes ab
und missachten Sie sie?
2.
Verlangen
Sie von den Bolivarischen Streitkräften, dass sie der Verfassung von 1999 gehorchen
und sie verteidigen und die Entscheide des Parlaments unterstützen?
3.
Stimmen
Sie damit überein, dass zur Erneuerung der staatlichen Gewalten gemäss den
Vorgaben der Verfassung, zur Abhaltung von Wahlen und zur Bildung einer
Regierung der Nationalen Einheit geschritten wird?
Nun: Ein
Plebiszit kennt die venezolanische Verfassung nicht. Wahlen und Referenden
werden vom Nationalen Wahlrat CNE organisiert, auf dessen Dienste das
Oppositionsbündnis MUD (Tisch der demokratischen Einheit) bisher auch stets für
seine internen KandidatInnenküren zurückgegriffen hatte. Als Chávez 1998 die
Wahl einer Verfassungsgebenden Versammlung einem Referendum unterstellte, folgte
er der damals noch geltenden Verfassung; dieses Erfordernis ist in der heutigen
Verfassung nicht mehr enthalten. Hingegen bedarf der zu erarbeitende Verfassungsvorschlag
aber eines Referendumsentscheids über seine Annahme oder Verwerfung. Alle
Wahlgänge und Referendumsabstimmungen sind laut Verfassung vom Nationalen Wahlrat
CNE durchzuführen, der dafür eine Vorbereitungszeit von mindestens 50 Tagen
braucht. Die Streitkräfte sollten eigentlich keine verfassungswidrigen Entscheide
der rechten Parlamentsmehrheit „unterstützen“, wenn diese klar putschistisch
sich etwa die Kompetenz anmasst, den Präsidenten per einfachen Beschluss abzusetzen
oder Entscheide des Obersten Gerichts strikt ignoriert. Usw. usf.
Wahlmodus als Selbstverteidigung
Diese paar
Bemerkungen sind einzig ein Reflex auf medial vorgebrachten Propagandalügen. Es
geht natürlich nicht um „Rechtsfragen“, sondern um politische Inhalte. Was den
Chavismus betrifft, so betrifft eine Frage in Sachen Konstituante wohl den
Modus ihrer Wahl. Alle BürgerInnen haben demnach zwei Stimmen. Die eine „territoriale“
wird für KandidatInnen des jeweiligen Wahlbezirks abgegeben. Dazu gibt es noch
die „sozial-sektorielle“ Stimme. RentnerInnen, UnternehmerInnen, Menschen mit
Behinderung, BäuerInnen und FischerInnen, ArbeiterInnen und StudentInnen wählen
die jeweiligen VertreterInnen ihrer Sektoren in die Konstituante, und zwar auf
einer landesweiten Liste. Ausnahme die der lokal gewählten VertreterInnen Concejos Comunales (Nachbarschaftsräte)
und die VertreterInnen der indigenen Comunidades, die ihr eigenes Wahlsystem benutzen.
Die sektorielle Zuordnung soll alle Menschen abdecken und auf staatlichen
Datenbanken wie der Sozialversicherung basieren. Tatsächlich dürfte der
sektorielle Modus weniger fortgeschrittener sozialer Demokratie als dem Schutz
vor einer Niederlage dienen.
Nur ist
dies nicht einfach der medial angeküdnigte Wahlbetrug. Es handelt sich eher um
eine heikle Verteidigungsmassnahme in einer extrem zugespitzten Situation, die
gekennzeichnet ist nicht durch „Bürgerproteste“, sondern durch die Entfaltung
eines paramilitärischen Destabilisierungsszenarios mit der Option einer ausländischen
Intervention, gekennzeichnet auch durch eine extrem brutale internationale und
oligarchische Offensive auf Wirtschaftsgebiet, die seit Jahren anhält,
unbeschadet von Fehlern und Komplizenschaft im chavistischen Apparat. Finanzielle
Strangulierung, andauernde Produktions- und Verteilblockade durch das nationale
und internationale Kapital, künstlich angeheizte Superinflation etc.: ein
brutaler und zynisch kalkulierter Angriff auf die Psyche und die Gesundheit der
Leute. Als vor dem Putsch 1973 eine ähnliche Offensive gegen die Regierung
Allende lief, waren die Mainstreammedien voller Gelächter über die
wirtschaftliche Inkompetenz der linken Regierung und die „abstrusen Verschwörungstheorien“.
Daran hat sich nichts geändert, im Gegenteil. Es ist in dieser Situation, dass
der Chavismus (unbeholfen?) zu diskutablen Mitteln greift. Wer diesen Kontext,
in dem bürgerlich-demokratische Sitten brutal ausgehebelt werden, ignoriert,
sollte das Maul halten.
Weiter kann
die Frage gestellt werden, ob die Mobilisierungen für die Konstituante es
schaffen, die chavistische Bewegung zu revitalisieren und enttäuschte Menschen
zurückzugewinnen. Dies auch im Hinblick auf die für Dezember angesagten
Gouverneurswahlen die für nächstes Jahr vorgesehenen ordentlichen
Präsidentschaftswahlen, deren Durchführung und Ausgang jetzt in den Sternen
steht.
Ein Putschist spricht Klartext
Wir haben
in diesem Blog immer wieder Momente der Angriffsstrategien skizziert, etwa die internationalen
Kräfteaufstellung via OAS oder US-Südkommando oder die Zersetzung der
Grundbasen von gesellschaftlichen Zusammenleben (die wiederholten, teilweise
gelungenen Versuche, mutmassliche Chavistas mit Benzin zu übergiessen und zu
verbrennen, oder bewaffnete Angriffe auf Spitaleinrichtungen). Vieles konnten
wir nicht oder kaum thematisieren. So etwa den intensivierten Angriff auf die
Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln durch militante, mit
Scharfschützen und Lynchmobs abgesicherten Blockaden wichtiger Transitrouten
von Lebensmitteltransporten aus den Agrargegenden in die grossen Städte in Kombination
mit bewaffneten Attacken auf Lebensmittellager.
An dieser
Stelle wollen wir auf eine Einschätzung des „Plebiszits“ durch den Abgeordneten
Juan Requesens von der rechten Partei Primero Justicia eingehen, die dieser am
5. Juli einem geneigtem Publikum an der Florida International University vorgetragen hat.
Requesens an der Florida International University |
Der 16. Juli soll die „Stunde
null“ für die „absolute Lähmung des
Alltagslebens des Landes“ werden mit Höhepunkt am 30. Juli, dem Tag an dem
die Wahl der Konstituante geplant ist (die ganze 32-minütige Rede oder
auch ein 8-minütiger
Ausschnitt sind auf Youtube zu sehen. Alba Ciudad hat am 7. Juli einen Artikel
dazu publiziert.) Was versteht Requesens unter absoluter Lähmung? „Es wird der Tag kommen, vor dem 30. Juli,
an dem wir diese Strassenblockaden nicht mehr für Stunden, sondern für Tage
ausrufen (…)Und es wird der Tag kommen, an dem wir die Versorgungswege der Verteilung
der Nahrungsmittel behindern müssen, denn das wird unsere Aufgabe sein.“
Lähmung
absolut als Ziel, also. Denn
„vom 16. Juli an bleiben 14 Tage bis zur Konstituante,
und es gibt nichts mehr zu verlieren.“ „Die
Regierung“, so der Abgeordnete weiter, „bringt
uns leider in einen Krieg. Wenn die Regierung einen Krieg will, geben wir ihr
einen. Wir werden Venezuela paralysieren."
Das
Plebiszit ist das Mittel zum Krieg: Es „bewirkt
einen zündenden und entfesselnden Effekt für die Lähmung des Landes“. Denn für
ein „Nein“ im Plebiszit lassen sich viel grössere Mengen an Menschen
mobilisieren als mit Demos. Dadurch sei es möglich zu „erreichen, dass die internationalen Organisationen das Plebiszit
anerkennen“.
Zentral in
der ganzen Sache ist, wie Requesens in seiner Rede im Einklang mit Äusserungen
anderer rechter ExponentInnen betonte, dass ein international legitimiertes Plebiszit
die Einrichtung einer „Übergangsegierung“ und anderer Staatsorgane (Oberstes Gericht,
Wahlrat u. a.) ermögliche. Nun wäre da noch das Detail, dass gleichzeitig die
legitime Regierung amtierte und dass trotz der angestrebten „Absoluten
Lahmlegung“ des Landes die Wahlen zur Verfassungsgebenden Versammlung
stattfänden. In diesem Fall „kommt es zu
einem ausgewachsenen Krieg, meine Herren“ (guerra soberana). Doch da gibt
es ein Problem, wie Marco Teruggi gerade
analysiert
hat: Die Rechte scheint bisher weder mit ihren Putschaufrufen an die Armee
(gerade wieder in den drei „Plebiszit-Fragen“ enthalten) viel Erfolg
eingefahren zu haben; und ihre eigene militärische Schlagkraft scheint trotz zeitweiser
paramilitarisierter Kontrolle einiger limitierter Zonen im Land auch keinen
militärischen Sieg zu garantieren.
Wie dieses
Problem gelöst werden soll, verrät uns der Putschist mit folgender beiläufig
angebrachten Anekdote: Vor einer Stunde in einem anderen Forum habe ein Herr darauf
gedrängt, dass für den Fall, dass trotz Paralysierung des Landes die Regierung
die Konstituantenwahlen abhalte, ein Plan B aktiviert werden müsse.
„Welches ist der Plan B?“, berichtet Requesens, fragte er den
Herrn.
„Nun, dass sie uns invadieren“, habe der Mann geantwortet.
„Das ist gewagt“, fuhr Requesens schmunzelnd fort, „aber um zu einer ausländischen Intervention
zu kommen, müssen wir durch diese Phase durch. Das ist klar!“
Es ist dies
eine Konstante im Vorgehen der Rechten, die diesen Kurs natürlich nur mit
Rückendeckung bzw. Anleitung aus Washington und z. B. Kolumbien fahren können.
In dieses Schema passt die Planung intensivierter Sabotage der
Nahrungsversorgung. Die medialen Pagaien dürften in diesem Fall ihr Wehklagen
ob der tatsächlich kritischen Versorgungslage noch steigern, ganz im Sinn des
US-Südkommandos und des US-Kongresses, die mehrmals die Möglichkeit/Notwendigkeit
einer „humanitären Intervention“ thematisiert haben.
In diesem
Kontext sind diverse Massnahmen der Regierung und wohl auch des Obersten Gerichts
zu verorten. So haben Maduro und andere chavistische Grössen die „Belagerung“
des Parlaments durch chavistische Organisationen scharf verurteilt (auch wenn
die Sache sich offenbar doch ziemlich anders als im Mainstream dargestellt
verhalten hat, s. amerika21.de).
Auch die Überführung der seit 2015 einsitzenden Putschikone Leopoldo López in
Hausarrest auf Grund einer Gerichtsresolution dürfte dem Bestreben geschuldet
sein, nur ja nicht in die eine Intervention „legitimierende“ Falle von sich
zuspitzender Polarisierung zu laufen. (El País hat übrigens gestern darüber berichtet,
dass schon lange Verhandlungen zwischen López dem spanischen Ex-Premier Zapatero und der
Regierung gelaufen sind, die laut El País fast am Starrsinn Maduros gescheitert
wären, während chavistische Medien schon vor Wochen darüber berichtet haben,
dass die Hausarrestlösung, von López angestrebt, von den radikalen Kräften der
Opposition hintertrieben worden seien.) Das neue Haftregime López‘ dürfte mehr
auf internationale Resonanz denn auf die kaum zu beeinflussende interne
Opposition ausgerichtet sein. Immerhin hat Washington mit seinem
Interventionsaufbau (falls „nötig“) etliche Rückschritte erlitten, z. B. in der
OAS, wo, anders als in den hiesigen Medien kolportiert, die entscheidende
Resolution für eine internationale Pazifizierungsmission“ nur wenige Stimmen
auf sich vereinigen konnte, oder dieser Tage gerade in Caricom, dem karibischen
Staatenverbund. Und dann scheint nicht so klar zu sein, wie sich Russland im
Fall eines offenen Angriffs verhalten würde…